Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Mai 2006
 

7.6. Kartographie, Kartosemiotik und moderne Gesellschaft
Herausgeber | Editor | Éditeur: Alexander Wolodtschenko (Dresden)

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Ökologische Kartographierung in Russland: Analyse der Grundrichtungen und -ansätze

I.N. Rotanowa (Institut für Wasser- und Ökologieprobleme der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften, Barnaul, Russland)

 

Abstract

Eine große Bedeutung in den Untersuchungen der gegenwärtigen ökologischen Probleme haben geographische thematische Karten, die als ökologische bezeichnet werden und die die Einwirkungsfaktoren des Menschen auf natur-territoriale Komplexe, auf die Fragen des Umweltschutzes sowie auf das Komfortniveau der Lebensbedingungen der Bevölkerung widerspiegeln. Die ökologische Kartographierung entwickelt sich aktiv und ist eines der Grundmittel der geographischen Erkenntnis der Realität, der Modellierung des Umweltzustandes sowie ein nicht wegzudenkendes Bewertungselement bei der Lösung der Fragen der rationellen Naturnutzung, des Naturschutzes und der nachhaltigen Entwicklung.

 

Problemstellung

Es wurden russische wissenschaftliche Publikationen und kartographische Werke zur ökologischen Thematik, herausgegeben von 1990 bis 2004, analysiert. Die durchgeführte Analyse erlaubte uns, eine Vorstellung von wissenschaftlichen Ansätzen, Grundlagen, Hauptrichtungen, Techniken der ökologischen Kartographierung zu bekommen.

 

Analyse der wissenschaftlichen Grundlagen und der allgemeinen theoretischen Leitsätze der ökologisch - geographischen Kartographierung

Ökologisch-geographische Kartographierung basiert auf den theoretischen Grundlagen der komplexen Kartographierung von kompliziert organisierten Objekten. Ihr Hauptmittel ist das Modellieren von Prozessen, die bei der Wechselwirkung der Gesellschaft und der Natur entstehen und die den Zustand der menschlichen Umgebung auf einem konkreten Territorium bestimmen.

Ausgangsbasis der ökologischen Kartographierung sind theoretische, methodische und praktische Ausarbeitungen von solchen Richtungen der wissenschaftlichen Forschung wie Naturschutzrichtung, landschafts-ökologische, medizinisch-geographische, wasser-ökologische Richtungen, Rekreationsrichtung, Probleme der Naturnutzung und andere Richtungen, die sich in der modernen Kartographie aktiv entwickeln.

Als junge sich entwickelnde wissenschaftliche Richtung wird die ökologische Kartographierung durch die Vielfalt von theoretischen Einstellungen, Verfahren der Informationsanalyse und durch unterschiedliche Forschungsobjekte charakterisiert. Das alles beeinflusst den Karteninhalt. Zur Zeit kann man einige Hauptgruppen der Konzeptionen der ökologischen Kartographierung hervorheben (Tab.1).

Die erste Gruppe der Konzeptionen beruht auf den Prinzipien der klassischen Ökologie - einer biologischen Wissenschaft über die Wechselbeziehungen der lebendigen Organismen und deren Gemeinschaften mit dem Lebensraum. Bei der Ausarbeitung des klassischen ökologischen Ansatzes haben die ökologischen Karten eine biozentrische Ausrichtung und spiegeln die Beziehungen der Vegetation mit den wichtigsten Umgebungsfaktoren wider. Diese Ausrichtung hat die Bezeichnung "phyto-ökologische Kartographierung" erhalten und wurde im Institut der Geographie der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR entwickelt. Etwas später wurde auch der Begriff "Ökosystem" oder "Geo-Ökosystem" zum Objekt der ökologischen Kartographierung".

Tabelle 1: Inhalt der Ausrichtungen der ökologischen Kartographierung

Ausrichtung
der ökologischen Kartographierung

Bewertungssubjekte

Karteninhalt

Biozentrische

Biosysteme (Ökosysteme)

Beziehungen der biologisch signifikanten Individuen untereinander und zur Umwelt

Anthropozentrische

Mensch - Gesellschaft

Bewertung der Umwelt vom Standpunkt des Menschen (der Gesellschaft), Einfluss der Umwelt auf die Gesundheit, wirtschaftliche Tätigkeit u.a.m.

Geozentrische

Natürliche Komponenten.

Geosysteme

Bewertung der anthropogenen Einflüsse und deren Folgen (Inventur der Verschmutzungen, räumlich-zeitliche Verteilung von Verursachern der Verschmutzungen in unterschiedlichen Milieus u.s.w.); Kartographierung der Bewertung des Zustandes der Geosysteme/n aller Ebenen, Naturschutzempfehlungen

Zur zweiten konzeptuellen Ausrichtung der ökologischen Kartographierung gehören die Werke, die sich auf die Prinzipien des Anthropo- und Demozentrismus stützen und die in diesem Zusammenhang den interdisziplinären Ansatz, genauer gesagt - "ökologisches Denken" widerspiegeln. Die positive Seite eines solchen Ansatzes besteht in der Verstärkung der Aufmerksamkeit hinsichtlich der Wechselbeziehungen des Soziums und der natürlichen Umwelt. Die Aufgaben der Karten solch einer Ausrichtung bestehen in der kartographischen Versorgung der Maßnahmen zur Zusammenwirkung der Gesellschaft und der Natur in den lokalen, regionalen und globalen Maßstäben.

Anthropozentrische und demozentrische Konzeptionen der ökologischen Kartographierung unterscheiden sich voneinander nach den Betrachtungsprioritäten der Beziehungen des Systems "Gesellschaft-Natur". Zu Kartographierungsobjekten werden dabei ökologische Situationen, ökologische Lagen sowie ökologische Probleme.

Ein Beispiel der auf der Feststellung der Probleme beruhenden Kartographierung ist die "Karte der akuten ökologischen Situationen in der UdSSR" mit dem Maßstab 1:8 000 000, die im Institut der Geographie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR geschaffen wurde. Das ist das erste kartographische Übersichtswerk zur ökologischen Thematik für ein großes Territorium. Zum ersten Mal wurden Areale von fünf Schärfestufen der ökologischen Situationen auf der Grundlage einer Reihe von Basiskriterien (Veränderung der genetischen Ganzheit der Landschaft, Grad der Unversehrtheit des Ressourcenpotentials, Veränderung der Qualität der Lebensbedingungen der Bevölkerung) hervorgehoben.

Die geokomplexe Ausrichtung in der anthropozentrischen ökologischen Kartographierung vermutet eine Objektivierung der Forschung und der Darstellung der natürlichen Voraussetzungen der Lebenserhaltung und der Qualität des Lebensraums des Menschen.

Die Aufgaben der ökologischen Kartographierung auf einer landschaftlichen Grundlage betrachtet A.G.Isatschenko. Der dritten von den schon heute existierenden konzeptuellen Ausrichtungen liegen die Vorstellungen über die Vielfalt von systembildenden Beziehungen unter den Objekten selbst oder zwischen den Objekten und dem Milieu zugrunde. Deshalb ist die ökologische Kartographierung auf eine dem Inhalt nach systematische Widerspiegelung der Gesetzmäßigkeiten der Differenzierung von Naturgebilden in den Verhältnissen System-Milieu (Hierarchie), Ganzes-Teil (Organisation) und Teil-Teil (Verschiedenartigkeit der Struktur).

Zur Zeit prävalieren ökologische Karten, die qualitative oder halbquantitative Information (auf der Grundlage von Punktwerten, Koeffizienten, Summierungsindexen u.ä.m.) enthalten.

Ungeachtet der Unterschiede in den Ausgangseinstellungen, Akzenten und Kategorien haben die Grundkonzeptionen sehr viel Gemeinsames. Das ist die Einstellung auf die Analyse und Widerspiegelung der Verbindungen, Beziehungen, Wechselwirkungen in den Systemen Gesellschaft-Natur sowie das Verständnis, dass die Differenziertheit hinsichtlich der Informationsform und der Informationsebenen, Kompliziertheit und Vielfalt der ökologischen Probleme und Situationen die Schaffung einer Serie der ökologischen Karten mit einem konstantierenden, bewertenden und komplexen (synthetischen) Inhalt für jede Region notwendig machen. (Fig. 1).

Fig. 1. Klassifikation der ökologisch-geographischen Karten

 

Analyse der Ausrichtungen der ökologischen Kartographierung in Russland

Bei der Analyse der ökologischen Kartographierung Russlands wurden mehr als 1500 literarische und kartographische Quellen studiert: Monographien, Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften (15 Titel), Publikationen in Sammelbänden der wissenschaftlichen Arbeiten, in den Materialien von internationalen, allrussischen und regionalen Konferenzen, Karten, Atlanten, Autoreferate der Kandidaten- und Doktordissertationen für die Periode 1990-2004.

Hauptausrichtungen und etwaige Thematik der ökologischen Kartographierung in Russland (nach der Häufigkeitsverteilung, nach Kartenbezeichnungen):

 

Schlussfolgerungen

Ökologisch-geographische Karten sind das Ergebnis von komplexen interdisziplinären Forschungen. Ökologische Karten haben eine große praktische Bedeutung für die Erkenntnis des Komplexes der Bedingungen der Lebenstätigkeit des Menschen zum Ziele, sowohl die wissenschaftlichen Aufgaben als auch die Aufgaben der wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen, der zweckmäßigen Nutzung deren Naturressourcen sowie der Sicherung von Maßnahmen zu deren Realisierung zu lösen. (Fig. 2).

Fig. 2. Klassifikation der ökologisch-geographischen Karten nach ihrem Inhalt

Zur Zeit überholt das Tempo der Schaffung von ökologischen Karten in Russland den Erforschungsgrad der Prozesse der anthropogenen Einwirkungen auf die Natur und deren Folgen. Hieraus folgt der konstatierende Charakter der meisten ökologischen Karten sowie die Abhängigkeit des Inhalts von den staatlichen und amtlichen Statistiken. Ein neuer qualitativer Sprung der ökologischen Kartographierung ist bei einer überholenden Entwicklung der fundamentalen Forschungen von langfristigen Prozessen in geographischen Komplexen, deren Standhaftigkeit den unterschiedlichen Einwirkungen gegenüber, der Höchstbelastungen u.s.w. möglich.

Perspektivische Ausrichtungen der Entwicklung der ökologischen Kartographierung sind verbunden: mit der Kombination von terrestischen Forschungen und Bearbeitungsverfahren von Daten der Fernerkundung, mit der Informationssynthese, mit der Schaffung von Operativkarten mit einer Zielsetzung, von Karten der Standfestigkeit des Milieus und mit der Modellierung von Karten-Szenarien.

Eine Vergrößerung der Anzahl von wissenschaftlichen Publikationen über die ökologische Kartographierung und der Karten ökologischen Inhalts an der Wende des 20./21. Jahrhunderts zeugt davon, dass die Rolle der ökologischen Kartographierung unter den Bedingungen der immer stärkeren Informationsströme über den Zustand der Umwelt, die eine räumliche Darstellung benötigen, wesentlich zunimmt. Dies wird durch ein hohes Informationsvolumen der kartographischen Materialien, durch Anschaulichkeit und Zugänglichkeit für eine direkte Wahrnehmung, durch räumliche Analyse und Verallgemeinerung, durch die Anwendungsmöglichkeit für automatisierte Methoden der Kartensynthesierung und -interpretierung in der praktischen Tätigkeit und bei den Leitungsentscheidungen begünstigt.

© I.N. Rotanowa (Akademie der Wissenschaften, Barnaul, Russland)


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For quotation purposes:
I.N. Rotanowa (Akademie der Wissenschaften, Barnaul, Russland) : Ökologische Kartographierung in Russland: Analyse der Grundrichtungen und -ansätze. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/07_6/rotanowa16.htm

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