Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Juni 2006 | |
7.5. Frauen und Universitäten |
Brigitte Lichtenberger-Fenz (Wien) [BIO] / Doris Ingrisch (Wien) [BIO]
"Ich meine, es ist immer angenehmer, ein Institut zu leiten als in einem Institut angestellt zu sein. Ich habe beides probiert und es ist kein Vergleich,"(2) so Herr A.N., Leiter eines Forschungsinstituts. "Es hat viele Vorteile, eine Karriere zu machen, das ist überhaupt keine Frage." Frau F.C., eine renommierte Wissenschafterin, hingegen behauptet von sich selbst, es "nicht geschafft" zu haben. "Nicht im Sinne einer männlich definierten Karriere, die normalerweise heißt, gewisse Positionen einzunehmen." Die Bereitschaft zur Karriere täuschten Herrn A.N. keinesfalls darüber hinweg, dass Karriere zu machen nicht auch seinen Tribut fordern würde. "Man zahlt einen sehr hohen Preis dafür." Etwas zu erreichen, erfordert Kosten. Kein Status ohne Referenz. Und das bedeute, "dass man immer weniger Zeit für die eigene wissenschaftliche Tätigkeit erbringt, dass von den hundert Stunden, die man dem Lesen oder dem Nachdenken oder dem Schreiben widmet, jede einzelne hart erkämpft werden muss. Es ist ein hoher Preis in Bezug auf Opportunitätskosten - wen man kränkt, wenn man wo nicht hingeht, mit wem man welche Chance sich verdirbt, welcher mögliche Auftrag für das Institut verloren geht, wenn man stattdessen ein interessantes Buch liest und nicht zu der Eröffnung am Abend geht." Sind das diplomatische Austarieren von Ressourcen, von Lebenszeit, und die Konzentration auf einen Bereich des Lebens, der dadurch andere ausschließt, lediglich andere Formulierungen für den für eine Karriere zu zahlenden Preis? Und ist es das weite Spektrum des Preises, den Frauen wie Frau F.C. vielfach nicht zahlen wollen? Nicht zahlen können? Oder zahlen auch sie genau diesen Preis, haben jedoch eine andere Sprache zur Beurteilung ihrer beruflichen Leistungen und Erfolge?
Warum setzen Frauen, selbst wenn wir ihren von Männern sich unterscheidenden kulturell-historischen Hintergrund und Zugang zu einer beruflichen Identität mitberücksichtigen, ihre beruflichen Erfolge mitunter unter Anführungszeichen? Dazu Frau E.I., die ihre Beziehung zu Karriere mit folgenden Worten beschrieb: "Es hat abstrakte Muster gegeben, dass ich eben immer gesehen hab, man macht so Karriere. Man sollte in dem und dem Alter den und den Ruf, Dissertation, Habilitation und so weiter haben. Das brauchte nicht an Personen gebunden zu sein, das war das Karriere-Muster, die Karriere-Folie der Differenz."
Das leidige Kontinuum des Ungleichgewichtes von Männern und Frauen im Wissenschaftsbetrieb ist hinreichend bekannt. Wie schon vor 100 Jahren so sind auch im 21. Jahrhundert Frauen in der Wissenschaft eine Minderheit. Zwar stellen sie rund die Hälfte der Studierenden, aber Wissenschaft als Beruf ist eindeutig eine Männerdomäne. Vor allem in hochqualifizierten Spitzenpositionen ist ihr Anteil marginal.(3) Als Minderheit befinden sich Frauen in der Wissenschaft somit in der paradoxen Situation, dass sie zwar einerseits zu einer sichtbaren Selbstverständlichkeit geworden sind - als Studierende, aber auch als Lehrende und Forschende, die zusätzlich innovative Ansätze und Theorien in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht haben -, andererseits aber stellen sie eine Ausnahme dar.(4) Die Gründe für die geringe Anzahl von Frauen in der Wissenschaft sind vielfältig. Aus den Zahlen lassen sich keine Rückschlüsse darüber erzielen, ob junge Wissenschafterinnen auf eine Karriere in der Wissenschaft aufgrund persönlicher Entscheidungen verzichten oder ob unsichtbare Barrieren sie behindern. Auf den Ebenen der Gleichbehandlung, der Fördermaßnahmen und des Mainstreaming lassen sich verschiedene Faktoren herausfiltern und benennen, welche die Partizipation von Frauen be- und verhindern. Als wunde Punkte gelten die Stellenbesetzungs- und Beförderungsverfahren, das Peer-Review-System, die einseitige, d.h. männlich-homogene Zusammensetzung der Entscheidungsgremien, aber auch die Bildungssozialisation. Diese Mängel lassen sich in konkrete Maßnahmenkataloge umsetzen. Es gibt aber noch einen weiteren Bereich, der auf subtile Art und Weise geschlechtssegregierend wirkt, schwieriger zu erfassen und nur langfristig veränderbar ist. Es ist jener weite Bereich der Mentalitäten und Traditionen, der Werte und Normen, der Klischees und Vorurteile. Die Europäische Kommission spricht von einem nötigen Kulturwandel in der Wissenschaft.(5) Und im Bericht der ETAN (European Technology Assessment Network)-Expertinnenarbeitsgruppe "Frauen und Wissenschaft" wird die Befreiung der Wissenschaft von Klischeevorstellungen gefordert.(6)
Die nachhaltige männerlastige Einseitigkeit des Berufsfeldes Wissenschaft trotz formaler Gleichberechtigung und trotz Antidiskriminierungs- und Frauenförderprogrammen wirft die Frage nach den zugrunde liegenden Denk- und Vorstellungsmustern, nach den subjektiven Bedeutungen, Wertigkeiten, Identitäten und Lebensmodellen auf. Welche Bedeutung haben Beruf, Karriere und Wissenschaft für Frauen, welche für Männer? In einer qualitativen Studie, in der Wissenschafterinnen und Wissenschafter unterschiedlicher Disziplinen und aller Generationen zu Wort kommen, konnten wir herausarbeiten, dass sich alle diese Faktoren im Berufsleben einer/s WissenschafterIn nicht voneinander trennen lassen. Sie stellen vielmehr ein interdependentes Beziehungsgeflecht dar, in dem die Berufsauffassung und die Berufsidentität die Grundlage für einen erfolgreichen Berufsverlauf und für eine Karriere bilden, die Wissenschaft im Sinne einer wissenschaftlichen Tätigkeit jedoch das Ziel und die Begründung dafür liefert. Ernsthaftigkeit, Notwendigkeit und Unverhandelbarkeit des Berufes stellen somit die Basis für eine erfolgreiche Berufslaufbahn dar und schaffen zugleich die Voraussetzungen für eine Karriere, während der Bezugspunkt Wissenschaft die Legitimationsgrundlage dafür bietet. Karriere definiert sich somit durch die Bedeutungskoordinaten von Beruf und Wissenschaft.
Welche Bedeutung hat der Beruf für Wissenschafterinnen und Wissenschafter? Als Friedrich Nietzsche im Jahre 1883 den vielzitierten Aphorismus prägte - "Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens und seine Wahl die wichtigste Entscheidung, die der Mensch treffen muss" - ging er, selbstverständlich, von einer männlichen Berufswelt aus. Der langwierige Kampf der Frauen um höhere Bildung und Zugang zu qualifizierten Berufen sollte zu bis dahin nicht gekannten Konstellationen führen und damit auch vertraute Wertkriterien ins Wanken bringen. Inzwischen hat die (formale) Gleichberechtigung den Beruf ins Zentrum der Lebensplanung für Männer und Frauen gerückt. Berufsausbildung und Berufsausübung wurden in den westlichen Industriestaaten zu Notwendigkeiten und Möglichkeiten für alle. Trotzdem bleibt die Frage offen, welche persönliche Bedeutung dem Beruf im Lebensmodell der Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zukommt und welche Rolle er für Männer und welche er für Frauen spielt. Folgende drei Bezugspunkte werden dabei sichtbar: Existenzsicherung - Sinngebung und/oder Selbstverwirklichung - Spaß.
Im männlichen Lebenskonzept ist Berufstätigkeit zur Existenzsicherheit eine zentrale, selbstverständliche und unverhandelbare Lebensoption, die als solche in der Selbstdarstellung keiner besonderen Betonung bedarf. Lediglich bei jenen, für die sie einen zusätzlichen Stellenwert hat, rückt sie ins Zentrum der Wahrnehmung. So ist der Aufbau einer materiellen Existenz besonders für jene wichtig, die aus sozial einfacheren Verhältnissen kommen, sowie für Männer der älteren Generation, für die dieses Ziel unumstößlicher Teil eines männlichen Lebensmodells war. Ihm gelten daher alle Energien. Existenzsicherung in diesem Modell bedeutet nicht nur die eigene Existenz, sondern meint immer auch die Existenz einer Familie - mit oder ohne Kinder, einer bereits vorhandenen, geplanten oder auch nur zukünftigen Familie. Darüber hinaus wird der Beruf als Berufung erlebt und als persönliche Sinngebung bzw. als Möglichkeit der Selbstverwirklichung empfunden, was in unseren Interviews vor allem Männer der mittleren Generation betonen. Die damit einhergehende Zufriedenheit mit dem Beruf und Erfüllung im Beruf wird mit den Vokabeln "Spaß" und "Freude" beschrieben. Diese Freude und Zufriedenheit im Beruf eines Wissenschafters innerhalb oder außerhalb einer Universität wird als Teil einer Lebensqualität gesehen, die etwa durch höhere Bezahlung in der Privatwirtschaft, die gerade für Techniker und Naturwissenschaftler eine Möglichkeit darstellt, nicht aufgewogen wird.
Im Gegensatz dazu ist die lebenslange (außerhäusliche) Erwerbstätigkeit von Frauen in der bürgerlichen westlichen Gesellschaft ein historisches Novum, deren Recht zur Ausübung erst erkämpft werden musste. Außerdem, sie ist nicht die alleinige, sondern eine unter mehreren Optionen der persönlichen Existenzsicherung. Frauen haben infolgedessen einen anderen Zugang zum Beruf. Das heißt er ist - genauso wie höhere Bildung - eben keine historische Selbstverständlichkeit. Eine qualifizierte Berufstätigkeit, die eine eigenständige soziale wie materielle Existenz erlaubt, folgt keiner Automatik in der Lebensplanung, sondern bedarf eines positiven Entschlusses als Grundlage und beinhaltet daher eine gewisse Freiwilligkeit. Es sind klare Entscheidungen nötig - für und gegen Lebensmodelle. Denn letztlich stehen auch heute den Frauen mehrere davon zur Disposition - auch wenn etwa das Modell einer traditionellen Hausfrau und Mutter an Anziehungskraft verloren hat und für einen Lebensentwurf nicht mehr attraktiv sein mag, so bleibt es doch eine reale Möglichkeit, egal ob sinnvoll oder nicht, egal ob geliebt oder nicht. Auch wenn diese Wahlmöglichkeit mehr theoretischer denn praktischer Natur ist, verringert sie einerseits den Druck, sich auf ein einziges Modell festlegen zu müssen, andererseits wirkt sie sich auf den mentalen Zugang aus. Wenn eine lebenslange Berufstätigkeit für Frauen nicht die alleinige Option darstellt, haftet ihr somit weniger Zwang und damit auch weniger existentielle Notwendigkeit an. Die Triebfeder für eine höher qualifizierte Berufstätigkeit erscheint bis zu einem gewissen Grad immer auch als freier, selbst gewählter Entschluss, der eine klare Entscheidung erfordert und ihr damit aber gleichzeitig wiederum Gewicht verleiht: Wunsch und Ziel ist nicht eine Familiengründung, sondern sind Selbständigkeit und Eigenständigkeit, materiell und sozial.
Die Kristallisationspunkte, auf die sich die persönliche Bedeutung von Beruf stützt, sind sowohl bei den männlichen wie bei den weiblichen Selbstdarstellungen auf den ersten Blick gleich. Erst eine genauere Analyse zeigt die Unterschiede: Für die Wissenschafterinnen ist der Beruf nicht nur Existenzgrundlage, sondern in erster Linie ein Garant für die eigene Selbständigkeit, er ist nicht nur Sinngebung, sondern bietet vor allem Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und schließlich wird der Spaß, den er bereitet, auch als Privileg gesehen. Von den Wissenschafterinnen, gleich welcher Generation, wird der Beruf zunächst als Möglichkeit zur eigenen materiellen und sozialen Selbständigkeit und Unabhängigkeit geschätzt.
Sind mit den hier skizzierten Berufsidentitäten erfolgreiche Berufslaufbahnen in der Wissenschaft vorgegeben? Karriere ist ja in diesem Gebiet ein historisch fremder Begriff(7), den sich nur wenige Wissenschafterinnen und Wissenschafter zugestehen. Ein Drittel der von uns befragten erfolgreichen Männer und Frauen lehnt Karriere rundweg als unwichtig und bedeutungslos ab. Selbst WissenschafterInnen mit einer von außen betrachtet beeindruckenden Karriere sind davon überzeugt, nie Karriere im Sinne gehabt zu haben, sondern immer nur eine interessante Arbeit. Kein Karriere-Denken zu haben und kein Karriere-Mensch zu sein wird nicht als Makel empfunden, sondern im Gegenteil, es gehört fast selbstverständlich zur Darstellung einer wissenschaftlichen Karriere. Stattdessen wird die Bedeutung von Beruf und Wissenschaft betont. In diesen entgegengesetzten Positionen zu Wichtigkeit und Wert einer eigenen Karriere sind die Geschlechterverhältnisse besonders klar ausgeprägt. Bei jenen, die nicht in Karrierekategorien denken wollen, sind rund drei Viertel Frauen. Sie gehören in erster Linie der mittleren Generation an, d.h., sie stammen aus der Studentinnengeneration der 1970er Jahre. Unter ihnen finden sich ordentliche und außerordentliche Universitätsprofessorinnen, freiberufliche Wissenschafterinnen, überwiegend aus den Sozial- und Kulturwissenschaften. Bei der karrierebewussten Gruppe hingegen sind genau umgekehrt drei Viertel Männer. Auch hier überwiegend aus der mittleren Generation, jedoch nicht so ausgeprägt wie bei den Frauen. Es sind somit auch hauptsächlich Männer, für die Workaholic kein Schimpfwort ist. Männer, die sich der Geschlechterverhältnisse bewusst sind und dieses arbeitsintensive Berufsleben als männliches "Privileg" schätzen. Im Gegensatz zur ersten Gruppe finden sich hier die Vertreter der absoluten Toppositionen - Rektoren, Institutsgründer bzw. Direktoren von Instituten.
Einen Ausweg aus diesem (mentalen) Karriere-Dilemma stellt für viele die Betonung einer gewissen Unfreiwilligkeit und Zwanghaftigkeit ihrer offenkundigen Karriere dar. Die formalisierten Berufswege an den Universitäten bieten hierfür nicht nur eine geeignete Plattform, sie verbrämen und verstecken auch die Karrierewege in ihren festgeschriebenen Hierarchien. Sie ermöglichen und nähren die Vorstellung, Karriereschritte nicht um einer möglichen Karriere, sondern allein um elementarer beruflicher Notwendigkeiten willen zu machen. Karriereentscheidende Schritte wie die Habilitation werden auf diese Weise nicht als eine Maßnahme gesehen, um karrieremäßig an die Spitze zu gelangen, sondern nur um überhaupt einen weiteren Verbleib an der Universität oder gar der Wissenschaft zu ermöglichen. Es ist ein, wie wir es nennen, defensives Karrieremuster, das zumeist tatsächlich nicht auf eine Spitzenposition abzielt, sondern auf eine dauerhafte hochqualifizierte, wissenschaftliche Tätigkeit.
Und die Wissenschaft? Welche persönliche Bedeutung hat diese? Auch wenn für alle Wissenschafterinnen und Wissenschafter im Zentrum das Erkenntnisinteresse steht, so stellt sie für einen Teil von ihnen die entscheidende Sinnhaftigkeit von Wissenschaft dar: Neugierde und Lust auf Erkenntnis als Lebenshaltung. Der Wunsch, "neue Felder" zu entdecken plus "viel Neugierde" (L.O.) stehen im Mittelpunkt. Dahinter wird ein Lebensmodell sichtbar, das im Leben selbst die Möglichkeit sieht, Erkenntnisse zu sammeln, wobei die Wissenschaft das Mittel dazu ist und das nötige Handwerk bereitstellt, dieser Neugierde nachzukommen. Erkenntnisinteresse wird sowohl als persönliches wie auch als gesellschaftliches Emanzipationsvehikel verstanden. Diese Wissenschafterinnen stehen damit in der Tradition der feministischen Wissenschafterinnen aus der Studentinnengeneration der 1970er Jahre, für die allein das Erkenntnisinteresse Anreiz genug war, Wissenschaft zum Beruf zu machen.(8) Verbunden mit Lust am Forschen und politischem Engagement knüpften sie hiermit an eine lange Tradition von gesellschaftlichen Gruppen an, die sich jeweils an den Grenzen von Macht und Einfluss bewegten und die über die Macht des Wissens ihren Anspruch an die gesellschaftlichen Machtzentren formulierten - sei es die Arbeiterbewegung oder die Frauenbewegung, die schon Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Motto des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins "Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück"(9) für eine Zulassung der Frauen an den Universitäten kämpfte.
Wenn wir einen kurzen Blick auf die historische Entwicklung von Wissenschaft als Beruf werfen, gewinnt die männliche Traditionslinie an Kontur. Die Entstehung und Entwicklung der abendländischen Wissenschaft und ihrer Institutionen ist in zweifacher Hinsicht inhärenter Teil der Gegenwart: zum einen in der Schaffung ihres Berufsbildes und zum anderen in ihrer einseitigen geschlechtsspezifischen Entwicklung. Von den mittelalterlichen bis hin zu den neuzeitlichen Universitäten ist die Geschichte der Wissenschaft eine der Ausschließung der Frauen. Wissenschaft wurde per definitionem zur Männersache. Die gleichzeitig mit der Herausbildung des Berufes eines - männlichen - Wissenschafters entstandenen Berufsbilder nährten sich aus exklusiven und idealisierten Vorstellungen und begründeten einen Mythos: das Bild eines ausschließlich der Wissenschaft verpflichteten Menschen, der seine ganze Kraft und Zeit seinen Studien und seiner Forschung widmet und in dieser aufgeht, darüber hinaus kaum andere Interessen pflegt und sich von weiteren Verpflichtungen freihält. Max Weber, der einflussreichste Theoretiker der Berufssoziologie des 20. Jahrhunderts, gab diesem Mythos Form und Inhalt. "Arbeit - Leidenschaft - Eingebung - Hingebung" sind für ihn die Grundpfeiler eines idealtypischen Wissenschafters. Ein Idealbild, das wir in unseren Forschungen hauptsächlich bei männlichen Wissenschaftern wiedergefunden haben. Sie verleihen der persönlichen Bedeutung von Wissenschaft bevorzugt höchste emotionale Dramatik sowie ein Flair von Abenteuer. Wissenschaft ist nicht nur "das Wichtigste", sondern sie ist Berufung, sie ist Sinngebung, sie ist Leidenschaft, sie ist Abenteuer. Der Beruf und die Wissenschaft werden als "Sinnangebot" erlebt, mit dem man(n) viel anfangen könne. So wie Wissenschaft als Erkenntnisinteresse ein Mittel ist, um sich in der Welt bewegen zu können, wird sie auch hier als Sinngebung, Berufung und Leidenschaft zum Vehikel, um das Leben zu verstehen und zu klären, allerdings semantisch erhöht und zu einem höchst emotionellen Bezugspunkt gemacht. Sie ist ein existentielles Werkzeug.
Welcher Platz kommt nun in dem Bedeutungsdreieck Beruf - Karriere - Wissenschaft der Wissenschaft zu? Dass es ein besonderer Platz, gleichsam ein Ehrenplatz ist, lässt sich aus dem bisher Dargestellten ersehen. Darüber hinaus erweist sich die Wissenschaft als der gemeinsame Bezugspunkt. Sie ist jener Faktor, der Sinn verleiht - dem Beruf, der Karriere, dem Leben. Sie erst gibt Beruf und Karriere eine Bedeutung. Sie ist übergreifend für alle die Motivationsgrundlage für den Beruf. Sie ist die Legitimation für die Karriere. Und, sie dient gleichzeitig auch als Begründung für eine Nicht-Karriere und als Ersatz für eine Karriere.
Wissenschaft als Ersatz für und Gegenpol zur Karriere? Der "große Stellenwert" (F.N.), der der Wissenschaft zugesprochen wird, kann als Ersatz für eine Karriere zu den höchsten Universitätsämtern dienen. Von jenen, die Karriere ablehnend gegenüberstehen, wird Wissenschaft als Gegenpol zur Karriere aufgebaut. Somit ergibt sich der paradoxe Befund, dass wir es im Berufsfeld Wissenschaft mit "karrierelosen Karrieren" zu tun haben. In der Reflexion ihres Verständnisses von Beruf und Karriere verweisen viele WissenschafterInnen darauf,dass es ihrem Berufsverständnis immanent sei, in ihrem selbstgewählten Beruf erfolgreich sein zu wollen. Beruf und Karriere werden so zu einer Einheit: Ernsthafte Berufskonzeptionen und -orientierungen können eine Karriere ermöglichen, die wiederum ohne eine solche Basis unmöglich ist. Mit anderen Worten, ein Lebensmodell, in dessen Zentrum der Beruf als existentielle Notwendigkeit steht, öffnet auch gleichzeitig den Zugang zu einer Karriere. Sowohl von Männern wie von Frauen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es wohl unmöglich sei, den Beruf ernst zu nehmen und gleichzeitig nicht an Karriereschritten interessiert zu sein. Das "Maximum zu machen" (B.C.) ist aber so selbstverständlich, dass die sich daraus ergebenden Karriereschritte oft gar nicht als solche gesehen werden oder auch nicht gesehen werden wollen.
Dem Beziehungsgeflecht von Beruf, Karriere und Wissenschaft liegt, wie jedem sozialen Handeln und gesellschaftlichem Tun, die unsichtbare Matrix der Geschlechterbilder zugrunde: Vorstellungen von Mann-Sein und Frau-Sein, die äußerst subtil, aber außerordentlich wirksam eine Folie der Differenz bereitstellen. Doch wie die vorgefundenen tradierten und historisch geprägten Bilder von Beruf, Karriere und Wissenschaft, von Männlichkeit und Weiblichkeit zugunsten subjektiver Definitionen abgeändert wurden, so befinden sich auch die gegenwärtigen Vorstellungen in einer laufenden Veränderung und Umorientierung. Gesellschaftliche Bilder und Normen sind wohl nach wie vor wirkungsrelevant, sie haben aber ihre Starrheit eingebüßt. Sie werden korrigiert und modifiziert, individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten angepasst. Die Definitionen werden weiter, stereotype Prägungen löchrig. In der Wissenschaft haben traditionelle Lebensmodelle zwar nicht ausgedient, es existiert aber auch Raum für individuelle Formen und subjektive Wertungen. Die jetzt lebenden Generationen, Männer wie Frauen, leben, wie Alice Schwarzer(10) es nennt, Übergangsmodelle, in denen sich Altes mit Neuem vermischt und Unbekanntes entsteht.
© Brigitte Lichtenberger-Fenz (Wien) / Doris Ingrisch (Wien)
ANMERKUNGEN
(1) Der Beitrag basiert auf einen im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur durchgeführten Forschungsprojektes: "Beruf, Karriere und Wissenschaft, geschlechtsspezifische Konstruktionen im Wandel? Eine Studie zu Wissenschaft und Geschlechterdemokratie anhand eines biographischen Ansatzes", Wien 2002. Erscheint unter dem Titel "Beruf, Karriere und Wissenschaft. Narrative über geschlechtsspezifische Un-/Gleichheiten und Un-/Gleichzeitigkeiten." 2006 im StudienVerlag, Innsbruck-Wien-Bozen.
(2) Diese Zitate sind den transkribierten Interviews mit den WissenschafterInnen unseres Samples entnommen und zur besseren Kenntlichmachung in Kursiv gesetzt. Die Textstellen werden anonymisiert und leicht auf Lesbarkeit überarbeitet wiedergegeben.
Die Studie stützt sich auf 45 narrative Interviews mit hochqualifizierten Wissenschafterinnen und Wissenschaftern aus unterschiedlichen Disziplinen.
(3) Die neuesten Zahlen für Österreich finden sich in: Statistisches Taschenbuch 2005, hrsg. vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Wien.
(4) Siehe dazu u.a. Doris Ingrisch/Brigitte Lichtenberger-Fenz, Hinter den Fassaden des Wissens. Frauen, Feminismus und Wissenschaft - eine aktuelle Debatte, Milena Verlag: Wien 1999; Birgit Buchinger/Doris Gödl/Ulrike Gschwandtner, Berufskarrieren von Frauen und Männern an Österreichs Universitäten. Eine sozialwissenschaftliche Studie über die Vereinbarkeit von Beruf und Privatem, Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft, Bd. 14, Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur: Wien 2002
(5)http://europa.eu.int/comm/research/leaflets/science/en/index.html (28.5.2003)
(6) Wissenschaftspolitik in der Europäischen Union. Förderung herausragender wissenschaftlicher Leistungen durch Gender Mainstreaming. Bericht der ETAN-Expertinnenarbeitsgruppe "Frauen und Wissenschaft", Brüssel 2001 (www.cordis.lu/rtd2002/science-society/women.htm, (28.5.2003); ftp://ftp.cordis.lu/pub/improving/docs/g_wo_etan_de_200101.pdf, (2.6.2003)
(7) Siehe Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 17, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck): Tübingen 1992 (1919); Ada Pellert, Die Universität als Organisation. Die Kunst, Experten zu managen, Böhlau: Wien/Köln/Graz 1999
(8) Doris Ingrisch/Brigitte Lichtenberger-Fenz, 1999
(9) Siehe dazu Waltraud Heindl/Marina Tichy (Hg.), Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück...". Frauen an der Universität Wien (ab 1897), Wien 1990
(10) Alice Schwarzer, Der große Unterschied. Gegen die Spaltung von Menschen in Männer und Frauen, Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 2002, S. 288
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