Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Juni 2006 | |
12.1. Reisen und Ortswechsel: Interdisziplinäre Perspektiven |
Arnold Groh (Technische Universität Berlin)
[BIO]
Bewegung ist nicht nur irgendein Motiv in Itzik Mangers Texten. Zwar hat Manger auch Gedichte geschrieben, in denen Bewegung nur eine minimale Rolle spielt. Aber es ist die Beziehung zur Bewegung, die sehr viel von der Person dieses Literaten und von seinem unsteten Leben widerspiegelt. Insbesondere in seinen surrealistischen Gedichten kommt der Bewegung eine Funktion zu, die geradezu essentiell ist - ohne das Motiv der Bewegung würde bisweilen jener Surrealismus schlichtweg nicht "funktionieren".
Zunächst aber einige Eckdaten zur Person des Dichters Itzik Manger: Geboren wurde er 1901 in Tschernowitz in der Bukowina, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Die Familie zog 1914 nach Iaşi in Rumänien um. Die Jahre von 1919 bis 1929 waren gekennzeichnet von der Mobilität des Poeten zwischen Bukarest, Warschau und der Bukowina . Gegen Ende dieser Phase begann die Blütezeit seiner literarischen Tätigkeit in Warschau. Diese Zeit intensiven Schaffens währte von 1928 bis 1938 . Manger gelang die Flucht vor dem über Osteuropa hereingebrochenen Nationalsozialismus. 1939 kam er nach Paris, 1940 mußte er weiter fliehen und kam nach England . 1951 siedelte er in die USA über, und 1967 zog er schließlich nach Israel, wo er kurze Zeit später, 1969, in Gedera starb.
Die Alijah, die Migration nach Israel, hat er in einem seiner beeindruckendsten Gedichte besungen - "Ch’hob sich jorn gewalgert", was soviel heißt wie "Ich habe mich jahrelang herumgetrieben" oder "Ich habe jahrelang ein unstetes Leben geführt":
Ch’hob sich jorn gewalgert in der fremd
Itzt for ich sich walgern in der hejm(Ich hab’ mich jahrelang in der Fremde herumgetrieben,
Jetzt fahre ich, mich zuhause herumzutreiben.)(1)
Im deutschen Sprachraum wurde besonders sein Werk "Das Buch vom Paradies" bekannt, das in der 1962 erschienenen deutschen Fassung lange Zeit auf den Bestsellerlisten blieb. Seitdem ist Manger jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten, was, wie schon bei ansatzweiser Beschäftigung mit seinen Texten klar wird, bedauerlich ist. Dieser Dichter, der die deutsche Literatur liebte und, wie von einem Zeitzeugen zu erfahren ist, über ein äußerst beeindruckendes Wissen der Literaturgeschichte verfügte (Kittner, 1979), sollte wieder Beachtung im literarischen Diskurs finden. Itzik Manger ist als dichterisches Phänomen, das er unbestritten ist, bislang kaum erforscht.
Die Funktionen der Bewegung in Mangers Texten sind vielfältig. Bewegung taucht auf als integrativer Bestandteil der Erzählung, dem, je nach Kontext, gleichzeitig eine Symbolfunktion interpretativ zuzuerkennen ist. Das Surreale kann aber auch stark überhandnehmen, wobei die Bewegung dann eben diesem Zweck dient, nämlich der Herausstellung des Traumhaft-Unwirklichen, hinter welchem aber dennoch eine Ebene liegt, die sich dem Rezipienten als etwas Verschlüsseltes aufdrängt.
Ein Beispiel, zunächst für einen sehr realen, sehr konkreten Text aus Mangers Feder, ist seine Nacherzählung eines Reiseberichts von Efraim Kaganowski, die 1960 im New Yorker "Weker" erschien.(2) Der Zug als Mittel der Fortbewegung hat hier weniger symbolische, gleichwohl aber zentrale Bedeutung:
Es war unmittelbar nach dem Krieg. Noch wüteten polnische Banden. Die wenigen Juden, die überlebt hatten, waren ihnen ein Dorn im Auge. So ermordete man sie hier oder da, wo es sich eben traf - die letzten Juden in Polen. Vor allem Bahnfahrten waren gefährlich. Hielt der Zug an kleineren Bahnhöfen an, drangen bewaffnete Banditen ein, holten jeden Juden heraus und erschossen ihn an Ort und Stelle.
"Der Waggon, in dem wir fuhren, war voller Polen (...) jedesmal, wenn sich der Zug einer kleinen Bahnstation näherte, wuchs die Gefahr. Selbstverständlich waren wir nervös und sogar blass. Jeden Moment konnte es geschehen. (...) Doch wen kümmerte es? Es mangelte sicher nicht an Antisemiten in diesem Waggon, in diesem Zug oder in Polen ganz allgemein."(3)
Dieser Text ist insofern außergewöhnlich, als er zu den relativ wenigen zählt, in denen Manger einen Inhalt in Form eines Berichts vermittelt. Aber auch hier kommt seine Kunst klar zur Entfaltung: Mit ein paar Worten umreißt er das allgemeine Setting und die spezielle Situation der Bahnfahrt. Eine explizite Wertung des Geschehens zu formulieren ist gar nicht nötig, so klar sind die knappen Sätze formuliert.
Bekannter sind allerdings jene Gedichte Mangers, in denen weltanschauliche Perspektiven oder auch Darstellungen des Zeitgeschehens über die Symbolisierung in den Text geführt werden. Manger, ein Meister darin, mit wenigen, aber sehr präzisen Begriffen Schlaglichter zu erzeugen, läßt Situationen nacherlebbar werden und vermittelt Stimmungen. Manger ist mit Chagall verglichen worden (Telaak, 2005), und das mag ihm geschmeichelt haben, aber hinsichtlich seiner surrealistischen Texte wäre wohl ein Vergleich mit Dalí treffender. Von Dalí heißt es, er habe eine Leinwand neben seinem Bett stehen gehabt, so daß er des Morgens sofort seine Traumbilder habe festhalten können. Wenngleich Manger seine Gedichte in (mehr oder weniger) wachem Zustand anfertigt haben dürfte, schöpften doch beide, der Dichter wie der Maler, aus vergleichbarer Quelle, aus dem kollektiven Pool der Symbole. Wollen wir diese Symbole rückübersetzen, so müssen wir den Weg der Verschlüsselung in umgekehrte Richtung beschreiten. In beiden Fällen können wir die Kunstwerke gewissermaßen auf die Couch legen, um sie zu analysieren.
Der manifeste Inhalt Mangerscher Texte ist im Stetl und in der osteuropäischen Umwelt der Zeit vor der Shoah angesiedelt. Ob es nun biblische Berichte sind, die der Dichter in eigenwilliger Weise nacherzählt, oder ob es Autobiographisches ist, das er in Schriftform gießt, der Kontext trägt die charakteristischen Züge der Welt, in der Manger aufgewachsen ist. So wird in der Gedichtreihe, mit der Manger das Buch Ruth wiedergibt, Elimelech, der Schwiegervater Ruths, zu einem Müller, der im Lande Moab, das dem Anschein nach in Osteuropa liegt, eine Windmühle betreibt, und als nach seinem Tode die Witwe Naomi aufbricht, um wieder ins Gelobte Land zurückzukehren, säumen Linden den Weg, den sie mit ihren blonden und offenbar polnischen Schwiegertöchtern geht. Dabei wird jedoch nicht einfach in skurriler Weise eine Geschichte neu formuliert, sondern es haben die Erzählelemente Symbolfunktion. Die Frauen gehen zu Fuß, halten am Wegesrand mit "Kornbrot und Wein" ein "Festmahl", wobei der Text einige Elemente der Flucht widerspiegelt, wie sie viele Menschen in den Kriegsjahren erleben mußten. Die Linde, Baum der Deutschen, steht nicht solitär und romantisch vor der Schenke; vielmehr stehen die Linden in Reih’ und Glied, und Manger berichtet von ihrer "benkschaft", der Sehnsucht, nach dem wilden Wald, die ihre zeitgeschichtliche Entsprechung im Griff Deutschlands nach Osteuropa hat, wie er im Zweiten Weltkrieg erfolgte.
So, wie das kollektive Unbewußte auch in unserem Alltag Metaphern, Sprichwörter, Träume und Märchen nährt,(4) fließen Symbole in Mangers surrealistische Texte ein. Diese Symbole sind transformierte Aspekte seiner Weltanschauung und des von ihm wahrgenommenen Zeitgeschehens. In der Analyse der Texte lassen sich nun zunächst r hetorische Mittel herausarbeiten, wie etwa die Inversion (ein Beispiel hierfür liefert die Hannchen-Ballade, s. Manger, 1952). Andere Elemente bestehen in Situational Cues, die halachische Perspektiven wiedergeben. So erschließt sich nur demjenigen, der mit den Ritualen vertraut ist, der Zeitpunkt, zu dem das Gedicht "Nami sogt ‛Got fun Awrom’" (Naomi sagt: "Gott von Abraham") spielt: Es ist Schabbat-Ende, also der Einbruch der Nacht am Samstagabend, und Naomi ist in Trauer. Was die alte Naomi flüstert, ist das Hawdalah-Gebet. Sie hatte die Trauer für die Dauer des Schabbats unterbrochen.
"Got fun Awrom, groißer Got, |
"Gott von Abraham, großer Gott, |
(Vgl. Manger, 1952, S. 263)(5) |
Auch die Bemerkung am Schluß des Gedichts, der zufolge es draußen nach Heu und Wind rieche, in der Stube hingegen nach "Got fun Awrom", mag denjenigen, die mit den religiösen Details unvertraut sind, wie bloße Rhetorik vorkommen, so daß sie das Ritual des in Hoffnung auf eine gute Woche An-der-Gewürzbüchse-Riechens nicht erkennen.
Eine weitere Symbolebene ist in der Auswahl prototypischer Figuren im manifesten Inhalt begründet. Wieso etwa widmet Manger eine ganze Gedichtreihe der biblischen Figur Ruth? Ruth, die Moabiterin - eine Nichtjüdin also - ist die Urgroßmutter König Davids. Es gibt verschiedene Stellen, an denen eine Kritik an der halachischen Dogmatik der Matrilinearität durchschimmert, so auch in der Ballade von Hannchen, dem Waisenkind:
Wenn wir nun die in der Hannchen-Ballade verwendeten Metaphern und Symbole einer ersten Grobanalyse unterziehen, fallen sofort rhetorische Inversionen ins Auge: Bereits in den ersten Zeilen heißt es "hot zwei blonde oign / un a blo’en zop" - das Blonde und Blauäugige des nichtjüdischen Stereotyps(6) wird durch dieses Stilmittel verstärkt. Eine andere Inversion liegt in dem Umstand vor, daß nicht Hannchen zum Grab der Mutter geht, sondern daß - wie immer man sich das vorstellen soll - das Grab zu dem Waisenkind kommt. Die Symbole dieser Ballade schöpft Manger insbesondere aus Elementen der jüdischen Hochzeit; sowohl die Aufforderung zum Weinen, als auch das Siebenfache und die Verbindung zum Grab finden sich in diesem Traditionsbereich. Der Dichter ist allerdings nicht darauf aus, die Leser zum Gruseln zu bringen; vielmehr liefert er etwas Verschlüsseltes, das zum Dekodieren anregt.
Bei dem, was aus dem Grab kommt, liegen zwei neutestamentarische Aspekte vor: (1) der Auferstandene, (2) der Bräutigam; beide sind biblische Bezeichnungen des Messias und beide sind in Mangers Ballade personifiziert in dem, was im Tausch für die ersten sieben Tränen entsteht. Neutestamentarische Elemente sind bei Itzik Manger, dem jiddischen Dichter, allerdings nicht ungewöhnlich. Mit dem Christentum geht Manger ganz unbefangen um, Jesus taucht bei ihm ebenso auf wie Kreuz und Kloster, man spürt sein Bemühen, christliche Charaktere möglichst authentisch und empathisch darzustellen (z. B. Manger, 1993)(7). Suchen wir bei der Ballade in dieser Richtung weiter, so können wir eine elaborierte Verknüpfung des Geistlich-tot-Sein-Topos mit einer Inversion entdecken: Nicht die Toten begraben ihre Toten,(8) sondern die Tote bringt etwas hervor. Das, was für die Protagonistin "gestorben" war, tritt wieder in ihr Leben. - Die Trauung des Paares wird vom "Grand-Rabiner Moses" vollzogen. Daß es sich nicht um irgendeinen Geistlichen handelt, der zufällig den Namen Moses trägt, wird durch die Zusatzinformationen deutlich gemacht, er wohne in der Sternallee, und zwar in einem Haus mit Balkon. Dies vermittelt die Vorstellung von einem Moses, der im Himmel residiert, von wo er hinunter auf die Erde blicken kann, also offenbar Metaphern, die auf den biblischen Moses hinweisen sollen. Nun erweist sich Moses dem Paar gegenüber als der Verbindende. Adolf Diamant,(9) dessen Name den Prototyp des säkularisierten, assimilierten, wohlhabenden Juden suggeriert, wird mit Hannchen, dem Waisenkind vermählt. Dem bloßen Anblick nach scheint Hannchen nichtjüdisch zu sein, aber diese Etikettierung wird zugleich falsifiziert, da sie ja gleichen Ursprungs ist wie der Bräutigam. Nur für sie ist die Mutter tot, während der Bräutigam direkt von dem - erstaunlich lebendigen - Grab der Mutter hervorgebracht wurde, allerdings (1) unter Beteiligung Hannchens und (2) im Sinne der Wiederkunft, denn er war ja früher schon einmal dagewesen ("schoin einmol, zweimol a choßn"). Bei der Wiederkunft wird er nicht wie ein kleines Kind geboren, sondern ist sogleich komplett da. Die sieben Tränen, die für dieses Hervorbringen nötig sind, erinnern an die Schiwe, an die sieben Tage der Trauer nach dem Tod eines Angehörigen. Die Symbolik der Verbindung, die sich zum einen auf die Religionen beziehen läßt, liegt zum anderen in dem Faden vor, durch den die Akteure mit dem Grab verbunden bleiben. Zwar gibt es wiederholt die Initiative, die Verbindung zu kappen - Hannchen schneidet sowohl den Bräutigam als auch die Tochter vom Grab ab - doch dieses läßt sich nicht so leicht abschütteln, hüpft ihnen hinterher und bleibt auch durch "a dinem fodim" mit ihnen verbunden. Gleichwohl mangelt es nicht an weiterem Bemühen, es loszuwerden. Denn auch die taktlos erscheinende Bemerkung des Schwiegersohns, der er nun ist und der nun das Grab als Schwiegermutter anredet, sie könne gehen, man brauche sie nicht mehr, beabsichtigt ja die Demission dieser surreal dargestellten Instanz. Ein sinnloses Unterfangen, ist doch die Verbindung ein unveränderbares Faktum. Hier mag eine Anspielung auf theologische Strömungen vorliegen, die bestrebt sind, das Alte Testament auszublenden. Das Motiv des Fadens, das aus dem osteuropäischen Volksaberglauben sowohl im Zusammenhang mit dem Kindbett, als auch mit Gräbern bekannt ist, rückt in dieser Ballade (wie in der bereits erwähnten Ruth-Gedichtreihe) wiederum die Thematisierung der Matrilinearität ins Blickfeld. Die Mutter-Tochter-Beziehung wird deutlich hervorgehoben, ebenso wie die zwischen Tochter und dem durch weitere sieben Tränen hervorgebrachten Töchterchen. Das halachische Dogma der Matrilinearität besagt, daß nur derjenige Mensch jüdisch sei, dessen Mutter jüdisch ist. Damit steht es im Widerspruch zur Bibel, in der zum einen die väterlichen Abstammungslinien zentrale Bedeutung haben und die zum anderen entscheidende Anweisungen an die Israeliten mit der expliziten Klarstellung "ihr und alle eure Nachkommen, zur ewigen Weise"(10) richtet. Also nicht nur einige Nachkommen, sondern alle. Das halachische Dogma der Matrilinearität dürfte erst zur Zeit der Kreuzfahrer entstanden sein: Nachdem jüdische Frauen Kinder von den im Heiligen Land stationierten Soldaten geboren hatten, wurden diese Kinder als Teil der jüdischen Gemeinschaft betrachtet, weil ja die Mutter Jüdin war. Diese aufnehmende Regelung, die sich im übrigen ganz selbstverständlich aus der erwähnten Aussage der Thorah ergibt, mutierte allerdings in der Folgezeit zu einer Regelung des Ausschlusses, mit der die Hälfte der aus Mischehen Stammenden vor die Tür der Gemeinschaft gesetzt wurde, indem sämtliche Kinder von jüdischen Vätern, die von einer nichtjüdischen Mutter geboren waren, als prinzipiell nichtjüdisch betrachtet wurden. Erst das Aufkommen des Reformjudentums erhob hier Einspruch. Je nach Orthodoxie des Umfeldes wurden reformerische Gedanken aber sehr vorsichtig vorgetragen. Dies mag die starke symbolische Verschlüsselung bei Manger erklären. Sie hat ihre Entsprechung bei anderen Literaten, die in anderen dogmatischen Kontexten ihre Kritik in einer Form vorbringen, die von denen verstanden werden kann, die die Reflexionen teilen oder nachzuvollziehen bereit sind, wobei der Text in seiner oberflächlichen Manifestation nicht-politisch oder auch nicht-theologisch erscheint. Opposition gegen die Orthodoxie ist durchaus typisch für die im jiddischen Sprachraum Osteuropas entstandene Literatur. Weitaus deutlicher als Manger ist J. L. Peretz. In "Der Din-Toire mitn wint", "Di frume kaz" oder "Oib nit noch hejcher" kritisiert er die steinerne, ja unmenschliche Härte orthodoxer Argumentations- und Verhaltensmuster.(11) - Nun erscheint die Betonung der Mutter-Tochter-Töchterchen-Verbundenheit mit Blick auf die nichtjüdischen Features des Waisenkindes einigermaßen erstaunlich, doch gerade das ist Teil der symbolischen Rhetorik. Die Verknüpfung der in matrilinearer Folge stehenden Charaktere jeweils mit dem Grab, das gleichzeitig gebiert, und die Verbundenheit von stereotyp jüdischen und nichtjüdischen Figuren mit ein und derselben hervorbringenden Instanz weist auf die real existierenden Widersprüchlichkeiten hin. Und hätte man Manger gefragt, warum er eine Blonde zur zentralen Person der Ballade erkoren hat, so hätte er wohl geantwortet, Gott ist der Vater aller Menschen - auch der blonden.
Auffällig ist bei Manger der betonte Gebrauch von Zahlen. "Farwos epeß dafke sibn?" (warum denn gerade sieben?), "schoin einmol, zweimol a choßn" oder, in jenem (in gewisser Weise invertierten) «danse macabre», "tanzn, heißt eß fir". Manger arbeitet mit mehreren Bedeutungsebenen, und bei der Interpretation gelangt man schichtweise vom oberflächlich Dargestellten zu zunehmend verschlüsselten Strukturen. So ist es mit der Assoziation der sieben Tränen mit der Schiwe nicht getan. Die Verwendung der Zahlensymbolik ist als Gematrie in der jüdischen Tradition verankert. Sie beruht darauf, daß es im Hebräischen zunächst keine Ziffern gab. Numerische Informationen konnten dennoch ausgedrückt werden, weil Buchstaben zugleich Zahlenwerte hatten (s. Kasten). So enthalten beim Tallith, dem Gebetstuch, die Quasten durch die Anzahlen der Schnüre und Knoten das Tetragramm, den unaussprechlichen Gottesnamen. Auf vergleichbare Weise kann ein Dichter nicht nur mittels expliziter Nennung von Zahlen, sondern auch durch die Anzahl der Zeilen und der Strophen weitere Bedeutungen in das Gedicht "hineinweben".(12)
Ein anderer Text, in dem das Motiv der Bewegung sowohl übliche Symbolik besitzt - "der Zug des Lebens", der zugleich aber auch mit einem surrealen Erzählstrang einhergeht, ist das Gedicht "Auf dem Bahnhof Kalomei":
Hier läßt der Autor den Leser offenbar an seinen Gedanken teilhaben, die der Schreiber auf einer Bahnfahrt hatte. Träumend, aus dem Fenster schauend. Sich vorstellend, was wäre, wenn... Wenn dort meine Großeltern stünden. Meine Großeltern, die es nicht mehr gibt. - Hier wird der Text zu etwas Ähnlichem wie die Bilder, in denen Dalí seine Träume festhielt.
Ein anderes Stück, das gewisse Parallelen zu dem Kalomei-Gedicht aufweist, trägt den Titel "Mein sejde" (mein Großvater). Es ist das erste einer Reihe von 16 Sonetten, die Manger seinem Bruder Note (Nathan) gewidmet hat.
Der Surrealismus dieses Stückes drängt sich nicht auf, wie etwa in der Hannchen-Ballade, in der der Leser gleich mit einem blauzöpfigen Waisenkind konfrontiert wird, das des Nachts Besuch von einem Grab bekommt. Vielmehr kommt hier der Surrealismus ganz sanft daher - "Wir fahren (...) durch verspielte Jahre" - und steigert sich langsam. In der zweiten Strophe blutet nicht derjenige, der vom Dorn der Rose gestochen wurde, sondern die Rose blutet an ihrem Dorn. Aus dem zeitlichen Kontext der grausamen Verfolgung wird klar, worauf sich dieses Sinnbild bezieht. Nicht der vom Dorn Verletzte ist im Fokus dieser Zeile, sondern der (oder die, es ist ja eine Rose) Verletzende. Wer weiß, wie sehr Manger die deutsche Literatur liebte, versteht, warum er hier die Rose wählte. Ein gewandelter Tenor dann im nächsten Bild: Die rhythmisch singende Sense gemahnt an die beim Marschieren singenden Soldaten, die in Osteuropa einfielen, auch Sensenmänner auf ihre Art. Eine komplizierte Sender-Empfänger Relation dann in der letzten Zeile dieser Strophe: Der Autor schreibt, daß sein Großvater ihn, den meschuggenen Poeten, frage, ob er sich dies ausgedacht habe ...
Mühle, Brot und Tod der dritten Strophe haben übrigens ihre Entsprechungen in der Ruth-Reihe. In den ersten drei Strophen des Gedichts "Oifn Scheidweg" (Auf dem Scheideweg) wird dort statt der Wege, die zu Brot und Tod führen, der dritte Weg empfohlen, der zu Gott führt - eine der schönsten Stellen Mangerscher Dichtkunst.
In der letzten Strophe des Sonetts "Mein Großvater" bricht es schließlich wie ein Schrei aus dem Schreiber hervor: "Wu bißtu, alter sejde?" - Opa, wo bist du? Und dann eine grammatisch sehr komplizierte Form: "Ich lig a nischt derkoileter oif der akejde". Ich, ein Nichtgetöteter, liege auf der ... Hier versiegen die Möglichkeiten der wortgetreuen Übersetzung. Akejde ist ein Hebraismus, der in seiner Etymologie die Fesselung bezeichnet, die bei einem Tier vorliegt, das mit eingewinkelten Beinen zum Zwecke der Opferung gebunden wurde. "Akejde Jitzchok" ist eine feste Redewendung, mit der die nicht vollzogene Opferung Isaaks benannt wird. Bei Manger heißt es aber "oif der akejde". Will man dem "auf" Rechnung tragen, so könnte man versucht sein, dies mit "auf der Schlachtbank" wiederzugeben. Aber das wäre weniger korrekt. Er ist ja eben nicht geopfert worden, ebensowenig wie Isaak. Manger ist dem Tode entronnen. Und von Großvaters müden Pferden sieht er bloß die Schatten. Ihn sieht er nicht mehr.
Was bleibt? Und was können wir als Ausblick formulieren? Manger bietet ein weites, ergiebiges Forschungsfeld; bislang ist wenig bekannt über die Rollen der verschiedenen Quellen, aus denen er geschöpft hat und über die Faktoren, die bei der Entstehung der Werke Einfluß hatten. Wie sah das Zusammenspiel dieser Faktoren aus, wie deren Hierarchie? Auch wären die Filterfunktionen genauer herauszuarbeiten bzw. die Mechanismen, nach denen beispielsweise biblische Geschichten umgeformt und in ein jiddisches Setting integriert wurden. Eine Systematisierung der unterschiedlichen Aussage-Intentionen steht ebenfalls noch aus, wie im Hinblick auf die Kritik an bestimmter religiöser Dogmatik, die mit der impliziten Aufforderung nach Ausrichtung auf die Wahrheit verbunden ist, oder auch im Hinblick auf die Darstellung der persönlichen Situation des Dichters. Weiterhin harren eventuelle gematrische Funktionen ihrer Untersuchung, sei es hinsichtlich der expliziten Zahlennennungen oder hinsichtlich des jeweiligen Versaufbaus.
Die Analyse Mangerscher Texte konnte hier nur in Ansätzen demonstriert werden. Aber vielleicht hat das ja Neugier geweckt. Itzik Manger hat literarische Schätze hinterlassen. Auch nach mehr als zwei Jahrzehnten, die ich mich mit Mangers Texten beschäftige, entdecke ich stets Neues und Überraschendes.
© Arnold Groh (Technische Universität Berlin)
ANMERKUNG
(1) Vgl. Manger (2005).
(2) Vgl. Jendrusch (Hrsg., 1999)
(3) diese Übersetzung in Jendrusch (Hrsg., 1999), S. 158f
(4) Den Symbolfunktionen liegen übrigens Formen der Speicherung zugrunde, die sich auch auf neurologischer Ebene aufzeigen lassen. Zu den Wegbereitern der Erforschung dieser Mechanismen zählen Collins & Quillian (Überblick: Mayer, 1979).
(5) Transkription und Übersetzung: A. G.
(6) Auch beispielsweise in "Nami sogt ‛Got fun Awrom’" und "Di balade fun dem Jid woß is dergangen fun gro bis blo" setzt Manger diesen Stereotyp ein (vgl. Manger, 1952, S. 264f, 347-351).
(7) "Alte frailins" (Manger, 1993, in: Steinbaum, 1993, S. 42-45)
(8) Vgl. Mat. 8:22; Luk. 9:60.
(9) Daß es einen Autor gleichen Namens gibt, dürfte Zufall sein, und es ist nicht bekannt, ob sich die Wege von Manger und Diamant gekreuzt haben; letzterer wurde 1924 in Chemnitz geboren, 1939 mit seiner Familie ins Ghetto Lodz und später nach Auschwitz deportiert. Adolf Diamant als einziger Überlebender recherchierte und publizierte zu jüdischen Gemeinden und deren Zerstörung. Seine Untersuchungen zu jüdischen Friedhöfen (vgl. Diamant, 1982; 2000), die eine thematische Nähe zur Hannchen-Ballade aufweisen, entstanden lange nach Mangers Tod.
(10) 2. Mos. 12:14,17
(11) Diese jiddische Literatur, die die (insbesondere im Baltikum beheimatete, "litwakische") Orthodoxie kritisierte, wurde in der Zeit ihrer Entstehung als chassidisch bezeichnet. Insofern erscheint es als Ironie des Schicksals, daß die Vertreter der jetzt wieder erstarkten Orthodoxie in Israel "Chassidim" genannt werden.
(12) Worte bzw. Wortwurzeln, die sich ad hoc aus Zahlenmustern der Hannchen-Ballade ergeben, wären z.B. זזב (rauben, plündern), דבא (umherirren), באז (Wolf).
(13) diese lateinische Schreibweise des Vornamens ebd.
(14) diese lateinische Schreibweise des Vornamens ebd.
(15) diese lateinische Schreibweise des Vornamens ebd.
LITERATUR
Diamant, Adolf: Jüdische Friedhöfe in Deutschland - eine Bestandsaufnahme. Frankfurt/Main, 1982
Diamant, Adolf: Geschändete jüdische Friedhöfe in Deutschland 1945-1999. Potsdam, 2000
Groh, Arnold (Hrsg.): beWEGung. Akademische Perspektiven auf Reisen und Ortswechsel. Berlin: Weidler, 2005
Jendrusch, Andrej (Hrsg.): Itzik Manger - Ich, der Troubadour. Berlin: Dodo, 1999
Kittner, Alfred (1979): Erinnerungen an den Poeten Itzik Manger (Orig.: Bukarest). In: Jendrusch, Andrej (Hrsg.): Itzik Manger - Ich, der Troubadour. Berlin: Dodo, 1999, 5-14
Manger, Itzik: Lid un balade. New York, 1952
Manger, Itzig(13) (1993) in: Steinbaum, Anna Esther: Gedichte und Balladen - Itzig(14) Manger, Chaim Zeltzer. Jerusalem: Tzur-Ot Press, 1993, 9-71
Manger, Itzik: Ich hab’ mich jahrelang herumgetrieben. Mit Transkription, Übersetzung und Anmerkungen von Arnold Groh. In: Groh, Arnold (Hrsg.): beWEGung. Akademische Perspektiven auf Reisen und Ortswechsel. Berlin: Weidler, 2005, 79-84
Mayer, Richard E.: Denken und Problemlösen. Eine Einführung in menschliches Denken und Lernen. Berlin / Heidelberg, 1979
Peretz, Yitzhok Leib: Ale verk fun Y. L. Peretz. The complete works of Y. L. Peretz. New York: CYCO, 1947
Steinbaum, Anna Esther: Gedichte und Balladen - Itzig(15) Manger, Chaim Zeltzer. Jerusalem: Tzur-Ot Press, 1993
Telaak, Anastasia: Von der Kunst, sich zu verschenken. Die Gedichte des großen jiddischen Dichters Itzik Manger aus Czernowitz. Die Zeit, 21. 7. 2005 (Nr. 30)
12.1. Reisen und Ortswechsel: Interdisziplinäre Perspektiven
Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections
Inhalt | Table of Contents | Contenu 16 Nr.