Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Februar 2006 | |
10.1. Innovationen in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) |
Franz-Josef Payrhuber (Worms)
[BIO]
Nach einer längeren Latenzphase erlebt die geschichtliche Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland seit etwa zwei Jahrzehnten eine Renaissance. Diese zeigt sich rein quantitativ in der Anzahl der jährlich neu erscheinenden Titel, in den Neuauflagen und Übersetzungen. Die historische Kinder- und Jugendliteratur erweist sich "als nennenswerte Größe innerhalb des differenzierten deutschen Kinder- und Jugendliteratursystems und in Zeiten vielfacher multimedialer Konkurrenzprodukte" (Zimmermann 2004, S. 15).
Mit der Quantität geht gestalterische Vielfalt einher: Außer historischen Sachbüchern, Biographien und biographischen Romanen, Nacherzählungen von Sagen, Comics über historische Stoffe oder historischen Krimis und phantastisch-geschichtlichen Kinder- und Jugendromanen findet sich eine beachtliche Bandbreite 'realistischer'(1) historischer Erzählungen und Romane, nicht gerechnet die Abenteuerliteratur mit historischen Versatzstücken oder die Fantasy-Literatur.
Aus diesem Gesamtkorpus der historischen Kinder- und Jugendliteratur nehme ich realistisch erzählte Romane ins Blickfeld, die innerhalb des letzten Jahrzehnts erschienen sind. Um zu prüfen, welche Tendenzen und Verfahrensweisen sich an ihnen aufzeigen lassen, gehe ich in zwei Schritten vor: Zuerst stelle ich die Bücher kurz vor, die ich primär nach dem Kriterium ausgewählt habe, dass ihnen aufgrund des literarischen Renommees ihrer Autorinnen und Autoren eine repräsentative Funktion zukommen dürfte. Sodann habe ich mich bei der Auswahl daran orientiert, dass thematisch alle historische Großepochen vertreten sind, als da sind: Vorgeschichte und Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit (bis 1789), die Epoche von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg und die Zeitgeschichte.(2) Im zweiten Schritt schaue ich in Orientierung an den Entwicklungen in der allgemeinen Kinder- und Jugendliteratur auf die literarischen Formen, in denen die ausgewählten Romane gestaltet sind.
Als eine herausragende Gestalt der frühen israelischen Überlieferungsgeschichte begegnet in der Bibel Moses, der die hebräischen Sippen aus ägyptischem Frondienst herausführte und ihnen den Weg nach Kanaan wies. Die vielfache Beschäftigung mit Moses in Literatur, Kunst und Musik findet in der Gegenwart in der historischen Jugendliteratur ihre Fortsetzung. Arnulf Zitelmann hat ihn in dem Roman Mose, der Mann aus der Wüste (1991) als eine tragische Gestalt dargestellt, als einen "Vulkancharakter", einen "einsamen Wolf". Seine Mosesfigur hat bei ihm nichts (mehr) von einem heroischen Giganten, als den ihn die Überlieferung gern zeichnete. Die (derzeit) aktuellste Publikation zum Thema ist Frederik Hetmanns Buch Moses oder Die Entdeckung Gottes (2005). Der Autor beschreibt darin die außergewöhnliche Geschichte des Moses als die eines revolutionären Mannes und seines bahnbrechenden Glaubens. Er zeigt Moses als den Befreier des Volkes Israel aus der Gefangenschaft und Sklaverei in Ägypten, und mehr noch als einen der großen Befreiergestalten der Menschheit überhaupt. Darüber hinaus beschreibt er ihn als denjenigen, dem sich auf dem Berg Sinai und in einer Welt, in der die Menschen an viele Götter glaubten, zum ersten Mal der eine und der einzige Gott offenbart und ihm als ethische Richtschnur die Zehn Gebote gibt.
Zum ersten Mal wird zwischen diesem einen Gott und einem Volk eine Glaubensbeziehung hergestellt, die dieses Volk, die Israeliten, für den ganzen Verlauf ihres geschichtlichen Schicksals prägt, ja die es überhaupt erst als Gemeinschaft formt. Über den Vermittler Moses werden diesem Volk gültige Moralgesetze gegeben: die Zehn Gebote, gegen die zwar von Angehörigen dieses Volkes später selbst häufig verstoßen wird, die aber dennoch als früheste und weithin nachwirkende Richtschnur für menschliches Verhalten bis heute Geltung besitzen. (Hetmann, Vorwort zu Moses).
Die fundamentale Frage nach dem wahren Gott und einem ihm wohlgefälligen Leben hat die Menschen im Laufe ihrer Geschichte immer wieder existentiell betroffen; Moses - sofern wir ihn als historische Gestalt erkennen - sah sich etwa 1.300 Jahre vor Christi Geburt mit ihr konfrontiert. Tilman Röhrig erzählt ein Beispiel, das fast zweieinhalbtausend Jahre später passiert, also kurz vor der Wende zum zweiten Jahrtausend nach Christus. Wenngleich die Umstände völlig verschieden und auch die Dimensionen ihrer Wirkung nicht vergleichbar sind, die Frage nach dem wahren Gott ist identisch. Aufgezwungen wurde sie dem Norweger Erik, der im Jahre 982 Grönland entdeckte und besiedelte und dem die Erzähler der nordischen Sagas den Beinamen "der Rote" gaben. Tilman Röhrig macht diesen Erik zum 'Helden' seines in der sogenannten 'Wikingerzeit' spielenden Romans Erik der Rote (1999). Die Perspektive des Untergebenen Tyrkir wählend, der obwohl Sklave der treueste Freund Eriks ist, berichtet er von den zahlreichen Abenteuern, Kämpfen, Verfolgungen und Strapazen, die der Wikinger überstehen muss, bis er in Grönland für sich und seine Familie einen Platz zum Leben findet. Aber als endlich "die Suche nach dem Glück", wie es im Untertitel heißt, gelungen scheint, kehrt Eriks Sohn Leif von einer längeren Ausfahrt mit einem Priester an Bord zurück; er ist, ebenso wie der ihn begleitende väterliche Freund Tyrkir, in Norwegen Christ geworden und will nun seine ganze Sippe zum Christentum bekehren. Das geht zwar nicht ohne Schwierigkeiten und Konflikte ab, vor allem zwischen Vater und Sohn, gelingt aber letztlich deswegen, weil die Taufe nicht nur ein formaler Missionierungsakt ist, sondern die Getauften die Prinzipien ihres neuen Glaubens tatsächlich leben. So bringt Leif auch die christliche Toleranz auf, seinem Vater Erik den alten Götterglauben zu belassen und ihn in den überlieferten Ritualen dieses Glaubens sterben zu lassen.
Es entspricht der Beutung der Christianisierung für die geistige, kulturelle und politische Entwicklung Europas, dass sie auch in der historischen Kinder- und Jugendliteratur ein Thema ist. Nicht immer verlief dieser Prozess freilich derart unkriegerisch und unblutig, wie Tilman Röhrig dies am Beispiel der Missionierung Grönlands zeigt; nicht selten geschah er in krassem Gegensatz zu der zentralen christlichen Botschaft von Frieden und Nächstenliebe. Die Geschichte weiß darüber hinaus von nicht wenigen Fanatikern, die - zumeist um der Macht über die Menschen und um ihrer Ausbeutung willen - das christliche Evangelium missbrauchten. In einem solchen Spannungsfeld von christlicher Glaubensüberzeugung und aggressivem Fanatismus bewegten sich auch die Kreuzzüge, die ein wichtiger Faktor unseres Geschichtsbildes vom Mittelalter sind und darum auch oft in der Kinder- und Jugendliteratur dargestellt werden. Mit Blick auf die jungen Leserinnen und Leser findet dabei der Kinderkreuzzug von 1212 das wiederholte Interesse der Autoren.
Ein neueres Beispiel ist Harald Pariggers Roman Der schwarze Mönch (1994/1998), bei dessen Titelfigur es sich um einen gefährlichen Verführer handelt, der, weil er sich von Gott gesandt glaubt, Tausende von Kindern und Jugendlichen, unter ihnen den fünfzehnjährigen Gerhard aus Speyer, mit falschen Versprechungen zu einem Kinderkreuzzug motiviert. Auf dem Weg nach Italien befallen Gerhard, aus dessen Perspektive das Geschehen erzählt wird, aber zunehmend Zweifel an der Integrität seines Führers und am Erfolg des Unternehmens; schließlich bleibt er nur noch aus Verantwortungsgefühl gegenüber seinen schwächeren Freunden und aus Zuneigung zu dem Mädchen Irmingard bei dem Zug. Irmingard - eigentlich Jüdin mit Namen Rebecca - folgt dem Mönch jedoch nur, um dessen Mord an ihren Eltern zu rächen. Gerhard und Rebecca werden wegen ihres Misstrauens von den anderen Kindern zunehmend gemieden. Als das Unternehmen vor Genua endgültig scheitert, wird daher Gerhard dafür verantwortlich gemacht und von den enttäuschten und aufgehetzten Kindern beinahe ermordet. Gerhard und Rebecca werden danach in Genua im Haus eines jüdischen Arztes freundlich aufgenommen, sie heiraten, kommen zu Wohlstand und kehren in ihre Heimatstadt Speyer zurück. Dort leben sie als wohlgeachtete Bürger, Gerhard wird sogar Ratsherr. Gleichwohl sind sie sich des Faktums bewusst, dass sie verloren wären, wenn die Wahrheit ihrer Beziehung ans Tageslicht käme; denn einem Christen ist die Heirat mit einer Jüdin verboten und durch harte Strafen sanktioniert. Als nach dreißig Jahren plötzlich der "schwarze Mönch" wieder auftaucht, wird die Gefahr der Entdeckung akut. Den Mönch, dessen Verführungskraft eher zugenommen als nachgelassen hat, ereilt nun aber durch Rebeccas Bruder die verdiente Rache, er wird mit tödlichem Aussatz infiziert.
Die Diskriminierung, Verfolgung und nicht zuletzt auch die massenhafte Tötung der Juden war, wie wir wissen, kein Phänomen des Mittelalters allein, wie ein roter (Blut-)Faden ziehen sie sich durch die Geschichte, um in der Gegenwart ihren Höhepunkt zu erreichen. Allerdings zeugen die Pogrome des Mittelalters davon, dass die Verfolgung der Juden in dieser Epoche oft besonders intensiv war. Die Juden wurden nicht zuletzt als Sündenböcke für Seuchen verantwortlich gemacht. So kam es zwischen 1348 und 1350 wegen der Pest in zahlreichen Städten zu systematischen Verfolgungen der vermeintlichen jüdischen "Brunnenvergifter". Harald Parigger erzählt in dem Jugendroman Im Schatten des schwarzen Todes (1998) von dieser düsteren Zeit. Zentrale Figur der Handlung ist der junge David, der eine alte medizinische Abhandlung seiner jüdischen Vorfahren nach Mainz bringen will, weil sie vielleicht Rettung bringen könnte; sie wird ihm aber unterwegs geraubt.
Eine wirkungsvolle Methode, missliebige Angehörige der eigenen christlichen Glaubensgemeinschaft mittels Diskriminierungen zu erledigen, war die Anklage wegen Ketzerei. Davon erzählt Ruben Philipp Wickenhäusers Roman Mauern des Schweigens (1999). Die Handlung spielt in den Jahren 1380/81 in der Bischofsstadt Bamberg. Der Vater des elfjährigen Schneiderlehrlings Martin, aus dessen Perspektive das Geschehen erzählt ist, wird auf der Rückkehr von einer Handelsreise scheinbar grundlos ermordet. Auf der Suche nach den Mördern seines Vaters lernt Martin zufällig den gleichaltrigen Judenjungen Jonathan kennen, und die beiden werden Freunde. Dank ihrer Hartnäckigkeit kommen sie sogar einer Verschwörung der Bamberger Stadtherren gegen Bischof Lamprecht auf die Spur. Nach der Niederschlagung des Aufstandes inszenieren die Verschwörer aus Angst vor ihrer Enttarnung eine Intrige gegen Martin und seine Familie, die daraufhin wegen Ketzerei angeklagt und in den Kerker gesperrt werden, bis man über ihr Leben oder ihren Tod entscheiden wird. Martin selbst aber kann mit Hilfe seines jüdischen Freundes Jonathan aus Bamberg fliehen.
Ruben Philipp Wickenhäuser hat 2001 noch eine Fortsetzung Gräben der Worte geschrieben, die in Nürnberg spielt und von Martins anhaltendem Versuch erzählt, den plötzlichen Tod seines Vaters aufzuklären. Doch auch in Nürnberg ist er vor den Feinden seiner Familie nicht sicher.
Diskriminierung und Verfolgung bestimmter Gruppen zeigt sich im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit im bis heute nicht ganz erklärbaren sozialpsychologischen Phänomen des Hexenwahns, der in den Exzessen der Hexenverfolgungen seinen schlimmstmöglichen Ausdruck fand. Außer diesem Thema spiegelt sich die Epoche der beginnenden Neuzeit in der historischen Kinder- und Jugendliteratur vor allem in Erzählungen über Entdeckungen und Erfindungen. Die Tendenz, die historischen Ereignisse nicht länger aus der Perspektive der 'Großen der Geschichte' darzustellen, sondern aus der Sicht der 'Kleinen Leute' und in ihren Auswirkungen auf deren Lebensgestaltung, erweist sich am augenfälligsten in der Behandlung eines 'Großereignisses' wie des Dreißigjährigen Krieges. Sigrid Heuck gibt in Der Fremdling (2001) ein solches Beispiel. In eindrucksvollen, klaren Bildern erzählt das Buch die authentische Geschichte von Michel und Emmerenzia, einem heimatlosen Trommler und einer als Außenseiterin gehandelten Bäuerin gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die beiden setzen sich mutig über Alters- und Standesunterschiede hinweg und kämpfen eisern für ihre Zukunft auf einem kleinen Bauernhof.
Soziale und gesellschaftspolitische Aspekte treten sodann in der Darstellung der Französischen Revolution deutlich in den Vordergrund. Ihre in der Forschung inzwischen maßgebliche Deutung als 'Aufbruch in die moderne Demokratie' heben den Blick weg von der Betrachtung des Schicksals der Monarchie und lenken ihn auf sozialpolitische und -ökonomische Prozesse. Dörte Damm präsentiert in dem Jugendroman Daphne Wildermuth (2003) ein bezeichnendes Beispiel dieser Sichtweise. Ihre Titelfigur, Die Tochter des Jakobiners (Untertitel), die sie als Ich-Erzählerin fungieren lässt, führt die Leserinnen und Leser zunächst nach Mainz, wo die Jakobiner im Jahre 1793, von den Ideen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit begeistert, die Republik ausrufen und die ersten freien Wahlen in der Stadt abhalten. Jeden Abend steht die vierzehnjährige Daphne, Tochter eines verwitweten Arztes, auf der Bühne des Jakobinertheaters, das den Mainzern die neuen Ideale verkündet. Dann wird die Revolution in Mainz mit Waffengewalt niedergeschlagen und Daphne flieht zu ihren Verwandten nach Weimar. Doch schon bald hält sie es bei der strengen Großmutter und dem verbohrten Onkel, der treu an die Monarchie glaubt, nicht mehr aus. Sie geht zu Fuß nach Gotha und schließt sich einer Theatertruppe an. Während in Frankreich die Revolution ihre eigenen Ideale verrät, lernt Daphne das beschwerliche Leben der Wanderschauspieler kennen. Ihren Träumen bleibt sie jedoch treu, selbst als ihr Vater sie zurückholt und nach Mannheim in ein Pensionat bringt. Am Ende scheint sogar ihr Traum von einer Zukunft als Schauspielerin Aussicht auf Erfüllung zu haben, denn sie schafft es, dass der große Schauspieler August Wilhelm Iffland vom Mannheimer Nationaltheater sie als Schülerin aufnimmt.
Ohne die negativen Seiten der Revolution zu verschweigen, die sie am Schicksal von Daphnes Vater festmacht, erzählt Dörte Damm von einer gelingenden weiblichen Emanzipation, die durch die Ideen der Französischen Revolution ausgelöst worden ist. Das wirkt plausibel, weil die Titelfigur einer bürgerlichen Schicht entstammt und insofern entsprechende soziale Voraussetzungen mitbringt. Die Angehörigen der bäuerlichen Schicht, der Leibeigenen und Besitzlosen war von einem solch selbstbestimmten Leben allerdings noch weit entfernt. Ins historische Bewusstsein gebracht wird dies in Romanen, die, um die Person Napoleon kreisend, von den Auswirkungen dessen Größenwahns vor allem auf das einfache Volk handeln. Eines der ersten Jugendbücher, das Napoleon nicht mehr als einen 'Großen der Welt' darstellt, ist Klas E. Everwyns Roman Für fremde Kaiser und kein Vaterland (1985), der 1986 mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Es spielt zur Zeit der Napoleonischen Kriege im Bergischen Land und handelt von dem jungen Tagelöhner Gerhard Röhrich, der dreimal den Werbern der verschiedenen Armeen in die Hände fällt, dreimal Soldat wird, jedes Mal aber entfliehen kann und sich als "Waldmensch", Knecht und Schmuggler durchschlägt.
Klas E. Everwyns anderer Roman über diese Zeit mit dem Titel Der kleine Tambour und der große Krieg (1987) erzählt von einem Jungen, dessen großer Traum in Erfüllung geht, als er Tambour der napoleonischen Armee werden darf. Umso härter ist aber sein Erwachen, als er dort die Wirklichkeit des Soldatenlebens am eigenen Leib erfährt.
Auch die Handlung von Josef Holubs Roman Der Russländer (2002) spielt in der Napoleonischen Epoche, hier in der Zeit kurz vor dem Russlandfeldzug der "Großen Armee" im Sommer 1812. Junge Männer aus vielen Teilen Europas werden gemustert und eingezogen. Auch der Sohn eines Bauern im Schwäbischen Wald wird zur Musterung in die Stadt befohlen. Statt seines Sohnes bringt der Bauer jedoch seinen jungen Knecht, ein "Verdingkind", zur Rekrutierungsbehörde ins Rathaus. Adam ist erst sechzehn, aber danach fragt niemand. Bis der gutgläubige, unschuldige Junge begreift, was mit ihm geschieht, hat die Militärmaschinerie von ihm Besitz ergriffen, und niemand achtet auf seine Proteste. Er gehört zu einem Kontingent Soldaten, mit dem sich Friedrich von Württemberg bei Napoleon andient, weil der ihn zum König gemacht hat.
Adam wird ausgenutzt, gedemütigt, er hat ja nie gelernt sich zu wehren; militärischer Drill und Schikanen seines Vorgesetzten sind in der Kaserne ebenso an der Tagesordnung wie Spießrutenläufe von eingefangenen Deserteuren. Vieles um sich herum versteht er überhaupt nicht; auch unter Russland kann er sich nichts vorstellen, als der lange Marsch beginnt. Und der führt die Soldaten dann auch nicht in glorreiche Schlachten, sondern durch Schlamm und Schnee, in Hunger und Durst, Entbehrung und Krankheit Verstümmelung und Tod.
Adam muss den langen Marsch als Bursche des nicht viel älteren Leutnants Konrad Graf Lämmersdorf mitmachen. Anfangs verhindern die Standesgrenzen eine gute menschliche Beziehung zwischen den beiden jungen Männern. Doch die extreme Situation des Feldzugs bringt die ungleichen Weggefährten einander näher, und es entwickelt sich eine starke Freundschaft. Ihr vor allem haben sie es zu danken, dass sie überleben. Denn viel zu spät erteilt Napoleon den Befehl zur Rückkehr, und der Einbruch des russischen Winters besiegelt das Ende der "Großen Armee". Nur noch dreihundert bleiben von ehemals fünfzehntausend württembergischen Soldaten übrig; man nennt sie "Russländer", weil sie lebend aus Moskau zurückgekehrt sind.
Josef Holub hat mit diesem Roman ein überzeugendes Plädoyer gegen den Krieg geschrieben. Weil sein Thema primär nicht die Geschichte des Russlandfeldzugs ist, sondern das Schicksal von Menschen, die wie Adam für den Größenwahn der Mächtigen leiden müssen, erzählt er konsequent aus dessen Sicht. Sein Ich-Erzähler, der in seiner Naivität zuweilen an Grimmelshausens Simplizissimus erinnert, wirft einen entlarvenden, gelegentlich schwejkschen Blick auf den Alltag des Militärs, beschreibt Leid, Kriegselend, Gewalt und Tod. Allerdings lässt der Autor es nicht bei der Schilderung der grauenvollen Seiten bewenden. Zu seiner Weltsicht gehört auch zu zeigen, dass Werte wie Mitgefühl, Verantwortung und Fürsorge für den Nächsten selbst in unmenschlichen Zeiten nicht ungültig sind. Die Freundschaft zwischen Adam und Konrad liefert dafür den überzeugenden Beleg.
Freundschaft ist in historischen Jugendromanen ein gern gebrauchtes Motiv, vor allem wenn dabei unüberwindlich scheinende Gegensätze überbrückt werden. In Erik der Rote beispielsweise findet Leif in Tyrkir einen väterlichen Freund oder in Mauern des Schweigens setzen sich der Christ Martin und der Jude Jonathan über die gängigen Vorurteile hinweg und schließen Freundschaft. Und in Josef Holubs historischen Romanen ist die Freundschaft immer das zentrale Thema, so auch in Bonifaz und der Räuber Knapp (1998). Festgemacht am Schicksal des Ich-Erzählers Bonifaz, eines Waisenjungen, der im Jahre 1867 vom Gericht zu seinem Oheim, dem Schultheiß des gottverlassenen Dorfes Graab im "hintersten Schwabenwald" geschickt wird, vermittelt Josef Holob in diesem Roman nicht nur einen genauen Einblick in die festgefügten Lebensformen und gesellschaftlichen Strukturen eines Dorfes in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, er zeigt auch und zuerst, wie die Freundschaft zwischen einem 'Räubersohn' und dem Schultheißneffen allen Ressentiments der Erwachsenengesellschaft trotzt.
Am intensivsten vom Thema Freundschaft geprägt ist Josef Holubs 'Böhmische Trilogie' Der rote Nepomuk (1993), Lausige Zeiten (1997) und Schmuggler im Glück (2001), in der er in autobiographischer Perspektive den für das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen historisch markanten Zeitabschnitt vom Einmarsch Hitlers in die Tschechoslowakei bis zur Vertreibung der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beleuchtet: Im Roman Der rote Nepomuk schließen der deutsche Junge Josef und der Tschechenbub Jirschi Freundschaft, obwohl sie verfeindeten Volksgruppen angehören; im Roman Lausige Zeiten, dessen Handlung in einer nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt spielt, hilft die Freundschaft zwei Zöglingen, ein unmenschliches System zu ertragen; und in Schmuggler im Glück wird von einer Freundschaft erzählt, die Leben rettet.
Ähnlich wie Josef Holub hat auch Klaus Kordon in einer Reihe seiner historischen Romane Freundschaften in den Mittelpunkt der Handlung gestellt, beispielsweise in der sogenannten 'Frank-Trilogie' Brüder wie Freunde (1978/2001), Einer wie Frank (1982/2001) und Tage wie Jahre (1986/2001), deren erster und zweiter Band im geteilten Berlin Anfang und Mitte der 50er Jahre spielen und die im dritten Band den Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 als historischen Hintergrund hat. Ebenso wie die 'Böhmische Trilogie' Josef Holubs ist auch die 'Frank-Trilogie' Klaus Kordons autobiographisch geprägt: hinter den Erfahrungen des kleinen Frank ist unschwer das Alter Ego des Autors zu erkennen. Anders als Josef Holub, der sich jeweils für einen Ich-Erzähler entscheidet, wählt Klaus Kordon aber eine personale Er-Perspektive und rückt damit die erzählten Geschehnisse von sich weg in eine größere Distanz.
Personales Erzählen dominiert auch in den von Klaus Kordon selbst als "Trilogie der Wendepunkte" bezeichneten Romanen Die roten Matrosen (1984), Mit dem Rücken zur Wand (1990) und Der erste Frühling (1993), in denen seine Protagonisten, die Arbeiterfamilie Gebhardt, in einem Mietshaus im Berliner Wedding ansiedelt und am Schicksal von drei Generationen verfolgt, welche Auswirkungen entscheidende Momente der deutschen Geschichte zwischen 1918 und 1945 auf die Menschen hatten. Nach dem Urteil von Hans-Joachim Gelberg erzählt Klaus Kordon in den drei Romanen "Geschichte von unten, wie sie in der deutschen Jugendliteratur [... bis dahin] noch nicht vorgelegt wurde" (Gelberg 1993, S. 5).
Die auf Abstand haltende personale Erzählweise wählt Klaus Kordon auch für seinen Roman Krokodil im Nacken (2002), in dem bisher am ausgeprägtesten von all seinen Büchern Bruchstücke seiner Biographie eingegangen sind; denn in ihm verarbeitet er seine eigene deutsch-deutsche Lebensgeschichte. Figuriert in der Gestalt seines Protagonisten Manfred Lenz gibt Klaus Kordon sein ganzes Leben preis: die Jugendjahre als Grenzgänger zwischen West und Ost bis zum Mauerbau, die Zeit zunehmender Abkehr von System der DDR, der Entschluss zur Flucht und schließlich Verhaftung, Verurteilung, Freikauf und Abschiebung in den Westen Deutschlands.
Erstmals in seinem jüngsten Roman Julians Bruder (2004) weicht Klaus Kordon von seiner bisherigen Erzählweise ab und lässt seinen Erzähler Paul Scholz Ich sagen. Diese Ich-Perspektive macht das Geschehen unmittelbarer, sie erhöht das Identifikationspotential für die Leserinnen und Leser und lässt sie tief in die Psyche des Protagonisten schauen. Paul Scholz blickt von heute aus zurück und schildert die Geschichte seiner Freundschaft zu dem Juden Julian Sternberg von den frühen dreißiger Jahren bis in die Nachkriegszeit, bis zu dessen gewaltsamem Tod. Julian und Paul wachsen in Berlin auf, wohnen im selben Haus und entdecken die Welt fast wie Zwillinge, zwei Freunde wie Brüder. Als 1942 Julians Eltern deportiert werden, versteckt sich der Junge; Paul, seine Schwester, seine Mutter und viele andere helfen ihm. Nach der Befreiung werden Paul und Julian von sowjetischen Soldaten als "Werwölfe" verhaftet und nach Buchenwald gebracht. Wo ein Jahr zuvor noch ein KZ der Nazis war, befindet sich nun ein Internierungslager der Sowjets. Paul übersteht das Lager, Julian aber, der den Naziterror als sogenanntes "U-Boot" überlebte, fällt dem Terror der Sowjets zum Opfer.
Klaus Kordons Roman ist ein erneuter Beleg für das häufige Auftreten des Freundschaftsmotivs in historischen Romanen. Vor allem aber ist er ein wichtiger Beleg für die Beobachtung, dass die Diskriminierung der Juden, ihre Verfolgung, ja ihre systematische Vernichtung im Holocaust in Romanen zur Zeitgeschichte besonders oft thematisiert ist.(3)
Signifikant zeigt sich dieser Befund auch in den literarischen Arbeiten von Mirjam Pressler. Die Autorin, selbst Jüdin, hat nicht nur eine Vielzahl von Titeln zur Judenverfolgung und -vernichtung aus dem Hebräischen oder Niederländischen übersetzt(4), sondern auch eigene Bücher zum Thema verfasst, beispielsweise die Biographie Anne Franks mit dem Titel Ich sehne mich so (1992)(5) oder den Kinderroman Malka Mai (2001) und zuletzt den Jugendroman Die Zeit der schlafenden Hunde (2003). Auslösendes Moment der Handlung ist darin die Israelreise einer Schülergruppe im Jahre 1995, die insbesondere dazu dienen soll, eine Dokumentation für die Schulzeitung zu erstellen: acht Portraits von ehemaligen Schülerinnen, die in der Nazizeit auswandern mussten und heute in Israel leben. Für Johanna, aus deren Perspektive der Roman erzählt ist, wird die Exkursion zu einer Reise in ihre eigene Familiengeschichte, denn sie erfährt dort, dass das angesehene Modehaus, das ihr Großvater aufgebaut hat, früher zwei jüdischen Geschäftsleuten gehörte. Nun sitzt Johanna Frau Levin gegenüber, die damals alles aufgeben musste, ohne eine Entschädigung dafür zu bekommen. Zuhause fängt sie an nachzufragen. Der Großvater kann ihr nicht mehr antworten, weil er Selbstmord begangen hat, der Vater sperrt sich wütend gegen ihre Angriffe und keiner weiß, was 1960 der Grund für den Freitod ihrer Großmutter war. Johanna möchte wissen, was mit der Kaufsumme geschehen ist, welche Rolle ihr Großvater in der NSDAP gespielt hat, und sie fragt sich auch, wie sie mit ihrem eigenen geerbten Geld umgehen soll, das offenbar nicht ganz ehrlich verdient wurde. Im Nachhinein tauchen im Leben ihres geliebten Großvaters einige Schatten auf, die Johanna wie schlafende Hunde weckt und auch dem Vater in aller Deutlichkeit vor Augen führt. Ein schmerzvoller, klärender Prozess kommt in Gang, doch am Ende ist er der einzige Weg, der aus der Schuld in eine neue Freiheit führt. Johanna macht er erwachsen. Sie stellt sich als erste in der Familie der Vergangenheit und besteht darauf, dass das, was nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann, wenigstens nicht mehr totgeschwiegen wird.
Es ist ein nicht nur vereinzelt auftretendes Merkmal historischer Romane, dass ihre Autoren ihnen ein Nachwort, zuweilen auch ein Vorwort beigeben. Bei Arnulf Zitelmann findet sich dies ebenso wie bei Ruben Philipp Wickenhäuser, bei Frederik Hetmann ebenso wie bei Klaus Kordon. Das Nachwort zu Julians Bruder beispielsweise geht auf die historischen Fakten ein, die in der Romanhandlung vorkommen, und bestätigt ihre Authentizität. Die Motivation zum Schreiben seiner Geschichten bezieht der Autor freilich nicht aus der Hoffnung auf die rationale Wirkung der Faktenvermittlung, sondern aus dem Vertrauen auf die emotionale Wirkung des Erzählten. Mit Fakten allein sei "nichts zu machen", weil diese "für Jugendliche oft nicht nachzuvollziehen" seien (Kordon 2004). Aufklärung über das historisch Geschehene ist Klaus Kordons vordringlichstes Ziel, und es schließt für ihn den Appell ein, daraus Lehren für die Gegenwart zu ziehen, zumal wenn die Ereignisse - wie im Falle von Julians Bruder - noch bis heute nachwirken.
Insofern das didaktische Kriterium in Klaus Kordons historischen Romanen dominiert, sind sie, eine Kategorisierung Holger Zimmermanns aufnehmend, der Form des "geschichtsdidaktischen Romans" zuzuordnen (Zimmermann 2004, S. 73ff.). Weil aber didaktischen Intentionen heute zuweilen ein negativer Beigeschmack anhaftet, sei hinzugefügt, dass dies ihrer literarischen Qualität keinen Abbruch tut. Klaus Kordon ist ein großer Erzähler, was keineswegs nur in Hinsicht auf den Umfang seiner historischen Romane geurteilt ist. Anschaulich vergegenwärtigt er die Ereignisse der Vergangenheit, seine Geschichten sind historisch authentisch, interessant, dramatisch und spannend, seine Figuren und deren Konflikte und Bewährungssituationen sind psychologisch differenziert gestaltet. Insofern erfüllt er die Erwartungen, die an 'gutes‘ historisches Erzählen gestellt werden (vgl. Sauer 1999, S. 20ff.).
Der Form des geschichtsdidaktischen Romans entspricht auch Frederik Hetmanns Moses-Buch - zumindest in Teilen. Unzweideutig bekennt sich der Autor in einem Vorwort zu den Intention, jungen Leserinnen und Lesern, unabhängig von deren religiöser Einstellung, die Bibel - im Sinne Bertolt Brechts - als ebenso kulturell wichtige wie spannende Lektüre zu empfehlen und ihnen ihre Bedeutung für das Verständnis der Vergangenheit wie der Gegenwart zu erschließen.
Formal geht Frederik Hetmann den ungewöhnlichen Weg, sein Buch in drei Teile zu gliedern: in einem ersten erzählt er die Moses-Geschichte nach, wie sie in der Bibel überliefert ist. In einem zweiten erhält der Leser Auskunft darüber, was wir über das Entstehen des biblischen Berichts wissen und wie sich unser Wissen in den letzten einhundert Jahren verändert hat. Und in einem dritten Teil spielt der Autor erzählerisch die Möglichkeit durch, dass sich die Lebensgeschichte des Moses vielleicht doch wesentlich anders abgespielt hat, als wir das in der Bibel aufgezeichnet finden.
Frederik Hetmanns Moses-Buch ist also biblische Nacherzählung, Sachbuch und historischer Roman in einem. Zumindest für den dritten Teil ist dann auch das Merkmal wichtig, dass hier - nicht anders als bei Klaus Kordon - auch eine spannende Geschichte erzählt wird.
Spannung ist das wichtigste Kriterium, das junge Leserinnen und Leser - und nicht sie allein - von den Büchern erwarten, die sie freiwillig in ihrer Freizeit lesen. In der Rede von "spannenden Abenteuern" wird die Erwartung inhaltlich präzisiert, und in der Form des "historischen Abenteuerromans" (vgl. Zimmermann 2004, S. 87ff.) findet sie sich in besonderer Weise erfüllt.
Tilmann Röhrigs Roman Erik der Rote ist ein herausragendes Beispiel dieser literarischen Form, ein anderes Ruben Philipp Wickenhäusers Mauern des Schweigens. Hier bildet - über die didaktische Intention hinaus, die nicht zuletzt im Hinweis des Nachworts auf den authentischen Kern der Romanhandlung zum Ausdruck kommt - die Entwicklung einer Abenteuerhandlung, die vor allem auf Spannung abzielt, das zentrale 'Motiv' des Romans. Der durchgehende Spannungsbogen resultiert aus der Frage, ob es dem Protagonisten gelingen wird, die Mörder seines Vaters zu entlarven und die Intrige gegen seine Familie aufzudecken. Die am Ende noch unbeantwortete Frage reicht sogar noch als Stoff zu einer Fortsetzung.
Mehrere der als Ich-Erzählungen geschriebenen Romane Josef Holubs verbinden Elemente einer Abenteuergeschichte mit Erzählstrukturen einer Entwicklungsgeschichte. Besonders ersichtlich wird dies in Lausige Zeiten und Bonifaz und der Räuber Knapp. Die Protagonisten beider Romane müssen sich in unbekannter Fremde zurechtfinden, beide machen sie einen Reifungsprozess durch, in dem das Verhältnis zum anderen Geschlecht eine Rolle spielt, sich bei Josef in Lausige Zeiten vor allem aber in seiner inneren Distanzierung gegenüber den Vereinnahmungsstrategien des Systems zeigt und bei der Titelfigur von Bonifaz und der Räuber Knapp in seinem Aufbegehren gegen die verfestigten Sozial- und Ordnungsstrukturen des Dorfes. Im Entwicklungsprozess der beiden literarischen Figuren zu selbstbewussten Jugendlichen finden die jungen Leserinnen und Leser zahlreiche Identifikationsmomente, die umso stärker sind, als weder Josef noch Bonifaz als 'strahlende Helden' gezeigt werden, denen alles auf Anhieb gelingt. Die stimmige Darstellung, wie sie - wesentlich getragen vom Faktor der Freundschaft - ihre Ängste überwinden, lädt dazu ein, sich in die Personen hineinzuversetzen und ein Stück Weges mit ihnen zu gehen.
Auch Harald Pariggers Buch Der schwarze Mönch ist von den Merkmalen des Abenteuerromans deutlich geprägt. Was sich aber bei Holub schon andeutete, wird nun hier ganz augenfällig: Der Traditionsstrang der Abenteuerliteratur wird sowohl mit der Behandlung sozialer Fragen wie vor allem mit dem Erwachsenwerden der Hauptfigur verbunden, so dass wir es hier primär mit einem historischen Adoleszenzroman zu tun haben. Das kommt besonders zum Ausdruck in dem Aspekt der sexuellen Reifung, der für den Adoleszenzroman zentral ist, und im vorliegenden Beispiel in der harmonisch verlaufenden Beziehung Gerhards zu der Jüdin Rebecca überzeugend gestaltet ist.
Am eindeutigsten als ein historischer Adoleszenzroman erweist sich Dörte Damms Entwicklungsgeschichte der Jakobinertochter Daphne Wildermuth. Getragen von ihrer politischen Überzeugung, die sich gegen den herrschenden Untertanengeist richtet, emanzipiert sie sich vom Vater und von der weiteren Familie, findet sich in unbekanntem Terrain zurecht und entscheidet selbstständig über ihren künftigen Lebensweg.
Ein bemerkenswertes und keineswegs einer ahistorischen Aktualisierung geschuldetes Gestaltungsmoment an Dörte Damms Roman ist, dass sie eine junge Frau zur Titelfigur macht. Hier trifft sie sich in der Erzählintention mit Mirjam Pressler, die vor Die Zeit der schlafenden Hunde (2003) bereits mit Shylocks Tochter (1999) einen historischen Adoleszenzroman mit weiblicher Hauptfigur vorgelegt hat. Die Handlung von Shakespeares Drama Der Kaufmann von Venedig aufgreifend, thematisiert sie hier die Grundthemen einer jüdischen Existenz, die immer auch Aspekte der Shoa einschließt. In Shylocks Tochter rückt sie diese in die historische Distanz, in Die Zeit der schlafenden Hunde führt sie diese Problematik an die Gegenwart heran. Die Adoleszenzthematik ist in beiden Romanen wesentlich auf den Konflikt zwischen den Vätern und den Töchtern konzentriert. In Die Zeit der schlafenden Hunde muss die Protagonistin für sich den Konflikt bewältigen, Teil einer Familie zu sein, die durch das Unglück anderer zu Reichtum gekommen ist. Ihre Auseinandersetzung mit dem Vater über die Vergangenheit der Familie ist notwendig, weil sie hier mit Gewissensfragen, insbesondere mit Fragen der Verantwortung konfrontiert. Da sie der damit verbundenen Herausforderung gerecht wird, wirkt sie am Ende befreit und steht selbstbewusst auf der Schwelle zu ihrem eigenen Leben.
Ich versuche ein Fazit: Die Gattung des historischen Kinder- und Jugendromans weist seit den neunziger Jahren bei gleichrangiger Berücksichtigung der historischen Großepochen eine bewusste Schwerpunktsetzung in der Zeitgeschichte auf und lässt trotz einer insgesamt großen Themenvielfalt eine Konzentration auf Ereignisse und Prozesse erkennen, die in ihren kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Auswirkungen für unsere Gegenwart von besonderer Bedeutung sind.
Erweitert hat sich in den vergangenen Jahrzehnten das Formenspektrum der historischen Kinder- und Jugendliteratur. Bis zu den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stand bei der Einbeziehung von Geschichte in einen fiktionalen Text weitgehend das historische Verfahren der Rekonstruktion eines greifbaren historischen Gegenstandes oder Vorganges im Vordergrund der Darstellung. Die Intention wird im geschichtsdidaktischen Roman zwar weiterhin beibehalten, wird aber durch die Tendenz verändert, nicht länger ausschließlich auktorial und monoperspektivisch zu erzählen. Am augenfälligsten zeigen sich weiterführende Entwicklungen in der Adaption von Gestaltungsformen des Abenteuer- und Adoleszenzroman, das heißt in Texten, in denen die Entwicklung einer spannenden Abenteuerhandlung vor einer historischen Kulisse oder die Schilderung des Prozesses der Adoleszenz einer historischen Figur das Leitmotiv ist.
Analog zu dieser Entwicklung vollzieht sich die Adaption moderner Formen des Erzählens: personales Erzählen, mehrperspektivische Darstellungen oder Wahl der Ich-Perspektive - und damit einher gehend nicht nur eine differenzierte Sicht auf die historischen Ereignisse, sondern vor allem eine psychologisch genauere Gestaltung der Figuren und ihrer Handlungen.
Beide Aspekte zusammengenommen scheinen mir die These zu rechtfertigen, dass sich die gegenwärtig dominierenden Tendenzen und Verfahrensweisen in der Kinder- und Jugendliteratur insgesamt - wenn nicht vollständig, so doch zumindest partiell(6) - im historischen Kinder- und Jugendroman wiederfinden lassen, wie ich dies in der Formulierung meines Thema unterstellt habe.
Angesichts der Vielfalt an Themen und Formen läge nun eigentlich die Vermutung nahe, dass die historischen Kinder- und Jugendromane bei den jungen Leserinnen und Lesern auch hohe Wertschätzung genösse. Die Fakten bestätigen dies jedoch nicht. Nach einer repräsentativen Studie unter vierzehn- bis sechzehnjährigen Jugendlichen rangieren historische Romane und Erzählungen auf einer Skala von 25 Genres nur auf Platz 20 (Franz 2002, S. 15). Sie bleiben weit zurück hinter Horror-, Grusel- und Gespenstergeschichten, die auf dem ersten Rangplatz stehen. Den Gründen für diese Situation nachzugehen, wäre reizvoll, doch diese spannende Aufgabe muss einem anderen Kongress vorbehalten bleiben
© Franz-Josef Payrhuber (Worms)
ANMERKUNGEN
(1) Ich verwende das Attribut "realistisch" als Hilfsbegriff, um die Texte gegen die phantastischen Erzählungen und Romane abzugrenzen. Das für historische Darstellungen grundlegende Problem des Verhältnisses von Realität bzw. Faktizität und Fiktionalität soll hiermit nicht evoziert werden. Dies wird im Sinne Heinrich Pletichas so gesehen, dass bei einem historischen Buch die Richtigkeit der Fakten als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf, es bei der Darstellung ansonsten aber auf "innere Richtigkeit" ankommt (Pleticha 2000, S. 446).
(2) Für die Anwendung dieses Kriteriums spricht das Ergebnis einer Analyse Holger Zimmermanns, der in einem Längsschnitt durch die Herbstprogramme der Verlage für das Jahr 2000 insgesamt 431 historische Kinder- und Jugendbücher ermittelte, die sich etwa im Verhältnis 3 zu 1 auf im engeren Sinne geschichtliche sowie zeitgeschichtliche Titel verteilen. Unter den geschichtlichen Kinder- und Jugendbüchern war dabei eine weitgehend ausgewogene Verteilung (von je etwa 20%) zwischen den Großepochen zu beobachten.
(3) Holger Zimmermann ermittelte in seiner bereits erwähnten Studie Geschichte(n) erzählen bei den Titeln zur Geschichte in unserer Zeit ein Verhältnis von 8 zu 1 zwischen Texten zu den Themen des Nationalsozialismus, des Holocaust und der unmittelbaren Nachkriegszeit bezogen auf die Themen aus der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte (50er Jahr und später).
(4) Als bevorzugte Autoren finden sich darunter Uri Orlev und Ida Vos.
(5) Dazu genauer: Payrhuber 2004, S. 250ff.
(6) In Detailanalysen, die den vorliegenden Überblick ergänzten, wäre u.a. die Reichweite der These Gabriele von Glasenapps zu überprüfen, dass in nicht wenigen historischen Jugendromanen nach wie vor die traditionelle auktoriale Erzählposition realisiert sei, die beispielsweise aus einer auf den ersten Blick ‚modern‘ anmutenden Ich-Perspektive erzählt sind. Denn das erzählende Ich sei bei genauerem Hinsehen nicht wirklich mit dem erlebenden Ich identisch, es berichte die Ereignisse vielmehr aus der Rückschau, was es in die Lage versetze, aufgrund des zeitlichen Abstandes zur Handlungsebene Kommentare und Bewertungen über die Ereignisse und Handlungsweisen der Beteiligten abzugeben. (Glasenapp 2001, S. 106)
LITERATUR
Besprochene und erwähnte Primärliteratur
Damm, Dörte: Daphne Wildermuth. Die Tochter des Jakobiners. Wien: Ueberreuter 2003.
Everwyn, Klas E.: Für fremde Kaiser und kein Vaterland. Würzbürg: Arena 1995.
Everwyn, Klas E.: Der kleine Tambour und der große Krieg. Stuttgart: Union 1987.
Hetmann, Frederik: Moses oder Die Entdeckung Gottes. Würzburg: Arena 2005.
Heck, Sigrid: Der Fremdling. Stuttgart: Thienemann 2001.
Holub, Josef: Der rote Nepomuk. Weinheim: Beltz & Gelberg 1993. Taschenbuchausgabe: Weinheim: Beltz & Gelberg 1997 (Gullivers Bücher; 78262).
Holub, Josef: Bonifaz und der Räuber Knapp. Weinheim: Beltz & Gelberg 1996. Taschenbuchausgabe: Weinheim: Beltz & Gelberg 1999 (Gullivers Bücher; 78335).
Holub, Josef: Lausige Zeiten. Weinheim: Beltz & Gelberg 1997. Taschenbuchausgabe: Weinheim: Beltz & Gelberg 1998 (Gullivers Bücher; 78838).
Holub, Josef: Schmuggler im Glück. Weinheim: Beltz & Gelberg 2001 (Gullivers Bücher; 78874).
Holub, Josef: Der Russländer. Hamburg: Oetinger 2002.
Kordon, Klaus: Brüder wie Freunde. Weinheim: Beltz & Gelberg 1978. Taschenbuchausgabe: Weinheim: Beltz & Gelberg 2001 (Gullivers Bücher; 78433).
Kordon, Klaus: Einer wie Frank. Weinheim: Beltz & Gelberg 1982. Taschenbuchausgabe: Weinheim: Beltz & Gelberg 2001 (Gullivers Bücher;78435)
Kordon, Klaus: Tage wie Jahre. Weinheim: Beltz & Gelberg 1986. Taschenbuchausgabe: Weinheim: Beltz & Gelberg 2001 (Gullivers Bücher;78434).
Kordon, Klaus: Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter. Weinheim: Beltz & Gelberg 1984. Taschenbuchausgabe: Weinheim: Beltz & Gelberg 1999 (Gullivers Bücher; 771).
Kordon, Klaus: Mit dem Rücken zur Wand. Weinheim: Beltz & Gelberg 1990. Taschenbuchausgabe: Weinheim: Beltz & Gelberg 1999 (Gullivers Bücher; 793).
Kordon, Klaus: Der erste Frühling Weinheim: Beltz & Gelberg 1993. Taschenbuchausgabe: Weinheim: Beltz & Gelberg 1999 (Gullivers Bücher; 802).
Kordon, Klaus: Julians Bruder. Mit einem Nachwort des Autors. Weinheim: Beltz & Gelberg 2004.
Parigger, Harald: Der schwarze Mönch. München: Egmont Franz Schneider 1994. Taschenbuchausgabe: München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998.
Parigger, Harald: Im Schatten des schwarzen Todes. München: Egmont Franz Schneider 1998. Taschenbuchausgabe: München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998 (dtv junior 70633).
Pressler, Mirjam: Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anne Frank. Weinheim: Beltz u. Gelberg 1992.
Pressler, Mirjam: Sylocks Tochter. Frankfurt a.M.: Alibaba 1999.
Pressler, Mirjam: Malka Mai. Weinheim: Beltz u. Gelberg 2001.
Pressler, Mirjam: Die Zeit der schlafenden Hunde. Weinheim: Beltz & Gelberg 2003.
Röhrig, Tilman: Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück. Hamburg: Dressler 1999.
Wickenhäuser, Ruben Philipp: Mauern des Schweigens. Esslingen, Wien: Esslinger Verlag J. Schreiber 1999.
Wickenhäuser, Ruben Philipp: Gräben der Worte. Esslingen, Wien: Esslinger Verlag J. Schreiber 2001.
Zitelmann, Arnulf: Mose, der Mann aus der Wüste. Weinheim: Beltz u. Gelberg 1991.
Sekundärliteratur
Franz, Kurt: Lese- und Medienverhalten von Schülerinnen und Schülern der 8. Jahrgangsstufe. Ausgewählte Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in vier Bundesländern. In: Franz, Kurt/Payrhuber, Franz-Josef (Hrsg.): Lesen heute. Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen und Leseförderung im Kontext der PISA-Studie. Balmannsweiler: Schneider 2002 (Schriftenreihe der deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Volkach; 28), S. 2-25.
Gelberg, Hans-Joachim: Bücher in die Hand gegeben! In: Werkstattbuch Klaus Kordon. Weinheim: Beltz u. Gelberg 1993, S. 3-6.
Glasenapp, Gabriele von: Die Zeitalter werden besichtigt. Zur Inszenierung von Geschichte in der neueren historischen Kinder- und Jugendliteratur. In: Ewers, Hans-Heino u.a. (Hrsg.): Jugendliteraturforschung 2000/2001. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 99-115 .
Kordon, Klaus: Ich hätte nie gewagt, so etwas zu erfinden. Gespräch [von Reinhard Osteroth] mit Klaus Kordon über seinen neuen Roman "Julians Bruder", sowjetische Internierungslager und ein Happy-End. In: Die ZeitLiteratur, November 2004, S. 18.
Payrhuber, Franz-Josef: Zwischen Roman und Sachcomic. Erzählformen in Büchern zur Geschichte für junge Leserinnen und Leser. In: Lange, Günter/Franz, Kurt (Hrsg.): Von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Historisches in der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler: Schneider 2004, S. 235-259.
Pleticha, Heinrich: Geschichtliche Kinder- und Jugendliteratur. In: Lange, Günter: Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1. Baltmannsweiler: Schneider 2000, S. 445-461.
Sauer, Michael: Historische Kinder- und Jugendliteratur. In: Geschichte lernen 1999, H. 71, S. 18-26.
Zimmermann, Holger: Geschichte(n) erzählen. Geschichtliche Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2004.
10.1. Innovationen in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL)
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