Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

8.5. ... und Friede auf Erden. Konzepte gewaltfreier Konfliktaustragung in Theorie und Praxis
Herausgeber | Editor | Éditeur: Reinhold Schrappeneder (Wien)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Gedächtnis, Gewalt und Globalisierung

Hybridisierungsprozesse der politischen Kultur in Lateinamerika

Miguel Gamboa (Karl Franzens-Universität, Graz und Universität Wien)
[BIO]

 

1. Themendarstellung

In diesem Beitrag werden die Beziehungen zwischen politischer Kultur, kollektivem Gedächtnis und der Legitimation der politisch motivierten Gewalt analysiert. Es wird gezeigt, dass die politische Kultur durch Hybridisierungsprozesse geprägt ist.

Es wird die Wirkung der politischen Gewalt auf politische Kultur berücksichtigt, denn unter den Bedingungen eines Bürgerkrieges versuchen die Konfliktparteien - nicht immer bewusst - aus der Nutzung verschiedener Aspekte der politischen Kultur die größtmöglichen Vorteile zu ziehen.

Die bewaffneten Akteure benötigen Legitimation, und aufgrund dessen geben sie Impulse zu gewissen Entfaltungen kollektiven Gedächtnisses, können diesen Prozess jedoch nicht vollständig kontrollieren. Es gibt aber auch andere Impulse, die aus pazifistischen Kreisen oder Menschenrechtsgruppen, aus der eigenen Zivilbevölkerung oder aus dem Ausland kommen. Bestimmte Initiativen entsprechen hegemonialen Interessen in der internationalen Arena. Allerdings sind die hegemonialen Mächte, in erster Linie die USA, nicht in der Lage, ihre eigene Öffentlichkeit samt Lobbys, Dissidenten und Oppositionellen zu kontrollieren und auch nicht die Widersprüche ihres Diskurses (z. B. Sicherheit versus Menschenrechte) oder die Kontrollfunktion einiger ihrer Institutionen zu beseitigen.

Es wird hier ein erweitertes Konzept von politischer Kultur angewendet, das nicht so sehr an Kategorien wie Staat, Zivilgesellschaft und Demokratie respektive ihrer "Reife" hängt. Diese Kategorien werden nicht an und für sich abgelehnt, sondern als normative Konzepte und als ein Kontext einer hybriden Kultur beibehalten.

Der bewaffnete Konflikt wird hier als eine diskursive Realität betrachtet, d.h. es wird angenommen, dass es keinen bewaffneten Konflikt ohne Diskurs (der direkten und indirekten Beteiligten) gibt und dass jede Kriegspartei sowie zivile Gruppe eine gewünschte oder auch ungewollte Relation mit einer globalisierten bzw. glokalisierten Umgebung eingeht.(1)

Zuerst werden zwei zentrale Begriffe, nämlich politische Kultur und Gedächtnis, näher definiert und danach ihre Relation mit der Legitimation der Gewalt untersucht. Der neue internationale Kontext und seine Wirkung auf bewaffnete Konflikte, aber auch auf

Legitimations- und Gedächtnisprozesse, werden in großen Zügen gezeigt.

Im Hintergrund dieses Beitrags steht die Bezugnahme auf einige Forschungsergebnisse, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen über Konflikt und Kultur in Lateinamerika erreicht haben, vor allem in Kolumbien. Aber auch einige Ansätze über andere Szenarien (z. B. von Herfried Münkler und Mary Kaldor) wurden berücksichtigt. Es wird hier allerdings nicht eine Auseinandersetzung mit dem state of art betrieben.

 

2. Definition der politischen Kultur unter Berücksichtigung der Konstitution des Politischen

Politische Kultur ist ein Bereich der Intersubjektivität konstitutiv der Entscheidungsbefugnisse, sie ermöglicht die bewusste Organisation von kollektiven Handlungen und ihr Anbindung an zwingende Entscheidungen. Die politische Kultur bildet den Sinnrahmen und die Regulation der individuellen und kollektiven Beteiligung an politischen Handlungen sowie der politischen Beziehungen zwischen Gruppen. Die hierarchische und sequentielle Ordnung von Elementen einer politischen Kultur ist nicht starr fixiert. Das Gegenteil ist der Fall: solche Elemente werden von politischen Akteuren reorganisiert und in der Zeit der Globalisierung durch eine ausgedehnte Umgebung beeinflusst. Politische Kultur in ihrer konkreten Ausformung trägt die Merkmale der Situiertheit, d.h. ihre Elemente ordnen sich durch einen konjunkturellen Zusammenhang. Das kollektive Gedächtnis verbindet verschiedene Momente der politischen Kultur und trägt zur konkreten Gestaltung der politischen Kultur bei.(2)

Die wissenschaftliche Forschung hat eindeutig die Heterogenität innerhalb einer nationalen Kultur festgestellt. Dafür zeugen Begriffe wie kulturelles Feld und Habitus (Bordieu), aber auch ältere und neuere Begriffe wie Klasse, Ethnie, Gender, Subkultur, Region, Migration, Generation usw. Als Folge dieser Ergebnisse kann man heutzutage nicht ohne weiteres von der Einheit und Homogenität der politischen Kultur eines Landes ausgehen.

Die Anerkennung der kulturellen Diversität sollte allerdings nicht zu einer mechanischen Übertragung auf die politische Kultur führen. Dies ist ein Teil der Kultur, erfüllt aber spezifische Funktionen. Es ist sogar berechtigt anzunehmen, dass die politische Kultur mehr Einheit besitzt. Gerade sie bietet Orientierungen, um mit der Heterogenität und Ungleichheit umgehen zu können.

Der Kultur wird viel Natürlichkeit und Spontaneität zugesprochen, und in einigen Ansätzen wird angenommen, dass Kultur nicht mehr besteht, wenn sie Objekt von Reflexion geworden ist. Es wäre allerdings nicht notwendig, so weit zu argumentieren, denn sogar wenn Kultur in der Moderne einer Reflexion unterliegt, bewahrt sie dennoch einen hohen Grad an Natürlichkeit und Spontaneität. Die politische Kultur hat auch eine nichtreflektierte Komponente, aber auch andere, die auf strategisches Denken und Machtmaximierung sowie auf Handlungsregulierung eingerichtet sind. Die politische Kultur wird um den Konflikt und den Konsens konstituiert. Angesichts der Bedeutung des Normativen bei der politischen Kultur kann man ihr mehr Kohärenz zusprechen als anderen kulturellen Bereichen. Mit der Konsolidierung des Staates wird eine solche Einheitlichkeit stärker. Bei einem schwachen Staat, der nicht im ganzen Territorium eines Landes präsent sein kann, wird die politische Kultur Frakturen zeigen. Das wird auch der Fall sein, wenn Staat und Gesellschaft sich gegenseitig nicht ausreichend durchdrungen haben oder durchdringen können.

Wenig frakturiert zeigt sich allerdings die politische Kultur in jener Facette der nationalen Identitätsstiftung, die in Lateinamerika sehr wichtig ist. In dieser Funktion zeigt sich die politische Kultur als einheitlich und vereinheitlicht. Das bekannteste Produkt der Identitätsbildung in Lateinamerika ist der Patriotismus, der sein Mobilisierungspotential mehr als einmal gezeigt hat. In Lateinamerika prägt die Idee von "Patria" die politische Kultur in hohem Grad. Patria als Altar verlangt -seit den Unabhängigkeitskriegen - einen eher religiösen Respekt und sogar Opferbereitschaft. Patria als Mutter (madre patria) aber bedeutet, dass für sie alle ihre Kinder (Bürger) gleichwertig sind. Daran können einigen Konzepte wie Anerkennung, Inklusion und Gerechtigkeit angeschlossen werden. Patriotismus ist eine sehr institutionalisierte Form des kollektiven Gedächtnisses, die allerdings Spielraum für Auslegungen erlaubt. Aber Patriotismus steht in der politischen Kultur Lateinamerikas neben anderen Merkmalen, die sich in elementaren politischen Handlungen zeigen wie: ein Problem zu thematisieren, eine Gruppe für eine Initiative zu organisieren, einen Vorschlag zu artikulieren, eine Repräsentation auszuwählen und eine Entscheidung zu treffen oder einen Kompromiß zu schließen. Wenn die fast zweihundert Jahre alten staatlichen und politischen Institutionen, die in unserer minimalen Definition von politischer Kultur ausgeklammert wurden, ebenfalls berücksichtigt werden, steht diese als ein komplexeres Gebilde vor einem noch breiteren Horizont.

 

3. Gedächtnis

Gedächtnis (individuell oder kollektiv) ist die Fähigkeit, Informationen aus der Vergangenheit zu bewahren und selektiv zu bearbeiten und zu aktualisieren.(3) Die Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses mit langer oder kurzer Richtweite ist eine vielfältige Tätigkeit, die von verschiedenen Gruppen auf verschiedenen Wegen und sogar mit widersprüchlichen Zielen durchgeführt wird.

Anerkennung bzw. Inklusion in ein politisches System hängt oft davon ab, ob es der jeweiligen Gruppe oder den Akteuren gelingt, das kollektive Gedächtnis in eine bestimmte Richtung zu lenken. Darüber hinaus kann man sagen, dass Ausschließen und Marginalisierung mit bestimmten Formen des Vergessenswerdens und mit Barrieren bei der Vergangenheitsbewältigung seitens hegemonialer Gruppen korrelieren.

Gedächtnis und Vergessen modulieren dann die Aktualität verschiedener Momente bzw. Komponenten der politischen Kultur. Die Legitimationsversuche der Gewalt oder deren Delegitimation während eines Bürgerkrieges sind Unternehmen (Handlungen), bei denen dringend und immer wieder ein Anschluss an das kollektive Gedächtnis gesucht wird. Wird dieser Anschluss nicht oder nur teilweise erreicht, werden die Kriegsparteien, aber auch die Friedensstifter versuchen, neue Gedächtnis- und Vergessensprozesse in Gang zu setzen.

Das kollektive Gedächtnis erfüllt nicht immer dieselbe Funktion innerhalb der politischen Kultur. Auf das Gedächtnis wird immer zurückgegriffen, um Gewalt zu legitimieren, gelegentlich aber auch, um nach einem bewaffneten Konflikt Frieden zu stiften.

In bezug auf seinen Umfang besitzt das kollektive Gedächtnis überhaupt keine fixe Größe, in Bezug auf seine Konsistenz zeigt sich keine homogene, sondern eine fakturierte Fläche. Gedächtnis kann deaktiviert werden bzw. in Vergessenheit geraten. Darüber hinaus wird heutzutage der Einfluss des internationalen Kontexts auf die politische Kultur und das kollektive Gedächtnis größer und vor allem vielschichtiger als früher. Die Einflüsse kommen nicht nur aus der Staatengemeinschaft, sondern auch aus der internationalen Öffentlichkeit.

Dadurch wird die Autonomie der politische Akteure bzw. der Kriegsparteien (sogar der Großmächte) eingeschränkt.

Zurzeit sieht man einen Trend zur Internationalisierung der Gedächtnisbearbeitung, der parallel zur Internationalisierung interner Konflikte läuft. Das betrifft vor allem das Thema der zivilen Opfer eines Krieges oder Menschenrechtsverletzungen. Auch staatliche, vor allem aber nichtstaatliche Akteure beobachten mit einer neuen Sensibilität die kulturellen Rechte bzw. die Rechte der Minderheiten, wobei kollektives Gedächtnis aktiviert wird. Eine Folge dieser Entwicklung besteht darin, dass die Legitimation des Krieges, aber auch des Friedens (vor allem von Friedensabkommen) an "höhere Standards" gekoppelt wird. Die Erstellung dieser Standards und der internationalisierten Bearbeitung des Gedächtnisses wird allerdings nicht nur von einer wohlgesinnten internationalen Zivilgesellschaft durchgeführt, sondern - im Kontext von asymmetrischen Beziehungen - auch von hegemonialen Machtinteressen interveniert und manchmal sogar diktiert.

Appelle an das Gedächtnis sind vor, während und nach jedem Krieg zu hören. Bürgerkriege oder politische Gewalt gegen Landsleute hinterlassen tiefe Wunden, deren Heilung schwieriger ist als bei einem internationalen Konflikt. In einer Situation von Postkonflikten findet man den Begriff Gedächtnis in Verbindungen wie: "nie bzw. nicht vergessen", "verzeihen aber nicht bzw. und vergessen". Die Tatsache, dass Täter und Opfer in einem gemeinsamen Kollektiv weiterleben müssen, kann wie Sprengstoff für die Zukunft wirken. Das Gedächtnis ist allerdings ein wichtiges Instrument bei der Vergangenheitsbewältigung, wie sich für Europa bei der Bearbeitung der Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg zeigt.

Verfolgung, Ausschließung und Marginalisation hinterlassen fast immer schmerzvolle Spuren im kollektiven Selbstverständnis einer Gruppe, wobei ihr Gedächtnis zu Gerechtigkeitsansprüchen, Anerkennung oder Rache führen kann.

Ein Forschungsergebnis kann im Hinblick auf die Geschichtsschreibung zu einer Revision führen oder einen Legitimationsdiskurs ins Wanken bringen. In so einem Fall wird ein neues Gedächtnis konstruiert und die politische Kultur teilweise geändert.

 

4. Politisch motivierte Gewalt unter Legitimationszwang und internationale Beobachtung

In Mittelamerika und Peru in den achtziger Jahren des 20. Jahrhundert und bis heute in Kolumbien haben sich interne bewaffnete Konflikt entwickelt, bei denen die politische Kultur, der politische Prozess und der Staat selbst weiter eine Rolle gespielt haben.

Die Analyse einer Gewaltkonfiguration wie in Kolumbien nur als eine Relation von Gewaltakteuren birgt in sich eine Reduktion, die große Teile der Gesellschaft vernachlässigt, etwa die Zivilbevölkerung, die Parteien und Bewegungen und auch immaterielle Aspekte, wie die Rolle der politischen Kultur und die dazugehörigen Vorstellungen über Frieden.

In einem internen bewaffneten Konflikt steht jeder Gewaltakteur aufgrund des Legitimationszwangs in einer besonderen Beziehung mit bestimmten, differenzierten und sogar widersprüchlichen Aspekten der politischen Kultur einer Nation bzw. mit den vorhandenen politischen Kulturen in einem gegebenen Territorium.

Der Bürgerkrieg macht deutlich, was für Kultur überhaupt konstatiert wurde: dass die verschiedenen Aspekte einer politischen Kultur sich ungleichzeitig, uneben entwickeln. Für die Gewaltakteure ist politische Kultur primär eine zu bearbeitende Orientierungsressource, die - je nach Akteur - auf differenzierte Weise erschöpft wird.

Im Vergleich zu anderen Epochen, in denen Friedensverhandlungen eine Sache der zwei verfeindeten Parteien (samt jeweiligen Verbündeten oder Vermittlern) war, versuchen jetzt Teile der Zivilgesellschaft als Opfer oder in deren Namen, direkt oder indirekt sich in den Verhandlungen zu positionieren oder mindestens sich zu Wort zu melden. Aber Opfer und Täter sind normalerweise nicht in einem jeweils einzigen Lager zu finden.

Früher, wie etwa in den 90er Jahren in Mittelamerika und Kolumbien, waren die politischen Kosten eines Krieges oder seine Verlängerung eine Komponente des strategischen Kalküls. Heute müssen die kriegsführenden Parteien - besonders nach den Erfahrungen von Jugoslawien - die neuen politischen Kosten des Friedens miteinbeziehen. Wurden früher nur Verlierer bestraft (bzw. begnadigt), sollen heute auch die Gewinner gegebenenfalls, wie in Kroatien und Kosovo, nach dem Krieg mit Strafen, Sanktionen, externem Druck oder sogar mit internationalen Haftbefehlen für bestimmte Personen rechnen müssen.

Die internationale Öffentlichkeit zeigt jetzt eine größere Sensibilität in der Frage der Menschenrechte, des internationalen humanitären Rechts, der Lage der Zivilbevölkerung. Die Internationalisierung eines internen Konflikts kann von Lobbyarbeit über Sanktionen und Blockade bis hin zu humanitärer / militärischer Intervention reichen.

 Kolumbiens Erfahrung

Als die Regierung Kolumbiens unter der Führung von Präsident Pastrana (1998-2002) Friedensverhandlungen mit der FARC begann, musste er das Abkommen des Internationalen Strafgerichts unterzeichnen (Zugeständnis an die Menschenrechtsbewegung und an den internationalen Druck), verlangte aber eine Ausnahmefrist von sieben Jahren, die als ein Zugeständnis an den Gesprächpartner bzw. an die Guerilla interpretiert wurde. Damals sind Stimmen lautgeworden, die kritisierten, dass die Gefahr von Straflosigkeit bestehe. Die Opfer, vor allem die Geiseln der Guerilla, sollten nicht vergessen werden. Wäre ein Friedensabkommen tatsächlich in greifbarer Nähe gewesen, wäre diese Kritik vermutlich noch heftiger ausgefallen. Als 2004 ein Friedensabkommen der Regierung Uribe mit der paramilitärischen rechtextremen Gruppe plausibel war und beide Seiten große Eile an den Tag legten, wurde sowohl in Kolumbien als auch im Ausland diese Friedensmöglichkeit trotz der Popularität des Präsidenten an den Pranger gestellt, weil die Gefahr von Straflosigkeit für schwerwiegende Verbrechen gegen die Menschlichkeit sehr groß war. Für niemanden ist es ein Geheimnis, dass in Zukunft auch bei einer eventuellen neuen Verhandlungsrunde mit der Guerilla mit solchen Reaktionen zu rechnen ist.

Inzwischen stellt sich die Frage der Prioritäten: Frieden oder Gerechtigkeit (im Sinne von Bestrafung)? Oder: Wieviel muss vergessen werden, um Frieden zu erreichen?

Es gibt genug Beispiele in der Geschichte Kolumbiens von Bürgerkriegen, aber auch von Friedensabkommen, Amnestien und Begnadigungen. Paktieren hat eine lange Tradition, stellte der Historiker Gonzalo Sánchez fest. Diesmal hat aber eine Kriegspartei, die FARC, genug Autonomie und Zeit, um den Konflikt zu verlängern, ohne sich von den Erfolgsmöglichkeiten oder der Öffentlichkeit unter Druck setzen zu lassen.

In einer Situation wie der kolumbianischen bildet sich nicht nur ein kollektives Gedächtnis, sondern mehrere. Die extremen Pole der Konfrontation versuchen - vergeblich - diese Pluralität in zwei Positionen zu subsumieren.

Andererseits wäre es auch naiv, an eine dritte kompakte oder homogene Position zu glauben. Zwischen den Polen gibt es nicht nur Opfer, sondern auch Gestalter der Zivilgesellschaft und neue politische Gruppierungen. Im ländlichen Gebiet gibt es zum Beispiel einige kleine zonas de paz, aber auch große Territorien wie die indigene Zonen(4) (territorios de autonomía indígena). Aber vor allem in den großen Städten formieren sich neue legale Kräfte, wie etwa die oppositionelle linksorientierte Polo Democrático Alternativo, die ein demokratisches Verständnis von politischer Konfrontation vertreten.

Dieser Prozess kann als eine neue Bearbeitung (oder Aktivierung?) des politischen Gedächtnisses gesehen werden: es gab in Kolumbien nicht nur Kriege, und diese waren meistens auch territorial beschränkt. In mehr als 180 Jahren kolumbianischer Geschichte und trotz mehrerer Bürgerkriege sind die Städte außerhalb der direkten militärischen Konfrontation geblieben. Hier hat sich der Großteil der politischen Kultur des Landes entwickelt, und die Institutionen, egal wie schwach sie waren, haben auch ihre performative Funktion entfaltet.

 

5. Hybridisierungsprozesse in der politischen Kultur

Das Spezifische der politischen Kultur in Lateinamerika wurde in der Forschung bisher nicht ausreichend gewürdigt, obwohl in jedem Ansatz das Politische erwähnt oder sogar vorausgesetzt wird. Ein Grund dafür kann die Fixierung an Bilder des "Volkscharakters" sein. Diese Bilder waren entweder so allgemein, dass sie wenig über politische Handlungen sagen konnten, oder andererseits - wie es etwa bei der Bezeichnung "Autoritarismus" der Fall ist - so sehr mit Bedeutung befrachtet, dass damit schon alles gesagt zu sein schien. Nun hat in Zusammenhang mit der Forschung auf dem Gebiet der Demokratieentwicklung bzw. der Bilanz der Transitionen oder "Öffnungen" der Begriff "politische Kultur" Relevanz gewonnen, allerdings mit einer negativen Konnotation. Nach dieser Auffassung fördert die politische Kultur die Demokratie nicht ausreichend. Tatsächlich ist dies eine plausible Interpretation von zahlreichen Umfragen, in erste Linie des großangelegten und komparativ orientierten Latinobarometers (Latinobarómetro).(5) Diese Umfragen zeigen allerdings Schwankungen und "widersprüchliche" Bewertungen der Menschen.(6) Es fehle eine klare und kohärente Haltung der Demokratie, aber auch dem Autoritarismus gegenüber. Einige Forscher haben die Bezeichnung "Volatilität" angebracht gefunden, um Haltungen zu bezeichnen, die sich anhand einer veränderten politischen bzw. wirtschaftlichen Konjunktur und nicht der politischen Grundwerte ergeben.

Ich meine, dass das Konzept von Hybridisierungsprozessen in der politischen Forschung - vor allem in bezug auf die letzten Entwicklungen der politischen Kultur - zu einem unentbehrlichen Werkzeug geworden ist.

Die Prognosen, die für Lateinamerika angesichts des Auftauchens neuer sozialer und kultureller bzw. ethnischer Bewegungen eine Ersetzung der Politik durch die Kultur vorausgesagt haben, haben sich meines Erachtens nicht bestätigt. Der sogenannte "Aufstand der Kulturen" ist eine ergiebige Quelle von politischen Bewegungen oder Haltungen geworden. Beispiele aus Bolivien, Ekuador und Kolumbien können angeführt werden. Aber damit ist nicht gemeint, dass die Politik etwas Homogenes und Geschlossenes geblieben ist. Kulturelle Elmente, politisch nicht-institutionalisierte Handlungen und virtuelle (mediale) Realitäten haben in letzter Zeit mehr Platz in der Gestaltung der Politik erlangt. Das gilt sowohl für das politische System als auch für die Rekonstruktion des Politischen. Diese Prozesse führen dazu, dass im politischen Bereich sich eben Hybridisierungsprozesse beschleunigt haben.

Lateinamerika als vielfältiges Szenario

Lateinamerika ist ein Szenario für ein vielfältiges und komplexes Zusammenwirken von sozialen und politischen Spannungen, kulturellen Elementen und politischen Institutionen, wobei die internationale Dimension - letztlich in Gestalt der Globalisierung - eine immer größere Rolle gespielt hat. Die Eliten und Gegeneliten Lateinamerikas haben die Entwicklung des Kontinents seit der Unabhängigkeit von Spanien immerhin auf Modernität (und Moderne) eingerichtet: manchmal auf materielle (wirtschaftliche) Elemente oder auf institutionelle Ausrichtung verengt, selten als umfassende Projekte konzipiert. Die Bilanz lässt viel zu wünschen übrig, und die Zukunft ist unsicher geworden. Die postkolonialen und die eher auf Lateinamerika bezogenen "postokzidentalen" Ansätze haben das Projekt der Modernität (samt eurozentristischen Kritiken) in Frage gestellt. Infolge dekonstruktivistischer Verfahren geht der ontologische Status sowohl der Demokratie als auch der Politik verloren, sie werden als Konstruktionen entlarvt. Darüber hinaus zeigen empirische Untersuchungen wie der erwähnte Latinobarómetro, dass die politische Meinung der Menschen durch Schwankungen und Widersprüche charakterisiert ist.

Angesichts der neuen Ansätze und der praktischen Erfahrungen wäre eine Abkehr von der auf Macht ausgerichteten Politik sinnvoll. Zahlreiche Vorschläge plädieren schon dafür. Die neuen Erkenntnisse sollten aber auch in neue Formen des kollektiven Handelns bzw. der Politisierung umgesetzt werden, damit ein defätistischer Retrait vermieden werden kann. An dieser Stelle können wir diese Vorschläge nicht analysieren, vorläufig sei aber der Name von John Holloway(7) erwähnt, der aus der Erfahrung des mexikanischen Neo-Zapatismus einige Reflexionen (die an Negri denken lassen) in diese Richtung angestellt hat.

Allerdings ist zu beobachten, dass der Grossteil der Bevölkerung auf die Frustration über die herrschende Politik mit zahlreichen Lebens- und Widerstandstrategien, darunter mit einer Rekonstruktion des Politischen via Opposition, aber auch mit einer Vereinnahmung des konventionellen politischen Instrumentariums reagiert. Diese Art von Gegenbewegungen tragen als gemeinsames Merkmal jenes der Hybridisierung.

In diesem Beitrag wird politische Hybridisierung verstanden als ein Set von Handlungsstrategien in Räumen, in denen sich verschiedene, oft widersprüchliche Bereiche der sozialen Realität und der geschichtlichen Entwicklung treffen. Hier ist nicht so wichtig die Entstehung neuer Synthesen, wie etwa jener, die unter Synkretismus oder Mestizisierung subsumiert werden könnten, sondern das Zustandekommen von kollektiven Antworten in asymmetrischen konfliktreichen Situationen. Diese sind nicht mit Konzepten wie Unterbrechungen oder Unvollkommenheit der Modernisierungsprozesse oder der Demokratieentwicklung zu erfassen.

Alte und neue politische Akteure werden mit sich immer schneller verändernden Bedingungen konfrontiert. Aber auch der Alltag der Menschen verlangt immer mehr Vitalenergie, Imagination und Anpassungsfähigkeit. Für viele bedeutet Lebensstrategie ganz einfach Überlebensstrategie. Das vorhandene Potential kollektiven Handelns wird von weitverbreiteter Skepsis konterkariert, wird aber andererseits durch Proteste und/oder den Aufstieg der sozialen Bewegungen gefördert.

Neue politische Orientierungen sollten sich nicht nur gegen einzementierte konservative Argumente durchsetzen, sondern vor allem gegen Vorschläge und Reformen neoliberaler Prägung. Diese werden als eine neue Modernisierung proklamiert, aber gleichzeitig im Gewand eines aktualisierten Gemeinverstandes präsentiert.

Die von der Linken und sozialen Bewegungen angebotenen Alternativen (programmatisch oder rhetorisch mehr oder weniger radikal) stützen sich heute nicht auf ein sicheres Fundament oder ein klares Modell. Alternativen bilden sich in der Auseinandersetzung verschiedener Erfahrungen, Vorschläge, kritischer Einwände und sogar Interessenkonflikte innerhalb der Alternativsuchenden heraus, wobei die Ablehnung der gegebenen Situation nicht selten mehr Gewicht als das programmatische Ziel hat.

Wie ändert sich die "programmatische Schwäche" der reaktiven Proteste, und wie werden sich diese Änderungen in einen politischen Vorschlag mit mehr oder weniger konsistentem, identifizierbarem Profil umwandeln? Tatsache ist, dass in vielen Ländern Lateinamerikas in den letzten zehn Jahren sich solche politischen Kräfte entwickelt haben und ihren Anspruch auf die demokratische Übernahme der Regional- und sogar Zentralregierung deponiert oder diese sogar erreicht haben.

Bei diesen neuen politischen Entwicklungen haben politische Traditionen, charismatische Elemente und rationale Komponenten eine Rolle gespielt. Normative Kriterien und Zielsetzungen sind zu beobachten, die teilweise innerhalb der Paradigmen der Moderne bleiben, aber auch solche, die dem Bereich der postmodernen oder postkolonialen Kritik angehören.

Wenn wir Hybridisierung als Lebensstrategie in Zwischenräumen betrachten, müssen wir das Politische als ein Handeln auffassen, das sich sowohl auf rational erworbene politische als auch auf durch (nichtreflektierte) Kultur und Ideologie vermittelte Kenntnisse stützt. Außerdem haben wir in einem anderen Abschnitt gesehen, wie sich die politische Kultur durch kollektive Gedächtniserfahrungen aus der Vergangenheit aktualisieren kann, um besser mit den Problemen der Gegenwart umgehen zu können. Für die Forschung und für eine reflexive politische Praxis ist es erforderlich, nicht nur einen Kontext einseitig zu berücksichtigen, wo mehrere vorhanden sind, und sich auch nicht mit der Betrachtung eines einzigen kurzen Zeitabschnitts zu begnügen.

© Miguel Gamboa (Karl Franzens-Universität, Graz und Universität Wien)


ANMERKUNG

(1) Aus dem Hintergrund einer solchen neuen Dynamik hat Mary Kaldor ihr Friedensmodell aufgebaut. Vgl.: Mary Kaldor: New and Old Wars. Polity Press, Cambridge, 1999.

(2) Vgl.: Héctor Tejera Gaona: Antropología y cultura política en México. In: Héctor Tejera Gaona (Coord.): "Antropología política. Enfoques contemporáneos". Editorial Plaza y Valdez, México D.F., 1996, p. 13 ss.

Auch: Benjamín Schwenn: Lateinamerika und der Begriff der politischen Kultur. S. 47 ff. Die Einführung von Begriffen wie Gedächtnis und Legitimation in der Definition von politischer Kultur ist meine.

(3) Vgl. Gonzalo Sánchez: Memoria, museo y nación, IEPR (u.a.), Bogotá, 2000. Vom selben Autor: Guerras. Memorias e Historia. Bogotá, ICANH, 2003.

(4) Vgl. Miguel Gamboa: Autonomía territotial indígnea. Un caso colombiano. In: Enrique Rodrigues-Moura: "Von Wäldern, Städten und Grenzen", Apsel / Südwind, 2005, Frankfurt a. M. S. 436-454.

(5) Latinobarómero: http://www.latinobarometro.org/

(6) Dieter Nohlen: Demokratie ohne Vertrauen. Herausforderung für die Zivilgesellschaft in Lateinamerika. Internationale Politik u. Gesellschaft, Heft 02, 2004. In: http://www.fes.de/ipg/arc_04_set/set_02_04d.htm

(7) John Holloway: Die Welt verändert ohne die Macht zu übernehmen. Westfälisches Dampfboot, 2.Aufl., Münster 2004.


8.5. ... und Friede auf Erden. Konzepte gewaltfreier Konfliktaustragung in Theorie und Praxis

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For quotation purposes:
Miguel Gamboa (Karl Franzens-Universität, Graz und Universität Wien): Gedächtnis, Gewalt und Globalisierung. Hybridisierungsprozesse der politischen Kultur in Lateinamerika. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/08_5/gamboa16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 31.8.2006     INST