Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juni 2006
 

12.1. Reisen und Ortswechsel: Interdisziplinäre Perspektiven
Herausgeber | Editor | Éditeur: Arnold Groh (Technische Universität Berlin)

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Pendeln in interamerikanischen Kulturkontaktzonen

Yvette Sánchez (Universität St. Gallen)
[BIO]

 

Abstract

Als Begleiterscheinung der zunehmenden Mobilität und medialen Vernetzung werden Migranten zu Pendlern, besonders wenn Ursprungs- und Zielland geographisch nah beieinander liegen, wie im Falle der Latinos oder Hispanics in den Vereinigten Staaten. Das Hin und Her entlang der beiden Hauptmigrationsachsen Mexiko/Zentralamerika - Südwesten und Karibik - Ostküste (bis New York) ermöglicht den ständigen und engen Kontakt zur alten Heimat und erfordert eine permanente Ent- und Reterritorialisierung.

Diese (translatorischen) Prozesse steigern, zusammen mit dem demographischen Faktor des massiv wachsenden Bevölkerungsanteils lateinamerikanischer Einwanderer in den USA, deren Selbstbewusstsein und Selbstdarstellung.

Im Referat wird die literarische Verarbeitung solcher transnationaler Dynamik vorgestellt. Wie gehen die Latino-Schriftsteller mit ihrer Bikulturalität um?

Vor allem sollen Raumerfahrungen der soziokulturellen Pendelbewegung in ein paar paradigmatischen Prosatexten ausgelotet werden, die an Transitorten, angesiedelt sind, an denen die Grenze zwischen Nord und Süd überschritten wird: Zoll, Flughafen, Flugzeug, sogar ein Reservat.

Luis Humberto Crosthwaite nimmt sich der Zwillingsstädte Tijuana/San Diego an, Luis Rafael Sánchez des Pendlerflugzeugs zwischen Puerto Rico und New York, Roberto Quesada der Einreise am Zoll von Miami International Airport, Roberto Fernández eines Reservats für vertriebene angelsächsische Weisse in South Beach/Miami.

In welche diskursive Schwingungen versetzen besagte Schauplätze interamerikanischer, transkultureller Kontaktzonen die Schriftsteller dieser noch jungen, aufstrebenden Latino-Literatur? Soviel sei schon verraten: der Umgang mit dem Switching ist meist spielerisch, humorvoll, pikaresk, ironisch distanziert, fragmentarisiert, elastisch, transgressiv, ideenreich - vielleicht auch "innovativ".

Keywords: Nord- und Lateinamerika retour; gewerbliche Mobilität; interamerikanische Binnenwanderung

 

Während bei früheren Einwanderungsschüben in den Vereinigten Staaten die Rückkehr der Migranten in ihre einstige Heimat (England, Irland, Russland, Italien) durch die geographische Distanz erschwert war, ermöglicht die Binnenmigration auf dem amerikanischen Kontinent, von Süden nach Norden, das Reisen der Latinos oder Hispanics in ihr Ursprungsland problemloser; sie fühlen sich kontinental heimisch. Als Begleiterscheinung der zunehmenden Mobilität und globalen Vernetzung im Medienverbund, auch der gesunkenen Telekommunikations- und Flugpreise können die lateinamerikanischen Immigranten in den USA sogar zu Pendlern werden, die regelmässig und selbstverständlich zwischen Ursprungs- und Zielland hin und her reisen.

Die Pendlerströme schwellen an, das Pendlernetz verdichtet sich und wird immer vielfältiger. Das interamerikanische Hin und Her der Latinos, die im nördlichen Wirtschaftsraum ihren Arbeitsplatz finden und immer wieder einmal "nach Hause" fahren möchten, verwandelt vor allem die Grenzräume in dynamische Zonen, die Mobilitätsforscher zunehmend interessieren dürften.(1) In diesem migratorischen Zwischenreich lassen sich aktuelle Lebenserfahrungen mit der Heimat teilen und Parallelwelten aufbauen. Im Zusammenhang mit der starken Rückbindung der Migranten und Grenzgänger an das Herkunftsland zieht der Performance-Künstler Guillermo Gómez-Peña die Metapher des Möbius- oder Endlosbandes heran.(2)

Durch ein direktes, physisches Aufrechterhalten des Kontakts zum Herkunftsland fühlen sich die Migranten im Zielland weniger gefangen oder ausgeliefert und bewegen sich dort mit gestärktem Selbstvertrauen. Letzteres ist aber vor allem auch auf die massiv gewachsene Präsenz der lateinamerikanischen Einwandererschaft im Gastland USA zurückzuführen(3), die sich inzwischen in einer neuen Nebenkultur, nicht Subkultur wieder findet, mit gesteigertem Drang nach künstlerischer Selbstdarstellung.

Die Pendelbewegungen decken nicht nur den Arbeits-, sondern etwa auch den Gesundheits- oder den Tourismussektor ab und treten freilich ebenso in sprachlichen oder identitären Konstruktionen auf. Das Bilinguismus-Phänomen des Codeswitching, des beständigen Umschaltens zwischen Spanisch und Englisch, auch innerhalb eines Satzes, wie in Mischsprachen (Pidgin, Kreol) üblich, ist im Falle des Spanglish besonders ausgeprägt.(4) Gleiches gilt für das gesamtkulturelle Zugehörigkeitsgefühl. Ist man nun Mexikaner oder Nordamerikaner? Gustavo Pérez Firmats ‘Leben auf dem Bindestrich’(5) treibt seine Blüten, wie bei der Protagonistin aus Julia Álvarez’ Roman ¡Yo! (1997), einer Pendlerin zwischen der Dominikanischen Republik und den USA, die sich eine "Dominican-American-USALatina" nennt.(6)

Das Hin- und Zurückreisen entlang der beiden Hauptmigrationsachsen Mexiko/Zentralamerika - Südwesten und Karibik - Ostküste (bis New York) ermöglicht den ständigen und engen Kontakt zur alten Heimat und erfordert eine permanente Ent- und Reterritorialisierung oder Rekontextualisierung.(7)

Neben dem offensichtlichen Merkmal der geographischen Nähe spielen für die Pendelfrequenz nicht zuletzt die politischen Beziehungen zwischen den USA und dem jeweiligen Ursprungsland eine Rolle. Puerto Rico, seit 1952 "freier Assoziativstaat" der USA (Estado Libre Asociado) unterstützt das Pendeln bei offener Grenze eher als etwa Kuba, dessen Exilanten nur selten frei hin und her reisen dürfen; die Einbürgerung kubanischer Flüchtlinge geht zwar problemlos vonstatten, aber nachher gibt es oft kein Zurück mehr. Davon unterscheidet sich wiederum der Status der weit zahlreicheren mexikanischen Migranten im Südwesten, die sich durch eine repressive Immigrationspolitik häufiger illegal im Land aufhalten müssen.

Der politische Sonderstatus bestimmt die hohe Remigration, die Rückkehrerquote derjenigen Puertorikaner, die nach der Emigration wieder die Insel als Lebensmittelpunkt wählen. Die US-Staatsbürgerschaft erleichtert die Zirkulation zwischen Insel- und Festland, was Puerto Rico das Etikett einer Pendlernation eingetragen hat.(8) Tatsächlich reisen die Insulaner ausgesprochen häufig aufs Festland (Hauptdestination USA), wie eine unlängst durchgeführte empirische Befragung ergab.(9)

Sei es nun per E-mail und Internet oder über die Remesas, die massiven Geldüberweisungen ins Ursprungsland (sowohl über private, familiäre als auch über kollektive, karitative Zahlungen), die Rückbindung an die Heimat wird, wo und wie immer möglich, gefestigt. Das kann soweit gehen, dass der in Miami wohnhafte Kolumbianer Jairo Martínez (Agent der Popsängerin Shakira) einen Sitz im kolumbianischen Parlament ergattert und die rund zwei Millionen Kolumbianer in den USA "daheim" zu vertreten hat.

Die Intensität des Bezugs zum Ursprungsland wird ganz entscheidend geprägt durch die Generationenfrage. Im Normalfall nimmt die Pendelmobilität mit jeder Generation ab.

Darauf bezieht sich der für seinen bissig humorvollem Ideenreichtum und seine karnevalesken, heiteren Plots bekannte kubanisch-amerikanische Schriftsteller Roberto G. Fernández in der kurzen Erzählung "Tatiana"(10). Mit einer olfaktorischen Metapher spielt er auf die von Generation zu Generation zusehends verschwindende kubanische Kultur in Miami an. Ein blinder Grossvater fragt seine Enkelin am Strand in Miami nach der genauen geographischen Position seines imaginären, rund 200 Kilometer entfernten Cuba, da er in nostalgisch idealisierender Vaterlandsehnsucht die von der Insel herkommende Brise einatmen wolle. Das Mädchen assoziiert mit dem Namen des Ursprungsorts ihrer Vorfahren aber lediglich noch ein Restaurant, in dessen Umgebung die Luft nach Knoblauch, Zwiebeln und Fett stinkt.

Anhand literarischer Texte wollen wir drei der Pendler- oder Transitzonen fokussieren: das mittlerweile bikulturelle Miami als Dreh- und Angelpunkt der Flugreisenden zwischen Süd und Nord; die rund 3000 Kilometer lange, direkte, mexikanisch-amerikanische Grenze, komprimiert im kontaktzonalen Laboratorium der Zwillingstädte Tijuana/San Diego; und den "Flugbus", das Pendlerflugzeug zwischen Puerto Rico und New York. Die literarische Verarbeitung solch transnationaler Dynamik reflektiert bis zu einem gewissen Grad den Umgang der Latino-Schriftsteller mit ihrer Bikulturalität, ihren schwankenden, hybriden, aufgesplitteten, rhizomatischen Identitäten, und generiert eine Literatur ‘in Bewegung’, ‘ohne festen Wohnsitz’.(11)

Die Puertorikaner siedeln ihre Identität in einer transnationalen Zone zwischen Insel und Festland an und bedienen sich des Bindestrichs weit weniger häufig als ein Mexican-American oder Cuban-American. Migrationsmuster in Miami gestalten sich wiederum ganz anders als in der Transitzone an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Mit der dortigen hohen Pendelfrequenz kombinieren die Grenzgänger (trans-border residents) Wohnort, Staatsbürgerschaft, sozioökonomischen Status und Arbeits-/Schulort auf vielfältige Weise. Es gibt Doppelbürger mit mexikanischem und amerikanischem Pass, was das Arbeiten auf beiden Seiten der Grenze ermöglicht. Die Wohnkosten oder die Steuern auf der mexikanischen Seite sind natürlich tiefer. Grenzgänger (mit so genannten Laser Visa) dürfen sich bis zu 72 Stunden in Folge auf der anderen Seite aufhalten. Das Pendeln mit täglichen Grenzübertritten wurde unmittelbar nach 9/11 durch massive Verzögerungen von bis zu drei Stunden Wartezeit am Zoll Richtung USA beschwerlich, die sich aber inzwischen wieder auf eine Stunde reduziert hat. Die in der Landwirtschaft und im Baugewerbe tätigen mexikanischen Wanderarbeiter, die weitere Strecken zurücklegen müssen, pendeln saisonal (je nach Jobangebot).

Schon 1983 lieferte der puertorikanische Schriftsteller Luis Rafael Sánchez das humorvolle und viel beachtete Textbeispiel, "Der fliegende Omnibus"(12), welches das Pendlertum auch auf der Gattungsebene zelebriert, indem sich darin dokumentarisch-essayistische und belletristische Passagen ablösen. Das Transportvehikel der hier buchstäblichen "PanAmerican", vor allem das soziale Experimentierfeld der Touristenklasse wird mit dem "teatro popular urbano" eines Omnibusses in Puerto Rico verglichen: Zur Kontaktzone zwischen anglo-weisser Besatzung und puertorikanischen Fluggästen, zur Pendlerzone zwischen New York und San Juan, US-Staatsbürgerschaft und karibischem élan vital. Pausenloses Gelächter (relajo) und vitale, spielerische, subversive Transgressionen erleichtern diesen antikolonialen cross-overs den (trotz allem asymmetrischen) Kulturtransfer zwischen den USA und der Insel. In einem transkulturellen Strom führen die Reisenden ihre mobile Grenze gleich mit: "Der Raum einer zwischen zwei Häfen hin- und hertreibenden Nation, wo Hoffnungen geschmuggelt werden!"(13)

In der Titelerzählung aus Carlos Fuentes’ fragmentarischem "Roman in neun Erzählungen" Die gläserne Grenze(14) werden in einer von einem mexikanischen Geschäftsmann gecharterten Pendlermaschine 94 Tagelöhner für ein Wochenende aus Mexiko nach New York geflogen, um die Glasfassaden mehrerer Wolkenkratzer zu reinigen. Das senkt trotz Spesen die Kosten um 30 %. Das schnelle Überfliegen der Klimazonen führt zum Temperaturschock beim Kontakt der mexikanischen Arbeiter mit der winterlichen Kälte New Yorks. Die Landung auf JFK erfolgt im Schneesturm. Das transparente Eis und die zu reinigenden Glasfassaden - beide kalt, starr und abweisend - bilden eine schein-permeable Grenze, an welcher in der Schlussszene der Erzählung ein unechter Kontakt stattfindet, in Form eines kurzen, heissen Kusses durch die trennende und verbindende Glasscheibe zwischen Audrey, der Werbefachfrau im geheizten Büro drinnen, und dem Mexican, dem Fensterputzer draussen in der Kälte.

Der Autor selber, Carlos Fuentes, ist Grenzgänger, Pendler zwischen Mexiko und den USA, langjähriger Botschafter der Latinos in den Vereinigten Staaten und alerter, wichtiger Denker im Bereich des interamerikanischen Kulturaustausches. Immer wieder hat er auch die Einflüsse in umgekehrter Richtung untersucht.(15)

Die riesige, bis vor kurzem wenig erforschte Grenzzone im Norden Mexikos etabliert sich zusehends auch auf der kulturellen und literarischen Landkarte. Besonders Tijuana, als viertgrösste Stadt Mexikos, als permissive Duty-free-Zone, als fliessender Zwischenraum mit 65 Millionen Grenzübertritten jährlich hat Hochkonjunktur; an ihr zeigte García Canclini schon in den 80er-Jahren Ent- und Reterritorialisierungs-Mechanismen auf. Ihre Hybridisierung, d.h. Überlagerung, nicht Verschmelzung von Unvereinbarem, beschreibt wiederum Gómez-Peña: "mariachis and surfers, cholos and punks, second-hand buses and helicopters, tropical whorehouse and video discotheques, bullfights and American football [...]".(16) Tijuanas Hausautor Luis Humberto Crosthwaite, platziert sich erfolgreich auf der mexikanischen Bestsellerliste.(17)

Der einsame Geist Elvis Presleys gelangt in die Transitstadt Tijuana auf seinem Heimweg von einem Ausflug nach Mexico, wo er für einmal einen Original-Taco verspeisen wollte. Da Geister keinen Pass besitzen, muss der King of Rock’n’Roll als wetback über die Grenze zurück in die USA, wird zum Illegalen und meint, als Helikopter und Scheinwerfer der Grenzpatrouille ihn verfolgen, er stehe auf der Bühne in Las Vegas und feiere sein Comeback. Dieser phantasievolle, komisch-tragische Plot stammt aus Crosthwaites Erzählung "Marcela y el rey" (1988). Der Mexikanerin Marcela kommt die Aufgabe zu, den vereinsamten Helden mit ihrem Rock’n’Roll-Gesang wieder aufzumuntern; sonst hat den nach der Legende weiterlebenden Presley nämlich niemand erkannt, was ihn ganz melancholisch stimmt.(18)

Ungleich tragischer gestaltet sich die Wirklichkeit für diejenigen, die auf dem Landweg illegal die Grenze überqueren wollen. Die gefährliche Passage (im Chargon Brinco, 'Sprung' genannt) endet nämlich oftmals tödlich(19) wegen der Hitze und Kälte des Wüstenklimas, wegen Schlangen, Taranteln und der US-Grenzpolizei.(20) Es versteht sich von selbst, dass den Clandestinos das Pendeln verwehrt bleibt.

In der mexikanisch-amerikanischen Grenzzone siedeln in der Regel nordamerikanische Unternehmen an, die schattenindsutriellen Beschäftigungsnischen im Niedriglohn- und Dienstleistungssektor der Maquiladoras (vorwiegend Textil- und Elektronikendfertigung für nicht dauerhafte Konsumgüter), wo nicht selten zwölf Stunden am Tag gearbeitet wird, zu einem zehnmal niedrigeren Lohn als weiter nördlich in den USA und in Arbeitsverhältnissen, die neokoloniale Assoziationen wecken. Die mexikanischen Arbeiterinnen und Arbeiter haben nicht zwischen zwei nationalen Territorien zu pendeln, sondern zwischen zwei Kulturen, zwischen dem rein mexikanischen Wohnort und dem Arbeitsstandort in nordamerikanischem Besitz. Zeitgrenzen überschreitend verpflanzt Crosthwaite in seinem Roman La luna siempre será un amor difícil (México: Corunda, 1994) einen spanischen Soldaten der Conquista aus dem 16. Jahrhundert in eine Maquiladora im Zeitalter von NAFTA.

Die gegenwärtig wohl beeindruckendste bikulturelle Zone, in welcher die ehemalige Minorität das Ruder im ökonomischen, politischen wie juristischen Bereich übernommen hat(21), stellt zweifelsohne die nordamerikanische Metropole Miami dar, eine Art Enklave der Latinos. Die Stadt prosperiert nicht zuletzt dank den begüterten Kuba-Flüchtlingen, die nach der Revolution mitsamt ihrem Kapital die Insel Richtung Florida verlassen hatten. Die Latino-Mehrheit ist in ihrer relativ bequemen finanziellen Lage wenig Assimilierungsdruck ausgesetzt. Aus einer panamerikanischen Perspektive gilt Miami als heimliche Hauptstadt Lateinamerikas. Kubanische Residents witzeln selbstsicher, dass Latinos die Stadt liebten, weil sie so nahe bei den USA liege. Sie funktioniert als interkontinentale Drehscheibe im Flugverkehr(22) (und Tourismus), als Bankenplatz, als Zentrum der Unterhaltungsindustrie. Mit Ausnahme der Kubaner pendeln die Hispanics häufig zwischen Miami und ihrem Ursprungsland, beeinflussen gleichsam bilateral Handel und Politik, obwohl die soziale Position hüben wie drüben natürlich meist eine andere ist. Auch immer mehr Zuwanderer aus dem südamerikanischen Subkontinent lassen sich im hispanisierten Miami nieder, und es hat ein Exodus der anglo-weissen Minderheit, der WASPS eingesetzt, worauf der Slogan "Will the last American to leave Miami, please bring the flag!"(23) anspielt. Darauf aufbauend entwirft der bereits erwähnte kubanisch-amerikanische Schriftsteller Roberto G. Fernández’ (er publiziert Englisch und Spanisch) seine satirischer Erzählung "La gira" ("Die Rundfahrt").(24) Darin ist die Rede von einem Reservat für vertriebene angelsächsische Weisse in South Beach, gegen die eine Blockade errichtet wurde. Die neuen Bewohner Miamis, die Hispanics, vor allem Exil-Kubaner pilgern als Touristen zum Reservat, um dort - in ironisch subversiver Umkehrung - die Lebensweise der "Ureinwohner" zu beobachten und ihnen Almosen zu geben. Abends fahren sie wieder zurück in "ihre" Stadt.

Die im Südwesten der USA angestrebte mexikanische Reconquista(25) schreitet zwar quantitativ voran, aber qualitativ nur zögerlich; der ökonomisch-politische Einfluss der Latinos ist dort weit geringer als in Miami.

Der erste Kontakt des einreisenden Protagonisten aus Honduras mit den USA findet am Flughafen von Miami statt, in der mit "Inmigración / Immigration" beschilderten Zone. Dort spielt das Anfangskapitel von Roberto Quesadas Roman Nunca entres porMiami [Reise nie über Miami ein]. In einem inneren Monolog wird die Nervosität und mentale Vorbereitung auf den entscheidenden Moment in der Warteschlange vor der Passkontrolle minutiös beleuchtet. Der Druck ist riesig. Trotzdem versucht der Ich-Erzähler und Neuankömmling, sich nichts davon anmerken zu lassen: "Schweigt, Gedanken, hört auf zu denken, denn hier können sie die Technologie haben, um Gedanken zu lesen und dann adiós New York."(26) Darauf muss er den Röntgenblick der hässlichen Immigrationsbeamtin ertragen, die den Pass "wie eine Türe schloss, durch die nie und nimmer ein Stempel, den er brauchte, seinen Weg finden würde." Und die zugeknallten Türen am Flughafenzoll erschienen dem Neuling und künftigen Pendler zwischen Nord- und Zentralamerika "so schwer wie Grabsteine".

Abschliessend möchte ich die Perspektive dieser Einzelbilder kurz zu ein paar allgemeinen Bemerkungen über die jüngste Latino-Literatur erweitern. Mit dem selbstverständlichen Bezug zum Ursprungsland und dem demographischen Umbruch beginnt sich eine frische, aufstrebende, zunehmend spanischsprachige Szene zu konstituieren. Sie markiert einen Paradigmenwechsel, indem sie sich deutlich absetzt von der eher klassischen Emigrationsliteratur, die sich traditionell mit dem Scheitern im Zielland, der Einsamkeit, Vorurteilen, sozialer Ungerechtigkeit, Heimweh befasst.

Der neuere literarische Diskurs ist weder hoch elaboriert(27), noch ausgesprochen experimentierfreudig, bis auf die Tendenz zur Fragmentierung der Textstruktur, die bei den vorgestellten Erzählungen wohl auf das in Grenzzonen angesiedelt transnationales Stückwerk zurückzuführen sein dürfte.

Dafür strotzt diese Literatur der Hispanics vor subversiver Energie, einem präzisen Blick auf die komplexen Muster des interkulturellen Austausches, die meist aus ironischer Distanz, mit ausgeprägtem Einfallsreichtum und Sinn für Situationskomik beleuchtet werden. In Grenzzonen angelegte Fiktionen scheinen humorvolle Transgressionen zu provozieren, und in diesen Metaphern liegt Potential zu Innovativem, zur vitalen Zukunftsausrichtung und Prognose: im Reservat für WASPS; im mexikanisch-amerikanischen Kuss durch die Fensterscheibe eines New Yorker Hochhauses; im Phantom des King of Rock n’ Roll im Scheinwerferlicht der Grenzpatrouille; in den entwichenen blinden Passagieren, lebendigen Krebsen aus Puerto Rico, die im Pendlerflugzeug für Aufregung sorgen und die eigentlich für einen Eintopf im New Yorker Barrio bestimmt wären; oder im stinkenden Lüftchen, das von Cuba, vom Restaurante Cuba, herüberweht zu einem blinden Exilkubaner in Little Havanna/ Miami und dessen Geruchsinn plagt.

In den genannten Fiktionen interessieren weniger die Geschehnisse am Zielort, die Assimilierungsproblematik, als die Bewegungen, die sich vorher, nachher oder dazwischen abspielen, im verschlungenen, mehrdimensionalen Raum zwischen dichotomischem Nord und Süd, zwischen Identität und Alterität in Grenzgängerbiographien, zwischen der Territorialität der USA und transnationalem Latino-Bewusstsein. Wenn nicht mehr nur ausgewandert, sondern auch gependelt wird, geraten Grenzen in Bewegung. Die auf dem Nährboden erhöhter Mobilität und zunehmender interamerikanischer Vernetzung verfasste Latino-Literatur vermag oszillierende Raumerfahrungen diskursiv schwungvoll und elastisch auszuloten und funktioniert als Orientierungshilfe in den zuweilen komplizierten Übergangsritualen von Pendelwanderungen(28).

© Yvette Sánchez (Universität St. Gallen)


ANMERKUNGEN

(1) Mary Louise Pratt prägte den Schwellenbegriff der contact zones (Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation. London/New York: Routledge, 1992): die eindimensionale Grenzlinie wird zur flächigen, interaktiven Zone, zum Borderland, zum Inbegriff der Heterotopie.

(2) Guillermo Gómez-Peña, "Al otro lado del espejo mexicano. Reflexiones de un artista fronterizo", in: http://www.mexartes-berlin.de/esp/01/gomez-pena.html.

(3) Bereits im Frühjahr 2003 wurde in den Medien vermeldet, dass die Immigranten aus Mexiko, Zentralamerika und der spanischsprachigen Karibik, mit 13 % nunmehr die grösste Minderheit der USA stellten. Sie haben die Afroamerikaner - und in einigen urbanen Ballungszentren gar die Anglo White Americans - überholt. Demographische Angaben sprachen damals von 43 Millionen, inklusive einer geschätzten Zahl "Illegaler". Es leben also bereits jetzt mehr Hispanics in den USA als Spanier in Spanien (40 Millionen). "Más hispanos que españoles", so titelte die spanische Tageszeitung El País, vom 8. Februar 2003. Und Prognosen besagen, dass per Ende des 21. Jahrhunderts jeder dritte Nordamerikaner hispanischer Abstammung sein wird. 3,5 Millionen Puertoricaner leben auf der Insel, 2,5 Millionen in den USA. Und die dominikanischen Migranten ziehen seit ein paar Jahren nach: bei sieben Millionen in der Dominikanischen Republik, findet sich alleine in New York eine Million wieder. Und 2004 leben ein Viertel der Kubaner und ein Fünftel der Mexikaner in den USA.

(4) Obwohl es an Fixierungsversuchen der Linguisten nicht mangelt, ist das Spanglish schwer schriftlich einzufrieren. In geschriebenen Texten taucht es eher selten auf. Cuco Fosco verwendet es hingegen durchgängig als Bühnensprache. Jaime Manrique schreibt Prosa englisch und Gedichte spanisch, unterscheidet also nach Gattungen. In Patricia Carodsos Film Real Women Have Curves (USA, 2002) werden beide Sprachen wieder feinsäuberlich getrennt, aber überraschenderweise nicht nach Kriterien der Diglossie.

(5) Life on the Hyphen: The Cuban-American Way. Austin: University of Texas Press, 1994.

(6) Julia Álvarez, ¡Yo!. Chapel Hill: Alconquin Books, 1997, S. 171. Auch zitiert in Frauke Gewecke, "Territorien der Identität: zur Topographie des Eigenen und des Fremden in der Literatur der Latinos in den USA", in: Frank Leinen (Hrsg.), Literarische Begegnungen. Romanische Studien zurkulturellen Identität, Differenz und Alterität. Festschrift für Karl Hölz zum 60. Geburtstag. Berlin: Erich Schmidt, 2002, S. 331.

(7) Diese theoretischen Begriffe von räumlich topologischer Provenienz wurden bereits 1975 von Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägt: Kafka. Pour une littérature mineure. Paris: Minuit, 1975. Néstor García Canclini nahm sie dann auf in Culturas híbridas. México: Grijalbo, 1989, S. 288-305, im Kapitel "Desterritorializar". Er meint damit den Prozess des Aufweichens oder des Verlusts der scheinbar natürlichen Beziehung zwischen Kultur und geographischem und sozialem Territorium. Der Identität stiftende und sichernde Standort, der Nationalstaat als Territorialstaat, verliert an Bedeutung; es erfolgt eine Dezentrierung ohne Legitimierung über kulturellen Nationalismus. (Cf. Frauke Gewecke, op.cit., S. 322).

(8) William Burgos/ Hugo Rodríguez-Vecchini/ Carlos Antonio Torre (Hrs.), The Commuter Nation: Perspectives on Puerto Rican Migra tion. Río Piedras: Editorial de la Universidad de Puerto Rico, 1994.

(9) Die Studie von TGI Puerto Rico belegt, dass 18% der zwischen 2001 und 2003 befragten, rund 7000 Informanten angaben, in den letzten zwölf Monaten mit dem Flugzeug verreist zu sein. Cf.: http://www.zonalatina.com/Zldata305.htm (7. Dezember 2005)

(10) Roberto G. Fernández, En la Ocho y la Doce. New York: Houghton Mifflin, 2000, S. 213.

(11) Die Begriffe stammen aus Ottmar Ettes Studie Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Lateinamerika. Weilerswist: Vellbrück Wissenschaft, 2001.

(12) Luis Rafael Sánchez, "La guagua aérea", in: La guagua aérea. San Juan: editorial cultural, 1994, S. 11-22; englische Übersetzung: "The Flying Bus", in: Nicolás Kanellos (Hrsg.), Herencia. The anthologyof Hispanic literature of the United States, New York: Oxford University Press, 2002, S. 631-638.

(13) "¡El espacio de una nación flotante entre dos puertos de contrabandear esperanzas!" (Ibidem, S. 22; dt. Übersetzung der Verfasserin).

(14) Carlos Fuentes, Die gläserne Grenze. Ein Roman in neun Erzählungen. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1998, S. 209-238.

(15) Stellvertretend für den massiven Transfer von Konsumgütern lanciert Fuentes zum Beispiel den Begriff Pepsicóatl, in welchem das nordamerikanische Importgetränk über die nahua-aztekische Endung "akkulturiert" wird.

(16) Zitiert in: Utz Riese, "Kulturelle Übersetzung und interamerikanische Kontaktzonen. An Beispielen aus der autobiographischen Literatur der Chicanos", in: Hermann Herlinghaus/Utz Riese (Hrsg.), Heterotopien der Identität. Literatur in interamerikanischen Kontaktzonen. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1999, S. 107.

(17) Auch Carlos Fuentes siedelt seinen letzten Roman, La silla del águila, an der nördlichen Grenze an und Lila Downs besingt in den Liedtexten ihrer jüngsten CD The Border / La línea.

(18) Luis Humberto Crosthwaite, "Marcela y el rey", in: ders., Marcela y el rey, al fin juntos, Tequisquiapán/Querétaro: Joan Boldó y Climent Editores, 1988.

(19) Allein im Jahr 2005 sind dabei um die 500 Menschen umgekommen.

(20) Als Mahnmal eines humanitären Problems hat die argentinische Künstlerin Judi Werthein für eine US-amerikanische Ausstellung "Grenzüberquerungsschuhe" (Brincos) kreiert. Das Schuhwerk, dass die Illegalen auf ihrem mühseligen Marsch unterstützen soll, ist mit je einem Adler bestickt, dem aztekischen (aus der mexikanischen Flagge), der ihren Ursprung symbolisieren soll, und den amerikanischen (auf dem 25-Cent-Stück zu finden), der für den American Dream steht. Anlässlich der Kunstausstellung verschenkte Werthein in Tijuana Dutzende Paare an Migranten, die sich auf den achtstündigen Weg durch die hügelige Wüstenlandschaft machten. (Cf. St. Galler Tagblatt vom 28. Dezember 2005)

(21) Und mithin hochinteressantes Terrain für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen.

(22) Vgl. Max Castro et al., This land is our land. Immigrants in power in Miami. Berkeley / Los Angeles: University of California Press, 2003, S. 21.

(23) Er war etwa auf Autostickern zu lesen und wird u.a. zitiert in Samuel Huntingtons neuestem Buch Who Are We? The Challenges to America’s Identity. New York: Simon und Schuster, 2004. Dass die Präsenz der zunehmend selbstbewussten Latinos den white nativism schürt, kommt nicht überraschend. So verfasste ein von Überfremdungsängsten gepeinigter Samuel Huntington im zitierten Buch das unverblümt chauvinistische Kapitel "The Hispanic Challenge". Statt von Herausforderung ist aber nur von "Gefahr" die Rede: die grösste assimilierungsunwillige Minderheitengruppe in der Geschichte der USA "bedrohe" die politische Integrität seines Landes und "unterminiere" die nordamerikanische Leitkultur. Huntington nimmt besonders die Mexikaner ins Visier.

(24) In: Roberto G. Fernández, En la Ocho y la Doce, op.cit.

(25) Mit dieser 'Rückeroberung' ist gemeint, dass die mexikanischen Einwanderer, die Chicanos Anspruch erheben auf ein grosses, ehemals mexikanisches Gebiet, das nach dem mexikanisch-amerikanischen Krieg von 1848 in nordamerikanische Hände überging.

(26) "Cállate pensamiento, dejá de pensar que aquí pueden tener teconolgía para leerle la mente a uno y adiós Nueva York" (Roberto Quesada, Nunca entres por Miami. México: Mondadori, 2002, S. 12 und 13; dt. Übersetzung der Verfasserin).

(27) Wir haben es mit Ausnahme von Carlos Fuentes nicht mit poetae docti zu tun; Wissen und Belesenheit werden kaum zur Schau gestellt.

(28) Das Bild des Pendelns zwischen zwei Kulturen hat Birgit Brock-Utne in ihrem Aufsatz "Reflections of a cultural commuter" geprägt, in: Jill Bystydzienski/Estelle Resnik (Hrsg.), Women in Cross-Cultural Transitions. Bloomington: Phi Delta Kappa Educational Foundation, 1994, S. 121-132.


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