Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

10.1. Innovationen in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL)
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Tamara Bučková (Prag)

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Nationalsozialismus in der zeitgenössischen Kinder-und Jugendliteratur. Historische Realität und Fiktion am Beispiel von Miriam Presslers "Malka Mai"

Thomas Haupenthal (Pädagogische Fakultät der Karlsuniversität Prag, Lehrstuhl für Germanistik)
[BIO]

 

Die Autorin und ihr Werk

Miriam Pressler (geb. 1940) erzählt uns die Geschichte eines kleinen jüdischen Mädchens, das während des Zweiten Weltkrieges in die Mühlen der Deportation gerät und auf vielen Wegen und Abwegen überlebt. Miriam Pressler erwähnt in einer Nachbemerkung zu ihrem Buch, dass sie ihre Geschichte nach einer wirklichen Begebenheit erzählt habe. Ihre Heldin, Malka Mai, gelang es tatsächlich zu überleben, und noch während des Krieges, 1944, nach Palästina bzw. Israel auszuwandern, wo Miriam Pressler sie 1996 traf. Die Autorin gibt jedoch einschränkend zu, dass die Geschichte "weitestgehend fiktiv" sei, da sich Frau Mai nur noch an "wenige Eckpunkte erinnert" und "diese sehr schwere Zeit verdrängt"habe.(1)

Wir schreiben 1943. Die siebenjährige Malka lebt mit ihrer Mutter Hana und ihrer großen Schwester Minna in Lawoczne, einem kleinen Ort in Südostpolen. Nach dringenden Warnungen, dass eine "Aktion" also eine Deportation, bevorstehe, entschließt sie sich zur Flucht ins nahe Ungarn. Jenseits der Grenze schließen sie sich einer Gruppe von Flüchtlingen an, die nach Budapest gelangen wollen, aber Malka erkrankt und Hana muss ihre Tochter in Pilipiec, in der Obhut des Müllers und Fluchthelfers Chaim Kopolowiciz urücklassen. Zwischenstation der Flucht soll Munkatsch/Mukačevo im Inneren der Karpato-Ukraine sein und Kopolowici verspricht Hana, Malka nach ihrer Genesung mit dem Zug dorthin zu bringen. Er hält jedoch sein Versprechen nicht. Er setzt Malka am Ortsrand von Pilipiec aus und überlässt sie ihrem Schicksal. Binnen kurzem wird Malka entdeckt und von der ungarischen Gendarmerie nach Polen zurückgebracht.

Sie überlebt. Das Ghetto, den Hunger, die Verfolgungen. Sie lernt, genau zu hören und zu sehen, sie erfährt, dass im Kampf ums Überleben viele Regeln nicht mehr gelten, sie sieht den Tod und findet doch auf wundersame Weise Menschen, die sich ihrer annehmen, sie verstecken und sie mit dem Nötigsten versorgen. Am Ende trifft sie ihre Mutter wieder. Die Erzählebenen des Buches wechseln hin und her, von Ungarn nach Polen und wieder zurück.So erfahren wir, wie Malka immer wieder mit knapper Not dem Tod entrinnt und wie ihre Mutter sich von Budapest aus, gequält von ihrem Gewissen, auf den gefahrvollen Rückweg nach Polen macht um ihre Tochter zu finden. Mutter und Tochter werden nie mehr dieselben Menschen sein, wie zu Beginn der Flucht, aber sie haben sich gefunden...So könnte es gewesen sein. War es so? Die Fiktion darf alles. Der Historiker liest die Fabel, berufsbedingt, anders. Könnte es so gewesen sein? Bewegt sich die Geschichte im Rahmen des historisch Möglichen?

 

Der historische Hintergrund

Wie stellte sich die politische Situation in diesem Teil Europas 1943 dar? Polen ist besetzt und aufgeteilt. Ein Teil seines Vorkriegsterritoriums, Pomerellen, an Ostpreußen angrenzende Gebiete, das polnische Oberschlesien, die westpreußischen Gebiete um Torún und Bydgoszcz, zu deutsch Thorn und Bromberg und die als "Warthegau" bezeichnete Region um Ł odz, das in "Litzmannstadt" umbenannt wurde, wurde nach der militärischen Niederlage im Oktober 1939 direkt an das Deutsche Reich angeschlossen; die polnische Bevölkerung wurde von dort vertrieben. Süd- und Zentralpolen wurde zum sog. "Generalgouvernement" unter dem vormaligen "Reichsrechtsführer"Hans Frank und zum Schauplatz deutscher Rassen- und Ausrottungspolitik.

Ostpolen mit Brest-Litowsk und Lwiw (Lwow, Lemberg) fiel 1939 an die Sowjetunion, wurde aber 1941, nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR, z.T. dem Generalgouvernement angegliedert.

Auch südlich der ehemaligen polnischen Grenze hatten sich die politischen Verhältnisse verändert. Die Tschechoslowakei war verschwunden, an ihre Stelle waren das deutsch besetzte"Protektorat Böhmen und Mähren"und eine von Deutschland abhängige und unter deutschem"Schutz"stehende klerikal-faschistische " Slowakische Republik " unter dem Präsidenten Josef Tiso getreten. Der deutsche Schutz war in diesem Fall allerdings etwas mehr als eine Phrase, denn die Slowakei hatte, als "Oberungarn"bis 1918 zu den Ländern der Stefanskrone gehört und war seitdem das Ziel ungarischer Revisionsansprüche. Schon im November 1938 hatte der sog."Erste Wiener Schiedsspruch" Ungarn die ungarisch besiedelten Gebiete der Südslowakei zugeschlagen und Hitler hatte Tiso am 14. März 1939 gedrängt, sofort die Unabhängigkeit ausrufen zu lassen, anderenfalls sich das Deutsche Reich "am weiteren Schicksal der Slowakei desinteressiert zeigen" würde. Tiso und der Slowakische Landtag kamen dieser deutschen Aufforderung einen Tag später nach und konnten so für die Mittel-und Ostslowakei eine - natürlich eng begrenzte- Autonomie erhalten. Die Karpato-Ukraine jedoch, der östlichste Teil der ehemaligen Tschechoslowakei, der gleichfalls die Unabhängigkeit proklamiert hatte, wurde bis zum 18.März 1939 von Ungarn annektiert. Ungarn erhielt so eine gemeinsame Grenze mit Polen und ab Herbst 1939 mit dem Generalgouvernement.

 

Die Lage der Juden in Ungarn 1943/44

Auch im Jahre 1943 gab es für die jüdische Bevölkerung Europas noch Schutzinseln und Fluchtmöglichkeiten. Nicht alle Verbündeten Deutschlands unterstützten die Vernichtungspolitik der Nazis offiziell, noch reichte Eichmanns Arm nicht überall hin. In Italien und den italienisch besetzten Gebieten konnten sich Juden, trotz einer von Deutschland inspirierten antisemitischen Gesetzgebung, vielerorts noch bis ins Jahr 1943 hinein sicher fühlen. Finnland widersetzte sich den deutschen Vernichtungswünschen, Bulgarien weigerte sich, seine jüdischen Staatsbürger auszuliefern (den staatenlosen Juden in Thrakien und Mazedonien half das allerdings wenig). In Rumänien unterliefen die Korruption oft die Grausamkeit der Verwaltung. Die ungarische Regierung war autoritär und pro deutsch, aber noch mochten sich die hiesigen Juden in einer schwankenden Sicherheit wähnen. Trotzdem mehrten sich schon in den Jahren 1941 und 1942 die Warnzeichen: ein antijüdisches Gesetz untersagte die Eheschließung zwischen Christen und Juden und seit August 1941 wurden zwischen 25000 und 30000 Juden aus der Karpatoukraine wegen "Unklarheiten in der Staatsbürgerschaft" ins Generalgouvernement abgeschoben und dort ermordet. Der deutsche Druck auf die ungarische Regierung, ihre Judenpolitik der nationalsozialistischen Praxis anzupassen, wuchs im Laufe des Jahres 1943. Am 17. März 1944 musste der ungarische Reichsverweser Horthy einer Regierungsumbildung im nationalsozialistischen Sinn zustimmen. Zwei Tage später besetzten acht deutsche Divisionen das Land, in ihrem Gefolge SS und SD. Jetzt brach die Katastrophe über die ungarischen Juden herein: Bis Anfang Juli 1944 wurden unter der Befehlsgewalt und Oberaufsicht von Adolf Eichmann und mit der bereitwilligen Hilfe ungarischer Kollaborateure über 450.000 Juden in die deutschen Vernichtungslager nach Polen deportiert, eine Aktion, die selbst die Auflösung des Warschauer Ghettos im Sommer 1942 übertraf.

Trotzdem entkamen geringe Teile der jüdischen Bevölkerung dem Holocaust. Die wirkliche Malka Mai konnte Ungarn, wie die Verfasserin angibt, noch 1944 mit der Jugend-Alijah verlassen. Damit war ihr ein seltenes Glück beschieden, denn von 1942 bis 1944 gelang lediglich etwa 2500 polnischen Juden die Flucht nach Ungarn, sei es in die Karpathen-Ukraine, (viele der 110.000 Juden in der Karpaten-Ukraine, - 15% der Gesamtbevölkerung dieses Gebietes- gehörten der örtlichen Untergrundbewegung an) sei es über die Slowakei.(2) Darunter waren auch jüdische Kinder aus polnischen Ghettos.(3) Wer von dort nach Erez Israel, ins Heilige Land, weiterreisen wollte, stieß auf weitere Hindernisse. Die britische Mandatsmacht in Palästina hatte die Einwanderung 1939 faktisch gestoppt und entschloss sich erst 1943 zu einem Kurswechsel. Die Briten erlaubten nunmehr jedem jüdischen Flüchtling, der Istanbul erreichte, die Weiterreise nach Palästina.(4) (Die illegale Einwanderung war in der Zwischenzeit natürlich ebenso weitergegangen) In Istanbul unterhielt die Jewish Agency ein Büro, das Schiffstransporte über rumänische Häfen organisierte. Die Reise war nicht ungefährlich. Im August 1944 wurde beispielsweise ein türkischer Motorsegler mit 320 Flüchtlingen an Bord von einem sowjetischen U-Boot versenkt.(5) es gab nur fünf Überlebende.

Zu dieser Zeit hatte der ungarische Reichsverweser Horthy die Deportationen auf internaionalen Druck zwar bereits gestoppt, aber waren die meisten ungarischen Juden waren bereits nach Polen verschleppt und tot. Einige Zehntausend erhielten im Herbst 1944 lebensrettende schwedische und Schweizer Schutzpässe, aber der verzweifelte Versuch zionistischer Organisationen, ihre Glaubensgenossen in direkten Verhandlungen mit der SS freizukaufen, war größtenteils gescheitert. 600 Juden, die von jüdischer Seite zu bestimmen waren, wurde die Ausreise nach Palästina zugesagt, außerdem sollten, gegen ein Kopfgeld von 10 Mio. Pengö (damalige ungarische Währung) 100 weitere hinzugefügt werden(6). Die Familie Weiss, Besitzer in des größten ungarischen Stahlwerkes, konnte sich die Flucht nach Portugal erkaufen, während die jüdischen Verhandler des "Blut-gegen-Lastwagen"-Projektes samt anderer ausgewählter Passagiere am 30.Juni einen Zug in Richtung Schweiz besteigen konnten.(7) Auch Malka Mai konnte, irgendwie und irgendwann, vielleicht noch im Frühjahr 1944, durch dieses ungarische Nadelöhr entkommen.

 

Malka in Polen

Haben wir in den vorstehenden Zeilen die Überlebensaussichten der wirklichen Malka Mai untersucht, so wenden wir uns jetzt der - weitgehend - fiktiven Malka zu, von dem Moment an, in dem sie nach Polen zurückgebracht wird. Ihr Überleben verdankt sie der eigenen Zähigkeit und vielen namenlosen Helfern. Manche nehmen sie an die Hand und entführen sie aus einer gefährlichen Situation, manchmal reicht aber auch ein Apfel oder ein Butterbrot, um sie am Leben zu halten.Im Krankenhaus wird sie gesund gepflegt und hilfreiche Bekannte von früher helfen ihrer Mutter Hana bei der gefährlichen Suche nach ihrer Tochter. All diese Menschen wird es in der Realität gegeben haben, selbst unter den unmenschlichen Bedingungen im besetzten Polen der frühen vierziger Jahre. Reichlich sind die Beweise der Selbstlosigkeit, die die unterdrückten Polen den zum Tode bestimmten Juden erwiesen. Die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Washem zählt 5874 Polen zu den "Gerechten unter den Völkern", ein Viertel aller Menschen, die bisher zu Lebzeiten oder posthum diesen Ehrentitel erhielten. Diese Menschen versteckten ihre jüdischen Mitbürger unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Sie arrangierten als Polizisten die Bestechung von Gestapobeamten, um Juden die Flucht zu ermöglichen, sie schmuggelten jüdische Kinder auf die "arische" Seite des Warschauer Ghettos. Aber es gab auch unter der polnischen Bevölkerung eine weit zurückreichende Tradition des Antisemitismus, die langsam wieder öffentlich diskutiert wird, zuletzt anlässlich der Erinnerung an die Ereignisse von 1941 in Jedwabne. In dieser nordostpolnischen Kleinstadt sollen am 10. Juli 1941 Polen 1600 Juden getötet haben. Diese Zahl nannte der in den USA lebende Historiker und Soziologe Jan Tomasz Gross in seinem im Jahr 2000 erschienenen Buch: "Neigbors: The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland"(8) und löste damit eine heftige innerpolnische Debatte aus. Es war zudem riskant, wie mancher jüdische Überlebende berichtet, auf polnische Untergrundgruppen zu stoßen, die, wenn sie antisemitisch eingestellt waren, aus den Flüchtlingen die Verstecke der Juden herauszuprügeln suchten. Noch gefährlicher waren aber die sogenannten "Szmalcownicy", die sehr oft mit den deutschen Behörden Hand in Hand arbeiteten. Jan Tomasz Gross erklärt diesen Begriff: "Szmalcownicy´ waren im Okkupationsjargon Leute, die sich an der Erpressung und Denunziation von versteckten Juden bereicherten. Als Phänomen gab es sie in allen größeren Städten, wo die Hitler-Leute Ghettos eingerichtet hatten. Sie vermehrten sich und wurden nach der Liquidation der Ghettos eine Plage, als wenige Juden, denen die Flucht vor der Deportation in Vernichtungslager geglückt war, sich auf der »arischen Seite« verstecken wollten. (...) Manche Szmalcownicy boten den Juden ein Versteck an, um sie dann auszurauben, zu denunzieren oder sogar zu ermorden. Die Führung des Staat e s im Untergrund (panstwo podziemnie = organisierter, gesamtpolnischer Widerstand) bemühte sich, diese Plage zu bekämpfen, indem sie Todesurteile fällte und die Namen der Verurteilten auf den Seiten der Untergrundpresse veröffentlichte, aber besonders wirksam war das nicht. Die Verbrechen der Szmalcownicy wurden nach dem Krieg nicht intensiv verfolgt, auch die Historiker haben diesen Aspekt der Okkupationsgeschichte kaum erforscht. (...)"(9)

Barg also die Flucht schon große Gefahren, so war das Leben in einem Ghetto, zumal für ein Kind, geradezu hoffnungslos. Nach dem Ende der unmittelbaren deutschen Militärverwaltung begann im besetzten Polen eine chaotische Doppelherrschaft deutscher Zivilbehörden und der SS. Beide Seiten verfolgten jedoch das gemeinsame Ziel, die polnische Bevölkerung zu helotisieren und die Juden früher oder später zu vernichten.(10) Mit der Errichtung von Ghettos in allen größeren und kleineren polnischen Städten begann die deutsche Besatzungsmacht im Jahre 1940. Ein von armen Juden bewohnter Stadtteil wurde zum "jüdischen Wohnbezirk" erklärt, die Juden dort zusammengepfercht und das Gebiet anschließend durch Zaun und Mauer abgeriegelt.

Sodann wurde eine jüdische Selbstverwaltung eingesetzt, die aber nur ein Transmissionsriemen der Besatzer sein sollte und nicht in der Lage war, am geplanten Niedergang der Ghettos irgendetwas zu ändern. Die größten dieser Ghettos befanden sich in Warschau (450.000 Einwohner) und Łodz (160.000 Einwohner). Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 sanktionierte die Details der Abschiebung und Ermordung der Juden und unmittelbar danach begann die SS die Bewohner der jüdischen Ghettos in Polen in die Vernichtungslager zu transportieren. Solches geschah auch dem Ghetto von Stryj in Ostgalizien, in dessen jüdischem Krankenhaus Malka gesund gepflegt wird. Seine 30000 jüdischen Bewohner wurden bis Mitte 1943 entweder erschossen oder in das Vernichtungslager Belzec in der Nähe von Lemberg gebracht, ab dem 27. Juli 1943 galt Stryj als "judenfrei". Die Abschiebung in die KZ´s erfolgte dabei hier wie anderswo in mehreren Wellen, da die Juden vielerorts zunächst in der Produktion eingesetzt waren, diese sollte nicht gefährdet werden. Kinder wurden in diesem Zusammenhang einerseits von jüdischer Seite, so weit dies möglich war, weiter sozial betreut und unterrichtet, andererseits waren sie, da "unproduktiv", zusammen mit Alten und Kranken die ersten Opfer von Deportationen und Selektionen.(11)

 

Malka, Alice und die deutsche Kinder und Jugendliteratur

Natürlich haben sich deutsche Kinder- und Jugendbuchschriftsteller nach 1945 auch des Themas"Judenverfolgung und -vernichtung" angenommen.(12) Rüdiger Steinlein gibt in einem Aufsatz aus dem Jahr 1996 einen Überblick über die Entwicklung der diesbezüglichen Literatur bis zu diesem Zeitpunkt(13) und findet dabei Parallelen zur Erwachsenenliteratur, besonders im geteilten Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre: ein Übermaß an "Edelkitsch" und "Zeigefingerliteratur" hier, "selektive Historisierung" des antifaschistischen Kampfes dort. Ziel vieler damaliger Kinder- und Jugendbücher zum Thema sei eine Art "Sinnstiftung" gewesen; Steinlein nennt hier u.a. das 1961 erschienene und heuer in 37. Auflage vorliegende Buch von Hans- Peter Richter "Damals war es Friedrich".(14) Hinzu kommt, dass der Kinder- und Jugendschriftsteller ipso facto für ein besonderes Publikum mit eigenen Rezeptionsvorraussetzungen schreibt. Wie kann man also über dieses ungeheuerliche Thema schreiben, ohne das Publikum zu überfordern oder zu langweilen? Wie geht man mit der historischen Realität um, mit der Tatsache, dass es nur in Ausnahmefällen eine Rettung gab, der Tod aber die Regel war? Steinlein lobt Gudrun Pausewangs Buch Reise im August"(15) als "literarästhetische Innovation"und die Autorin dafür, dass sie "radikal bis an die Grenzen des für ein Jugendbuch zu diesem Thema bisher Üblichen" vorgestoßen sei.(16) und auf manche genretypischen Zuordnungen von Gut und Böse verzichtet habe; wichtiger seien ihr die Beziehungen der potentiellen Opfer in einer extremen Zwangssituation. Es geht um Menschen, die menschlich-allzumenschlich reagieren, nicht anders als Jakob der Lügner, der Mützendieb Roman Frister oder die Mitglieder der Flüchtlingsgruppe, mit der Hana Mai in Ungarn unterwegs ist. Es gibt keine wundersame Wendung wie in "Mutters Courage", keine Tarnung wie für den Hitlerjungen Salomon. Der Heldin, der zwölfjährigen Alice Dubsky bleibt nichts erspart. Als sie in Auschwitz eintrifft, gibt es ihre Welt nicht mehr.Sie wird sterben, aber vor der Schilderung ihres qualvollen Todes macht dieAutorin Halt, lässt ihre Heldin in der Illusion sterben, die Brausen in der Gaskammer erfüllten ihren vorgeblichen Zweck, überlässt es der Leserin und dem Leser die Geschichte zu Ende zu denken Joram Friedmann hingegen überlebt und auch."Malka Mai"bleibt hinter dieser, letztlich unbeschreiblichen, Konsequenz zurück. Der Tod wird meistens nur angedeutet, die Menschen verschwinden einfach, aber auch so ist das Geschehen eindeutig genug. Auch Miriam Pressler lässt das Ende offen, vermutlich wäre gar kein anderer Schluss möglich. Ein neues Leben beginnt, ein anderes Leben, faute de mieux,...

© Thomas Haupenthal (Pädagogische Fakultät der Karlsuniversität Prag, Lehrstuhl für Germanistik)


ANMERKUNGEN

(1) Miriam Pressler: Malka Mai.Weinheim/Basel 2001, Beltz & Gelberg, ISBN 3-407-78594-1, S.323. Ein ähnliches, noch härteres Schicksal von Verfolgung, Flucht und Überleben wiederfuhr dem Lehrer Joram Friedman, dessen Geschichte der israelische Schriftsteller Uri Orlev aufgeschrieben hat. (Uri Orlev: Lauf, Junge, lauf. Übersetzt von Miriam Pressler Weinheim/Basel 2004, Beltz & Gelberg, ISBN 3-407-80949-25-2)

(2) Yehuda Bauer: Anmerkungen zum "Auschwitz- Bericht"von Rudolf Vrba, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Oldenbourg Verlag München, 2/1997, S.298.

(3) Natalia Berger (Hrsg.): Wo sich Kulturen begegnen.Die Geschichte der tschechoslowakischen Juden. Praha 1992, Nakladatelství Mlada Fronta,, ISBN 80-204-0306-X, S. 156 ff.

(4) Martin Gilbert: Israel. A history. London 1998, Black Swan,, ISBN 0-552- 99545- 2, S.115.

(5) Franz Kurowski: Krieg unter Wasser.U- Boote auf den sieben Meeren 1939-1945. Düsseldorf und Wien 1979, Econ Verlag, ISBN 3-7043-4062-6, S.291.

(6) Bis heute sorgen die Ereignisse um den Vrba-Wetzler-Bericht und die Kastner-Affaire für anhaltende Diskussionen innerhalb und außerhalb Israels. Rudolf Vrba und Alfred Wetzler, zwei slowakischen Juden, war am 7. April 1944 die Flucht aus Ausschwitz gelungen. Nach ihrer Rückkehr in die Slowakei setzten sie sich sofort mit dem slowakischen Judenrat in Verbindung, um die Juden in Ungarn zu warnen und die Welt über die Vorgänge in Ausschwitz aufzuklären. Die Warnungen erreichten die ungarischen Juden nicht. Die Kontroverse über die Frage, ob die führenden jüdischen Vertreter in beiden Ländern die grauenvollen Nachrichten bewusst zurückgehalten haben oder einfach nicht informiert werden konnten, ist bis heute nicht entschieden.

(7) Mit dieser grundlegenden Frage ist die zweite Auseinandersetzung über den " Europa-Plan" und das "Blut-gegen-Lastwagen"-Angebot der SS eng verknüpft. Der slowakische Rabbi Weissmandel und seine Freunde planten, der SS die europäischen Juden "abzukaufen".Von deutscher Seite (Eichmann und Himmler) wurde den Führern der ungarischen Juden das - wahrscheinlich nicht ernstgemeinte- Angebot unterbreitet, eine Million Juden gegen 10000 Lastwagen zu "tauschen".

(8) Deutsch: Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001, Beck Verlag.

(9) In einem Interwiew mit dem Autor Gross." Befreiende Wahrheit", "DIE ZEIT" 17/2001.

(10) Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.): Deutschland 1933 - 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Bonn 1992, Bundeszentrale für politische Bildung. ISBN 3-89331-185-8, S.426 ff.

(11) Michal Unger (ed.): The last ghetto.Life in the Lodz Ghetto 1940- 1944.Jerusalem 1995, The Holocaust Martyrs and Heroes remembrance Authority. dt.Ausgabe: Wettenberg 2004, Verlag VVB Laufersweiler, ISBN 3-89687-007-6.

(12) Literaturliste mit aktuellen Veröffentlichungen z.B. bei Ria Proske: Nationalsozialismus und Neonazismus. Ausgewählte Kinder- und Jugendbücher. Kommentiertes Verzeichnis. 13. Aufl. Köln 2004.

(13) Rüdiger Steinlein: Ausschwitz und die Probleme narrativ- fiktionaler Darstellung der Judenverfolgung als Herausforderung der gegnwärtigen Kinder-und Jugendliteratur. Gudrun Pausewangs Holocausterzählung "Reise im August"in: Petra Josting/ Jan Wirrer (Hrsg.): Bücher haben ihre Geschichte. Norbert Hopster zum 60. Geburtstag.. Hildesheim/ Zürich/New York., 1996, Georg Olms Verlag, ISBN 3-487-10226-9, S.177-192.

(14) Hans-Peter Richter: Damals war es Friedrich. 37. Aufl. Stuttgart 1997, Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN3-423-07800-6. Dem Buch wurde von anderer Seite vorgeworfen, dass es antisemitische Vourteile tradiere, siehe: Brigitta Hunke: Schnelle Gleichungen. Juden in Schul- und Jugendbüchern. Subtil versteckte Stereotypen, aber auch offene Antisemitismen sind an deutschen Schulen Alltag - ein Beispiel aus Hamburg. in: FREITAG/26/01.

(15) Gudrun Pausewang: Reise im August., Ravensburg 2005 (6. Aufl.), Ravensburger Buchverlag, ISBN 3-473-58040-6.

(16) Steinlein, a.a.O..: S.181.


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For quotation purposes:
Thomas Haupenthal (Pädagogische Fakultät der Karlsuniversität Prag, Lehrstuhl für Germanistik): Nationalsozialismus in der zeitgenössischen Kinder-und Jugendliteratur. Historische Realität und Fiktion am Beispiel von Miriam Presslers "Malka Mai". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: ../../../index.htmtrans/16Nr/10_1/haupenthal16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 15.8.2006     INST