Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Februar 2006 | |
9.1. Erneuerung der literarischen Tradition durch neue Medien |
Naoji Kimura (Regensburg/Tokio)
[BIO]
In die Fragestellung nach der Innovation der Künste ist auch eine praktische Erneuerung der literarischen Tradition durch neue Medien einzubeziehen. Diese ist zwar als solche wenig veränderlich, solange sie auf einer kanonisierten Literaturgeschichte beruht. Aber sie ist inhaltlich mannigfaltig genug und entwickelt sich im Laufe der Geschichte ständig. Dabei erweist sich das Alte vielfach als Stoff für das Neue, indem literarische Themen wie z.B. im "Werther"-Roman oder in der Faustdichtung mit zeitlicher und nationaler Anpassung wiederholt werden. Erneute Übersetzungen bzw. Dramatisierungen oder Verfilmungen gehören ebenfalls dazu. Es gibt z. B. e ine Special Edition für Johann Wolfgang von Goethe mit DVD-Versionen mit "Lotte in Weimar" von Thomas Mann, "Die Leiden des jungen Werther" sowie "Wahlverwandtschaften" von Goethe.
Darüber hinaus wirkt sich ein und dasselbe l iterarische Werk mittels verschiedener Auf- machungen anders aus. So werden beispielsweise Grimms Märchen im Bilderbuch, auf der Bühne, in Tonband und Video-Kassetten sowie CD-ROM immer wieder variiert. Neuerdings versucht der japanische Regisseur Hayao Miyazaki, in seinem Animationsfilm " Die Prinzessin Mononoke" einen mittelalterlichen Geisterg lauben in Japan für eine moderne Problematik der Ö kologie auszuwerten. Die Geschichte ist in einem zweibändigen Bilderbuch mit dem gedruckten Text nachzulesen. Auch hat der bekannte Filmmacher Kitano Takeshi 2002 einen modern anmutenden Spielfilm "Dolls" gedreht, an dessen Anfang und Ende jedoch das traditionelle Bunraku-Puppentheaterstück mit dem Hauptthema des in Japan beliebten Liebestodes gezeigt wird. Da es ä hnliche Versuche wohl ü berall in Ost und West gibt, gilt es sie im Rahmen einer internationalen Konferenz komparatistisch zu untersuchen.
Wie in vielen anderen Ländern muß also auch in Japan eine alte Theatertradition immer wieder erneuert werden, entweder auf der Bühne selbst oder mit neuen Medien. Es gibt schon einige Kulturfilme, die die Geschichte Japans in Gegenüberstellung der älteren und der neueren Zeit vor und nach der Meiji-Restauration im Jahre 1868 darstellen. Außerdem versucht man seit Jahrzehnten, dem internationalen Publikum speziell die japanische Theatertradition mit den drei Hauptformen No-Spiel, Bunraku und Kabuki durch filmische Wiedergaben näher zu bringen, weil die Aufführungen vor Ort mit hohem Kostenaufwand verbunden sind. Ein Einakter-Film mit dem deutschen Titel "Das Wunder vom Tsubosaka-Tempel" als Muster-beispiel für das Bunraku-Puppentheater gehört dazu und erneuert mit seiner filmischen Technik zu gleicher Zeit die alte Tradition nicht nur in theatralischer, sondern auch in religiöser Hinsicht.
Die Bühnenkunst des Bunraku-Puppentheaters, das kein Marionettentheater darstellt, ist allerdings traditionell festgelegt, so daß sie nicht mehr geändert werden darf. Um deshalb nur kurz auf seine theatralische Gestaltung einzugehen, so werden im Bunraku die Szenen des dramatischen Epengesanges joruri, der von gidayu genannten Rezitatoren vorgetragen und von einer dreisaitigen Laute shamisen begleitet wird, von Puppenspielern veranschaulicht. Faßt man umgekehrt die Puppenführung ins Auge, so heißt die Puppe auf japanisch ningyo und bedeutet hitogata, nämlich die menschliche Gestalt. Bunraku nennt man also auch "Ningyo Joruri". Seit alters glaubte man in Japan, daß die hitogata sowohl im religiösen Ritual als auch im Puppentheater durch die Aufführenden bzw. Darsteller beseelt werde. Das japanische Puppentheater war daher ursprünglich nicht als Kinderspiel gedacht. So diente es also im Bunraku der künstlerischen Darstellung einer anspruchsvollen dramatischen Handlung.
Hinsichtlich des Puppentheaters ist denn auch ein vergleichendes Studium recht interessant. Besteht doch in der deutschen Literatur eine lange Tradition vom Faust-Puppenspiel bis zum Kasperle-Theater. Von literaturtheoretischer Bedeutung ist insbesondere Heinrich von Kleists programmatischer Essay "Über das Marionettentheater". Es liegt sehr nahe, diesen deutschen Dramatiker und den größten Textdihter des Bunraku, Chikamatsu Monzaemon (1653-1724), zum Vergleich heranzuziehen. In der Auffassung vom Unbewußten in der Kunst, wie es im Marionettentheater-Essay hervorgehoben wird, ist dessen innere Verwandtschaft mit dem Bunraku deutlich erkennbar. Daß drei Puppenspieler jeweils eine Puppe für das Publikum sichtbar und wie aus einer Seele manipulieren, ist gewiß bühnentechnisch einmalig in der Theatergeschichte.
Die bekanntesten Joruri-Stücke, die im Bunraku-Puppentheater gespielt werden, stammen in der Tat meist von dem bedeutenden Dramatiker Chikamatsu Monzaemon. Im Repertoire des Bunraku befindet sich aber ein beliebtes Stück relativ neuen Datums: "Das Wunder vom Tsubosaka-Tempel" oder "Tsubosaka-Kannon-Reigenki", d.h. etwa das Wunder der Tsubosaka-Kannon. Es wurde erst im Jahre 1875 von Kako Chiga, der Ehefrau des Shamisen-Meisters Toyosawa Danpei geschrieben und gelangte mit der von Danpei komponierten Begleitmusik im Jahre 1887 zur Uraufführung im Bunraku-Puppentheater in Osaka. Mit gewisser Bearbeitung fand das Puppenspiel im Frühling 1893 auch Aufnahme in das Kabuki-Theater. Ursprünglich wurden etwa die Hälfte der Stücke im Repertoire des Kabuki für das Puppentheater geschrieben. Beim "Tsubosaka-Kannon-Reigenki" geht es letzten Endes um eine der Wundergschichten, die auf einer langen Traditin im volkstümlichen Buddhismus in Japan beruhen. Da das Stück aber von einem menschlichen Drama mit einem Liebesmotiv ausgeht, ist es ein modernes "Sewamono", d.h. Zeitstück zu nennen.
Bekanntlich besteht das Repertoire des Bunraku-Puppentheaters aus zwei Kategorien: sewamono und jidaimono. Beim ersteren handelt es sich um Stücke, die dem zeitgenössischen Alltagsleben der Bürger entnommen sind, und beim letzteren, das entstehungsgeschichtlich älter ist, um Heldengeschichten in der Vergangenheit.(1) Im bürgerlichen Leben spielt natürlich die Liebesaffäre mit ihren mannigfaltigen Schikanen eine zentrale Rolle und endet vielfach mit dem tragischen Tod der Liebenden. Während das berühmt-berüchtigte "Harakiri", eigentlich "Seppuku", eine Sache des Samurai-Standes war, gilt der Liebestod "Shinju" gewöhnlich als eine Tragödie des Bürgertums im japanischen Sinne. Einen durchschlagenden Erfolg erzielte denn auch Chikamatsu Monzaemon im Jahre 1703 mit seinem Stück "Sonezaki-Shinju". In der meist positiven Einschätzung des Liebestodes, zumindest in der einfühlenden Teilnahme daran spiegelt sich die traditionelle Auffassung der Japaner von Leben und Tod wider. In einem katholischen Kreis in Deutschland hieß es einmal überraschenderweise, Heinrich von Kleists Liebestod sei als doppelte Todsünde zu betrachten, weil er zuerst seine schwer kranke Geliebte Henriette Vogel mit der Pistole tötete und dann Selbstmord beging. Die psychischen und gesellschaftlichen Beweggründe, die überhaupt zum Liebestod von Mann und Frau führen, sind in Ost und West sicherlich grundverschieden, zumal religiös-moralische Voraussetzungen hier und dort anders sind.
Die Geschichte vom "Tsubosaka-Kannon-Reigenki", die als ein Shinju-Stück mit nicht tragischem, also glücklichem Ausgang anzusehen ist, spielt sich um einen alten Tempel der Shingon-Sekte ab, der auf dem Tsubosaka-Berg in der Provinz Nara steht. Es handelt sich dabei um den sechsten der 33 Wallfahrtsorte im westlichen Japan, die alle für die Kannon-Verehrung eingerichtet sind. Zum heiligen Gegenstand hat der Tsubosaka-Tempel die sogenannte Senju-Kannon, eine buddhistische Gottheit der Barmherzigkeit mit tausend Händen oder Armen. Das System der buddhistischen Gottheiten ist so kompliziert wie die Dämonologie in der christlichen Theologie, und ein Laie in der Indologie weiß nicht genau, was es bedeutet, daß Kannon bzw. Kanzeon Avalokitésvara einer der Bosatsu Bodhisattva sei. Nach einer populären Darstellung der östlichen Mythologie wird das Stichwort "Kwannon" in deutscher Sprache wie folgt erklärt, wobei es von Anfang an im Femininum steht:
"Kwannon oder Kannon ist im japanischen Buddhismus das personifizierte Mitgefühl. Sie ist die japanische Form von Guan Yin, die ihrerseits vom indischen Bodhisattva stammt. Kwannon wurde erst in jüngerer Zeit zur Frau umgedeutet. Als Bodhisattva bzw. Bosatsu hat sie beschlossen, so lange wieder geboren zu werden, bis alle Wesen Erleuchtung gefunden habe [ sic!]. Sie gilt als 'Gute Frau, die den Kinderwunsch erfüllt’ und als Patronin der Frauen und Kinder. Sie soll aus einem Lichtstrahl entstanden sein, den Buddha Amitabha aussandte. Es gibt auch eine pferdeköpfige Form und eine mit unzähligen Armen. Die Tradition lässt Kwannon 33 Formen annehmen, die an 33 verschiedenen Pilgerorten verehrt werden."(2)
Diese Erklärung ist insofern sehr einleuchtend, als die Erfüllung des Kinderwunsches durch eine Kannon in den japanischen Volksgeschichten weit verbreitet ist. Die zur noch mittelalterlichen Yoshitsune-Legende gehörende Geschichte von der Prinzessin Joruri-hime, von der das Joruri-Puppenspiel geschichtlich seinen Anfang genommen hatte, erwies sich bereits als eine Liebestragödie mit einem solchen Beginn. In der "Joruri-monogatari" bekam ein vornehmes Ehepaar in Wunsch-erfüllung seines inständigen Gebetes an die buddhistische Gottheit Yakushi-Nyorai endlich ein Kind. Es entwickelt sich zu einem wunderschönen Mädchen und wird Joruri-hime genannt, weil es so kristallklar ist wie das reine Paradies im Buddhismus. Sie eignet sich dementsprechend frühzeitig eine hohe buddhistisch-literarische Bildung an. Auf seiner Reise aus Kyoto in den Osten lernt der junge Yoshitsune die schöne Perlendame kennen und verliebt sich auf der Stelle in die Prinzessin Joruri-hime. Trotz der anfänglichen Ablehnung gibt sie sich ihm schließlich für eine Nacht hin. Yoshitsune erkrankt auf seiner Weiterreise und wird halbtot an einer Meeresküste liegengelassen. Sie erfährt sein Unglück durch Hinweise im Traum, gräbt ihn aus dem Sand aus und erweckt ihn mit ihren heißen Tränen wieder zum Leben. Nach seinem erneuten Aufbruch in den Osten wird sie zu Hause von ihrer Mutter verstoßen und stirbt nach dreijährigem Warten auf ihren Geliebten in einem entlegenen Tempel. Yoshitsune rächt sich auf seiner Rückreise nach Kyoto an ihrer Mutter und errichtet für die tote Joruri-hime ein Grab.
Was das moderne Sewamono-Stück "Tsubosaka-Kannon-Reigenki" von dieser tragischen, zumindest unglücklichen Liebesgeschichte unterscheidet, besteht darin, daß es mit einem legendären Happy End ausläuft, das einzig auf die Barmherzigkeit der Kannon-Gottheit zurückzuführen ist. Äußerlich sieht es dann wie ein Wunder in der christlichen Marienfrömmigkeit aus. Auch wenn Kannon im streng buddhistischen Sinne ein männliches Wesen ist, trägt er bei seiner Erscheinung wie ein deus ex machina weibliche Züge und sieht für einen europäisch ausgerichteten Japaner wie eine Mutter Gottes aus, die in der japanischen Geschichte als "Maria-Kannon" bekannt ist. Wurden doch in der Edo-Zeit aus China weibliche Figuren der Kannon aus Porzellan eingeführt, die dann von den japanischen Kryptochristen im Sinne der Honjisuijaku-Lehre als Maria heimlich verehrt wurden. Nach der buddhistischen Lehre erschien der eine Buddha in mannigfaltigen Göttern der japanischen Naturreligion "Shinto". Auch in der Entstehungsgeschichte der musischen Göttin Benzaiten spielt übrigens die Kannon vom Berg Haguro in der Provinz Echigo eine hinweisende Rolle.
Rein formal hat das Bunraku-Puppentheaterstück hinsichtlich der Wunscherfüllung seine Vorgeschichte wie schon in der "Joruri-monogatari". Unmittelbares Vorbild für "Tsubosaka-Kannon-Reigenki" dürfte vor allem die sogenannte "Hasedera-Reigenki" um den Tempel Hase in der Provinz Yamato-no-Kuni, also nicht von Kamakura, aus dem 13. Jahrhundert gewesen sein. Es handelt sich hierbei um lauter Wundergeschichten einfacher Leute, deren diesseitsgerichtete verschiedene Wünsche durch inniges Beten an die Hase-Kannon erfüllt werden. Diese irdischen Wünsche beziehen sich vorwiegend darauf, daß die Unglücklichen gerne glücklich werden möchten. So gibt es volks-tümliche Geschichten von Leuten, die durch das Zuteilwerden von Ehefrau oder Ehemann unerwartet glücklich werden oder auf eine wunderliche Weise reich werden. Ein bekanntes Beispiel ist die in der Konjaku-monogatari (Bd. 16, 28) enthaltene Geschichte des sogenannten "Warashibe-Choja", d.h. des steinreichen Mannes, der mit einer Spreu sein Glück machte. Durch einen Hinweis der Kannon im Traum hob er nämlich einen Strohhalm auf und band eine Bremse damit. Ein kleiner Prinz begehrte ihn, und er bekam dafür drei Stück Orangen. Diese tauschte er in drei Stück Tücher um und diese dann in ein Pferd und erwarb schließlich Ackerboden und Haus. Die alten Volksmärchen in Japan sind voll von solchen Arme-Leute-Geschichten.
Der narrative Stoff für "Tsubosaka-Kannon-Reigenki" ist jedoch mit einem religiösen Motiv enger verbunden. Um die Handlung kurz anzugeben: Die fromme Frau Osato ist mit einem blinden Shamisen-Lehrer Sawaichi verheiratet. Sie betet jeden Tag insgeheim vor der Kannon, damit ihr Mann von der Blindheit geheilt werde, aber Sawaichi verdächtigt sie ehelicher Untreue, weil sie immer unbemerkt aus dem Hause geht. Als das Ehepaar nach Beseitigung des Mißverständnisses zusammen zum Tsubosaka-Tempel geht, soll Osato alleine nach Hause gehen, um etwas zu erledigen. Während ihrer Abwesenheit wirft sich Sawaichi in das Tal hinter der Kannon-Kapelle, um seiner Frau nicht mehr mit ihren vergeblichen Bemühungen um seine Sehkraft zur Last zu fallen. Nach der Rückkehr stürzt auch Osato in das Tal hinab, um ihrem Mann in den Tod zu folgen. Vor den halbtoten Eheleuten erscheint aber die Gottheit der Barmherzigkeit Kannon und erweckt sie beide zum Leben. Dabei merkt Sawaichi, daß er sehen kann, und lernt seine Ehefrau erstmals von Angesicht zu Angesicht kennen. So findet das Ehepaar glücklich vereinigt zueinander.
Als Sewamono ist das Stück allerdings mit dem Motiv der durchaus menschlichen Liebe im bürgerlichen Leben innig verwoben. Nach dem Libretto für das Kabuki-Theater ist es klar in drei Szenen gegliedert: 1. die Wohnung von Sawaichi; 2. die Kannon-Kapelle; 3. das Wundergeschehen im Tal, von denen die erste den Schauplatz der häuslichen Verhältnisse zwischen Sawaichi und Osato darstellt. Abgesehen von den Requisiten, die die ärmlichen Verhältnisse ihres Lebens veranschaulichen, ist es die Eigentümlichkeit ihrer Ehe, die eben darin besteht, daß eine tugendhafte brave Frau mit einem Blinden verheiratet ist. Das wird eingangs durch vier Mitglieder einer volkstümlichen religiösen Reisegemeinschaft in einem kurzen Gespräch erzählt. Da Osato eine vorbildliche Frau ist und Sawaichi ehrlich liebt, wünschen sie dem Ehepaar von Herzen das unmöglich erscheinende Glück, daß das Sehvermögen von Sawaichi wiederhergestellt werde, und ziehen, ohne daran kaum zu glauben, zum Tsubosaka-Kannon-Tempel weiter. Theatralisch ist es schon eine antizipierende Andeutung auf das glückliche Ereignis.
Osato war eigentlich Sawaichis Jugendliebe, und sie sind seit drei Jahren verheiratet. Da er aber erblindet ist und dazu noch Spuren von Pocken am Gesicht hat, ist er dauernd deprimiert. Da seine Frau in den letzten drei Jahren früh am Morgen um sieben Uhr vom Schlafzimmer wegbleibt, drängt er sie, die Wahrheit zu sagen, ob sie nicht einen anderen liebe. Angeblich ist er bereit, sich vor seinem Nebenbuhler zurückzuziehen. Durch seine Verdächtigung wird Osato in ihrem weiblichen Stolz tief verletzt und macht eine verbrämte Liebeserklärung, sie sei doch von klein auf mit dem um drei Jahre älteren Sawaichi zusammen aufgewachsen. Sie gehe seit drei Jahren jeden Morgen mit sieben Glockenschlägen weit hinaus in die Berge, um vor der Kannon-Kapelle für seine Heilung zu beten. Sie sei jedoch allmählich verzweifelt, da ihre fleißigen Wunschgebete nicht in Erfüllung gehen wollten. In Wirklichkeit ist sie durch seinen Zweifel an ihrer treuen Liebe gekränkt, und Sawaichi bittet sie um Vergebung.
Dies allein würde sich freilich als eine bürgerliche Flirtgeschichte von Mann und Frau erweisen. Aber in der zweiten Szene geht die scheinbar menschliche Liebesgeschichte zur Frömmigkeitgeschichte über, indem sich das Ehepaar Hand in Hand als Pilger zur Kannon-Kapelle im Gebirge begibt. Dieser heilige Ort ist seit Jahrhunderten besonders durch seine heilbringende Kraft für die Augenkrankheiten bekannt gewesen. Unterwegs verhalten sich Sawaichi und Osato wieder wie ein glückliches Liebespaar und ermuntern sich durch religiöse Lieder und Gespräche. Hier erfindet aber Sawaichi auf dem Höhepunkt seines Lebensgefühls eine Ausrede, um allein zu sein, und schickt Osato den Berg hinunter, damit sie während seines angeblichen dreitägigen Fastens zu Hause etwas erledigen kann. In Wahrheit wollte er sich von seiner Frau verabschieden und aus der Welt gehen, um sie von ihren mühsamen täglichen Gebeten ohne Aussicht der Wunscherfüllung zu befreien. So wirft er sich mit dieser opferbereiten Gesinnung ins Tal hinab.
In der dritten Szene kommt Osato mit dunkler Ahnung stolpernd zurück und findet Sawaichi nicht. Sie erinnert sich an seine andeutenden Worte und findet ihn in dem vom Mond beschienenen Talgrund tot liegen. Sie bereut, daß sie ihren blinden Mann leichtsinnig allein gelassen hat, und denkt an ihr von der Vorwelt bestimmtes Schicksal, von ihrem fest gebundenen Ehemann lebend getrennt zu werden. Aber ein solches Leben hat für sie keinen Sinn mehr. Mit der Hoffnung, in der Nachwelt mit Sawaichi irgendwann wieder vereinigt zu werden, stürzt sie als treue Ehefrau, die nie wieder heiratet, ins Tal hinab. Da erscheint vor dem tot geglaubten Ehepaar die Kannon von Tsubosaka fast in der schönen Gestalt der glückbringenden Göttin Kichijoten oder Kisshoten, und ein himmlischer Knabe neben ihr verkündet: "Sawaichi, Dein Karma, Deine Erbschuld aus der Vorwelt war noch nicht entsühnt, deshalb mußtest Du erblinden. Außerdem waren Euer beider Lebenstage bis heute ausgezählt. Aber wegen Deiner Ehefrau Treue und täglicher Frömmigkeitsübungen soll Euer Leben noch verlängert werden. Wohlan, Ihr sollt Euch noch fleißiger Frömmigkeitsübungen hingeben, 33 Wallfahrtsorte nacheinander besuchen und dem Erbarmen Buddhas dankbar verbunden bleiben."
Nach dem Verschwinden der Kannon bemerkt der auferwachte Sawaichi in der Morgendäm-merung, daß er sehend geworden ist, und erblickt Osato, die auch erwacht, zum erstenmal in seinem Leben. Verwundert fragt er Osato, wer sie sei, worauf sie sich als seine Ehefrau zu erkennen gibt und ihm über das Geschehene berichtet. In der komisch wirkenden Wechselrede teilt sich die Freude der beiden mit und löst im Publikum ein mitfühlendes Lächeln aus. Der von der Blindheit Geheilte bedankt sich bei seiner Frau für ihre treue Liebe, ihm bis in den Tod zu folgen. Auf diese Weise lernen sie einander erneut kennen und freuen sich über das ihnen zuteil gewordene Lebensglück. Auf dem Nachhauseweg ist Sawaichi auf einem Steg überrascht, ein Ungeheuer im Wasserspiegel eines Flusses zu erblicken, da er sich selbst noch nie gesehen hat. Osato überzeugt ihn lachend davon, daß das sein eigenes Bild ist. So begeben sich die beiden überaus frohen Mutes gleich auf die Pilgerschaft.
Über diese Deutung hinaus darf man wohl einen Text für das Bunraku-Puppentheater nicht überinterpretieren. Es handelt sich hierbei auf jeden Fall um eine alte fromme Geschichte, die als solche junge Leute im Zeitalter des Internet nicht mehr interessieren würde, ohne zumindest mittels filmischer Effekte vor Augen geführt zu werden. Für einen Goethe-Forscher ist aber die buddhistische Gottheit der Barmherzigkeit Kannon ansonsten von besonderer Bedeutung. Denn Hellmuth Sudheimer, der vor dem Zweiten Weltkrieg als Lektor in Sendai, Japan, tätig war, hat einmal in seinem Bericht über die Goethe-Forschung in Japan die wissenschaftlichen Leistungen des großen Goetheforschers Kinji Kimura besprochen und folgendes hervorgehoben: "Er betrachtet Goethe vom Standpunkt der buddhistischen Kwannon-Lehre aus (Kwannon: die Gottheit der Gnade und Barmherzigkeit). Er bemüht sich, Goethe von der Einstellung des Japaners aus zu erforschen."(3)
Es ist hier nicht der Ort, die Goetheforschung Kinji Kimuras zu würdigen und seine scheinbar buddhistische Auffassung von Goethes Werken, insbesondere von der Faustdichtung zu überprüfen. Es gibt schon eine gründliche Arbeit darüber. (4) Aber äußerlich bestehen in der Tat gewisse Ähnlichkeiten zwischen Goethes Dichtung und dem Joruri-Stück "Tsubosaka-Kannon-Reigenki". Man kann nämlich nicht umhin, im Hinblick auf den Erzählstoff sich an Goethes Ballade "Der Gott und die Bajadere" zu erinnern. In der Vermeidung des Liebestodes stellt sich dann eine menschliche Haltung ein, wie sie bei Goethe in seiner Umdeutung von Aristoteles' Begriff der "Katharsis" zutage tritt. Obwohl sich alles in Goethes Dichtung auf höherer Ebene bewegt, soll einmal versucht werden, im komparatistischen Sinne auf äußere Ähnlichkeiten und innere Unterschiede hinzuweisen.
In der Ballade "Der Gott und die Bajadere", die auf einer indischen Legende beruht, geht es darum, daß Mahadöh, der Herr der Erde, zum sechsten Mal vom Himmel herabkommt und in menschlicher Gestalt durch die Städte geht, um die Menschen zu betrachten. So besucht er auch eines Abends in einem Freudenhaus ein schönes, verlorenes Mädchen, eben eine Bajadere, die in die unterste fünfte Kaste gehört. Durch die Begegnung mit dem göttlichen Wandrer erwacht in ihr echte Liebe. Am nächsten Morgen findet sie den vielgeliebten Gast an ihrem Herzen tot. Die Lehre der Priester bei der Feuerbestattung lautet, sie hätte keine Pflicht, dem Jüngling in den Tod zu folgen, da er kein Gatte von ihr gewesen sei. Das Unerhörte ereignet sich aber:
So das Chor, das ohn' Erbarmen
Mehret ihres Herzens Not;
Und mit ausgestreckten Armen
springt sie in den heißen Tod.
Doch der Götterjüngling hebet
Aus der Flamme sich empor,
Und in seinen Armen schwebet
Die Geliebte mit hervor. (5)
Äußerlich ähnlich ist, daß eine Frau, durch eine neu erwachte treue Gattenliebe getrieben, ihrem Geliebten in den Tod folgt und auf eine übernatürliche Weise gerettet wird. Aber abgesehen davon, daß in Goethes Ballade keine religiöse Vorstellung von Karma vorausgesetzt ist, sieht die moralische Lehre, die vom deutschen Dichter der klassischen Zeit erteilt wird, ganz anders aus. Denn im Anschluß an die zitierten Verse heißt es: "Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;/ Unsterbliche heben verlorene Kinder/ Mit feurigen Armen zum Himmel empor." Es ist also kein Happy End im menschlichen Sinne, wie es beim Puppentheaterstück "Tsubosaka-Kannon-Reigenki" eintritt, sondern im klassisch-humanen Sinne einer Erhöhung des Menschlichen durch die Begegnung mit dem Göttlichen.
Mit der Tendenz im modernen Sewamono, der Tragik eines Liebestodes aus dem Weg gehen zu wollen, verhält es sich ähnlich. Darin zeigt sich m.E. gewissermaßen Goethes Versuch, Aristoteles' Definition der Tragödie untragisch umzudeuten. Er sagt in seinem Aufsatz der Spätzeit "Nachlese zu Aristoteles' Poetik": "Wenn sie [eine Tragödie] durch einen Verlauf von Mitleid und Furcht erregenden Mitteln durchgegangen, so müsse sie mit Ausgleichung, mit Versöhnung solcher Leidenschaften zuletzt auf dem Theater ihre Arbeit abschließen"(6). Auf diese Weise versteht er unter Aristoteles' Begriff von "Katharsis" eine solche aussöhnende Abrundung. Im "Tsubosaka-Kannon-Reigenki" dienen Schilderungen vor und nach der Rückkehr der beängstigten Osato zur Kannon-Kapelle als derartige "Mitleid und Furcht erregende Mittel", auch wenn sie fast nur angedeutet werden. Die "aussöhnende Abrundung" wird dann durch die Erscheinung der Kannon gleichsam wie in der Gestalt von Maria-Kannon herbeigeführt. Aber in seiner "Faust"-Tragödie ließ Goethe das arme Gretchen trotz allem hinrichten, obwohl sie vor der Mater dolorosa inständig gebetet hatte.
Es fragt sich ferner, ob der Umstand, daß der mit dem Karma behaftete Sawaichi durch eine Frau von seinem Schicksal erlöst wird, im Denkansatz mit dem bekannten Schluß des Faust II etwas zu tun hat. In der deutschen Literatur haben es die Männer fast immer besser, wenn sie durch Frauen oder zumindest durch das "Ewig-Weibliche" gerettet werden, während die Frauen meist von den Männern auf diese Welt herabgezogen zu werden scheinen. An dieser Stelle ist allerdings von einem Geschlechterkonflikt, -streit oder gar - krieg wie im feministisch ausgerichteten Diskurs für den jüdisch-, christlich- und islamischen Kulturbereich keine Rede.(7) Es geht vielmehr darum, welche Rolle Mann und Frau im religiösen Selbstverständnis des japanischen Buddhismus spielen. Im modernen Sewamono des Bunraku-Puppentheaters geht das durch Kannon gerettete Ehepaar Hand in Hand glücklich und fröhlich auf die Pilgerschaft. Asketische Übungen stehen nicht mehr im Vordergrund wie im Mittelalter, sondern die Gattenliebe gilt als eine von Kannon gesegnete menschliche Gabe.
Dagegen mußte in der "Joruri-Monogatari" die Prinzessin Joruri-hime wohl als Nonne vergeblich auf den geliebten Yoshitsune warten, nachdem sie ihn liebevoll aus dem Meeresstrand zum Leben erweckte hatte. Der Weg zu Buddha scheint im Klosterleben für Mann oder Frau noch Allein-gang gewesen zu sein. Aber jetzt in der neueren Zeit können die Eheleute gemeinsam 33 Wallfahrts-orte besuchen, um die Gottheit der Barmherzigkeit Kannon anzubeten. Nicht nur an der Vermeidung der unglücklichen Liebe bzw. des Liebestodes Shinju, sondern auch an diesem Lobpreis auf das fromme Eheglück im "Tsubosaka-Kannon-Reigenki" könnte man wohl einen inneren Wandel des bürgerlichen Zeitalters von der Edo- zur Meiji-Zeit feststellen. Der Mensch steht immer stärker und diesseitig orientierter im Mittelpunkt der säkularisierten Welt. Thomas Immoos schrieb mit Recht: "Selbst wenn religiöse oder überirdische Stoffe aus der älteren Tradition aufgenommen werden, geht die überirdische Dimension verloren."(8)
Der japanische Text ist ansonsten sprachlich noch altmodisch. Bei der Erscheinung von Kannon wird die weibliche Gestalt dieser Gottheit vergleichsweise mit dem sino-japanischen Wort "Joro" ausgedrückt. Es bedeutet eine schön gekleidete edle Hofdame. Die Erscheinung wird zudem mit himmlischer Musik begleitet. Deshalb mischt sich in die Assoziation an die Göttin Kichijoten gleichfalls die Vorstellung von der musischen Göttin Benzaiten, von der aber heutzutage unter dem japanischen Publikum schwerlich eine weitere Assoziation an die christliche Maria-Kannon hervorgehen wird. Im Bunraku-Puppentheater hat man es im Grunde mit der rein ostasiatischen Tradition zu tun, die faktisch nur durch neue Medien für ein internationales Publikum visuell gemacht und so am Leben erhalten werden kann.
© Naoji Kimura (Regensburg/Tokio)
ANMERKUNGEN
(1) Vgl. Thomas Immoos: Japanisches Theater. Orell Füssli Verlag. Zürich 1975, S. 108.
(2) Die Enzyklopädie der östlichen Mythologie. Genehmigte Lizenzausgabe EDITION XXL Reichelsheim 2000, S. 208.
(3) Vgl. Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft. Bd. 3, Weimar 1938, S. 101.
(4) Vgl. Takeo Ashizu: Buddhistische Faust-Rezeption in Japan. In: Studien des Instituts für die Kultur der deutschsprachigen Länder, Nr. 8, Sophia-Universität, Tokyo 1990, S.44-58.
(5) Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 1, S. 276.
(6) Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 12, S. 343.
(7) Vgl. Vera Zingsem: Lilith. Adams erste Frau. Reclam Verlag. Leipzig 2000.
(8) Th. Immoos, a.a.O., S. 105.
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