Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Juni 2006 | |
14.4. Identitätsmanagement von Minderheiten im Alpen-Donau-Adria-Raum |
Christian Voss (Erlangen/Freiburg i.Br.)
[BIO]
Ich möchte mit einem Zitat aus Ellis (2003: 77) über urbane Muslime in der Republik Makedonien beginnen:
I sat in a warm kitchen in Tetovo, listening to a 62-year old woman and her 74-year old husband engage in an agitated debate about her "Turkish" and his "Albanian" identity. In a perfect Istanbul accent, she proudly declared herself "the only Turk in this family" and "all of these people (her children) turned out to be Albanian." Her husband mumbled under his breath, "Oh, sure you are Turkish. When I married you, your Torbeş (Muslim Macedonians) parents could not speak a word of Turkish!". She snapped back "So when on earth did you become Albanian? You spoke Turkish all your life, and you still cannot put together two sentences in Albanian!". To this, he roared back, shaking his finger at her furiously: "But I have the Albanian soul! The Albanian soul got to me!".
Dieser kurze Dialog eines Ehepaares aus dem westmakedonischen Tetovo, wo die Ehefrau sich trotz erst kürzlich angeeigneter Türkischkenntnisse als Türkin definiert, während sich der Ehemann bei völligem Fehlen von Albanischkenntnissen als Albaner identifiziert, verdeutlicht die Nichtübereinstimmung von sprachlicher und ethnisch-nationaler Identität bei Minderheitengruppen in Südosteuropa. Diese Feststellung betrifft vor allem die Balkanmuslime, da die stärkere gruppenkonstituierende Kraft von Religion hier noch eindeutiger als strukturgeschichtliche Kontinuante des osmanischen millet-Systems funktioniert, welches Ethnizität auf konfessioneller Basis definiert hatte. Dies hat zu einer Konflation von Islam und Türkentum geführt, die lexikalisch konzeptualisiert worden ist in der Bezeichnung für den Beschneider (für gewöhnlich "rezikur"), der in einigen Pomakengegenden "turčinar" ("der Türkenmacher") heißt. Erst in der postkommunistischen Transition gehen die slavischen Balkanmuslime dazu über, ihre Sprachloyalität anhand nationaler Zugehörigkeiten neu auszuloten. Mich interessiert hierbei der ideologische Umgang mit sprachlicher und kultureller Differenz seitens der Mehrheit und der Minderheit.
Heute leben 8,3 Millionen Muslime im Balkanraum. Die Balkanmuslime waren und sind weit davon entfernt, eine in sozialer, sprachlicher, ethnischer und sogar religiöser Hinsicht einheitliche Gruppe darzustellen, da sie das überwiegend lokale oder kleinregionale Selbst- und Gruppenverständnis der osmanischen Zeit beibehalten haben (Clewing 1999, Telbizova-Sack 2003, Bougarel/Clayer 2001: 15ff). Besonders zu betonen ist der Kontrast zwischen den zugezogenen urbanen Eliten (bis auf Bosnien zumeist ethnische Türken) und den islamisierten Slaven in den gebirgigen Dörfern der Rhodopen oder in Westmakedonien: Diese ethnische Hierarchie ist bis heute im Heiratsverhalten der muslimischen Gruppen spürbar. Die Balkanmuslime bilden vor allem eine Schicksalsgemeinschaft, da sie mit dem entstehenden Ethnonationalismus in Südosteuropa seit dem 19. Jahrhundert zum Gruppenbild von Alterität, zum Anderen schlechthin stilisiert worden sind. Die gegen Muslime gerichteten ethnic cleansing-Prozesse sind von McCarthy 1995 dokumentiert worden: Zwischen 1821 und 1922 sind mehr als fünf Millionen Muslime auf dem Balkan und auf dem Kaukasus ermordet und weitere 5 Millionen vertrieben worden. Von den 2,3 Millionen Balkanmuslimen des Jahres 1911 waren 1923 nur noch 870.000 anwesend.
Wie verteilen sich die Balkanmuslime? Die größte muslimische Bevölkerungsgruppe bilden die Albaner, von denen 3,1 Millionen im albanischen Staat leben. Nur in Albanien und im Kosovo bilden Muslime die absolute (und in Bosnien-Herzegowina die relative) Mehrheit. Türkisch-muslimische Bevölkerungsgruppen leben heute in Bulgarien (ca. 750.000), Makedonien (81.600) und im nordgriechischen West-Thrakien (54.000). Die kleinste islamische Gruppe sind die muslimischen Roma, die zahlenmäßig schwer erfassbar sind. Sprachlich haben wir also drei große Gruppen zu unterscheiden, wobei sich die albanischsprachigen Muslime auf ca. 4,3 Millionen, die slavischsprachigen Muslime auf ca. 2,6 und die türkischsprachigen Muslime auf ca. 1 Millionen belaufen. Im Folgenden werden uns gerade die Übergänge und Schnittmengen zwischen diesen Gruppen beschäftigen.
Bei den slavischsprachigen Muslimen handelt es sich um alteingesessene Bevölkerungsgruppen, die während der osmanischen Herrschaft zum Islam übergetreten sind. 1991 lebten in Bosnien 2 Millionen Muslime/Bosnjaken, weiterhin leben ca. 229.000 Vertreter dieser Gruppe im Sandžak, der 1912 zwischen Serbien und Montenegro geteilt wurde. Zwei weitere Gruppen, von denen hier die Rede sein wird, sind die Torbešen in der Republik Makedonien (ca. 60-70.000) sowie die Pomaken in Bulgarien (ca. 250.000), Griechenland (36.000) und der Türkei (ca. 200.000). Die hier zur Debatte stehende Gruppe der slavischen Balkanmuslime umfasst gesamt ca. 2,6 Millionen Menschen (außerhalb der Türkei).
Nur die Bosnjaken, die mehr als 60% der slavischen Balkanmuslime bilden, verfügen über ein politisches Gruppenkonzept, das die Entwicklung bis hin zur Nationsbildung durchlaufen hat. Bosnien als Pufferzone zwischen kroatischem und serbischem Nationalismus ist bereits unter Benjamin Kállay und der Habsburger Verwaltung als regionale Entität gefördert worden, was von Tito fortgesetzt wurde (Mønnesland 2005): Die Anerkennung der Muslime als sechste konstitutive Nation Jugoslawiens fand ihre ikonische Symbolisierung in der Großschreibung von musliman als nationale Kategorie in der Volkszählung von 1971: Alle anderen slavischsprachigen Muslime haben diesen Status bis heute nicht erreicht. Einerseits war dieser Schritt die letzte Etappe der Territorialisierung der serbokroatischen Dialekte durch das verheerende homeland-Konzept, das angeblich jeder jugoslawischen Nation eine Republik zuordnet (Blum 2002). Ich sehe das bosnjakische Sprachprojekt jedoch als Defensivreaktion auf die Sprachideologie der bosnischen Serben und Kroaten, die sich seit Anfang der 1990er Jahre an den exoglossischen Standards aus Belgrad und Zagreb orientieren (Lehfeldt 1999, Neusius 2002). Bosnien muss seit 1878 als Sonderfall gelten, und erst mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens 113 Jahre später sind die bosnischen Muslime vom "normalen" Schicksal der Balkanmuslime eingeholt worden.
Bei den im Folgenden beschriebenen Gruppen der Torbešen und Pomaken wird erneut deutlich, wie stark das tito-jugoslawische Experiment die Gruppenbildungsprozesse beeinflusst hat: Während Titos nationaler Pluralismus des bratstvo i jedinstvo unter dem Strich zu einer omnipräsenten Ethnisierung der Bevölkerungsgruppen geführt hat, finden wir auf dem restlichen Balkan das krasse Gegenteil, nämlich Zwangsassimilation und Leugnung von ethnischer Differenz. Dies führte dazu, dass derartige Gruppen erst heute ihre kollektive Identität ausverhandeln.
Die slavischsprachigen Muslime in der Republik Makedonien leben vor allem im stark albanisch besiedelten Westen des Landes zwischen Debar und Tetovo und befinden sich heute im Kräftefeld des albanisch-makedonischen Konflikts (Hausmaninger 2005). Wie die Pomaken in Bulgarien, besitzen sie eine ambivalente Position zwischen diskursiver Inklusion (als Sprecher der "reinsten Dialekte") und praktischer Exklusion, d.h. wirtschaftlicher Peripherisierung.
Der grundlegende Unterschied zu den bulgarischen Pomaken besteht in der unterschiedlichen Eingliederung in den Nationalstaat, der sie auf der Basis ihrer Muttersprache als Konationale beansprucht: Während die Pomaken bereits 1912/13 zu Hunderttausenden von der vorrückenden bulgarischen Armee in den Regionen Makedonien und Thrakien zu Zwangstaufen inkl. Verzehr von Schweinswürsten und dem Ersatz des türkischen Fes durch europäische Hüte genötigt wurden (Georgiev/Trifonov 1995), sind die Torbešen eigentlich erst 1991 in Konflikt mit "ihrem" Nationalstaat getreten. Als prompte Antwort auf den Zerfall Jugoslawiens verlangen zahlreiche Torbešendörfer türkisch- und neuerdings auch albanischsprachige Grundschulen für ihre Kinder. Während die noch jugoslawisch geprägte "Allianz der makedonischen Muslime" eine assimilatorische Version der eigenen Makedonizität vertritt, steht die "Islamische Glaubensgemeinschaft" für eine klare torbešische Option. Ihr Organ "Mlada Mesečina" (seit 1987) erscheint dreisprachig (makedonisch, türkisch und albanisch), was anzeigt, dass die Torbešen sich sprachlich nicht festlegen wollen.
Die Pomaken verdanken ihre Konstitution als Gruppe eindeutig dem bulgarischen Nationaldiskurs (Karagiannis 2003): Die Pomaken, die die Einrichtung eines bulgarischen Nationalstaats in den 1870er Jahren aktiv bekämpften, wurden als fehlgeleitete Missgeburt des Bulgarentums angesehen, die mittels Christianisierung rebulgarisiert werden müssten: Diese Denkweise bestätigt sich in der Bezeichnung "Wiedergeburt" (văzraždane) für die extrem brutale Assimilationspolitik unter Todor Živkov während der 1980er Jahre, als Hunderttausende Türken aus dem Land geflohen sind. Die gut ausgebildete Elite der Pomaken hat sich bulgarisch assimiliert, während sich ihre Mehrheit in einer Segregationskultur verschanzt hat und ihre Ethnizität durch Heiratsstrategien und Renitenz gegen die Landflucht zu bewahren sucht (Todorova 1997, Konstantinov 1997).
Die Pomaken Bulgariens und Griechenlands - seit 1949 durch den Eisernen Vorhang getrennt - haben die Extrempole balkanischer Minderheitenpolitik erlebt: Während die bulgarischen Pomaken in regelmäßigen Abständen von Assimilationskampagnen heimgesucht wurden, die ihnen religiöse Praktiken, muslimische Namen u.ä. verboten (Neuburger 2000), so befinden sich die Pomaken Griechenlands offiziell unter der Obhut der Schutzmacht Türkei, was die innerminoritäre Kohäsion festigt und die Turzisierung der Pomaken beschleunigt (Demetriou 2004). Im türkisch-griechischen Vertrag von Lausanne 1923 haben Griechenland und die Türkei ihre "religiösen Minderheiten", wie es hieß, komplett ausgetauscht. Um das Patriarchat in Istanbul zu halten, wurde im Gegenzug der muslimischen Minderheit im griechischen West-Thrakien Bleiberecht eingeräumt (Raichevsky 2004).
Der Vergleich der griechischen und bulgarischen Pomaken verdeutlicht, dass Sprache allein kein relevantes Zuschreibungskriterium für die Setzung der Außengrenzen von Wir-Gruppen ist: Die bulgarischen Pomaken bewahren sehr viel stärker ihre ethnische Identität, obwohl ihr Dialekt in der Annäherung an den bulgarischen Standard geschliffen wird, im Gegensatz zum Pomakischen in Griechenland, das zwischen Türkisch und Griechisch als Abstandsprache funktioniert. Da "ethnische Grenzziehungen" und die hieraus erwachsenden kollektiven Identitäten seit Barth 1969 als verhandelbar begriffen werden, die vor allem aus dem Wechselspiel von Eigen- und Fremdzuschreibung erwachsen, soll die Sprache im Folgenden als Zuschreibungskriterium aus diesen beiden Perspektiven dargestellt werden.
Ich möchte anhand der Pomaken in Griechenland vorführen, welche Rolle die Sprach- und die Kulturpolitik beim Identitätsmanagement spielen können. Diese Gruppe steht im Kräftefeld der griechischen Außenpolitik (Trubeta 1998), die im 20. Jahrhundert zwischen der "Gefahr aus dem Norden" (Bulgarien) und der "Gefahr aus dem Osten" (Türkei) schwankt. Als die nordgriechische Grenze Teil des Eisernen Vorhangs wurde, galt Bulgarien eindeutig als größere Bedrohung, so dass im gesamten westthrakischen Minderheitengebiet 1951 türkisch-griechischsprachige Minderheitenschulen eingerichtet wurden. Mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes wurde den griechischen Politikern immer mehr bewusst, dass die staatlich mitgetragene Turzisierung der Pomaken ein Fehler sei. In der Folge erschienen Dutzende von Publikationen, die die innerminoritäre Assimilation der Pomaken (an die größere muslimische Gruppe der Türken in West-Thrakien) bremsen und eine pomakische Regionalidentität stärken sollten, wobei Kodifizierungsversuche einer pomakischen Sprache eine zentrale Position besaßen (Ioannidou/Voss 2001). Die Beendigung dieser griechischen Politik Ende der 1990er Jahre ist außenpolitisch begründet: Einerseits umgeht Griechenland damit den Konflikt mit Bulgarien, das spill over-Effekte einer ethnoregionalen Konsolidierung auf die eigene, sehr viel größere Pomakengemeinde befürchtete, andererseits hat die griechisch-türkische Entspannungspolitik seit dem Erdbeben 1999 einer andauernden antitürkischen Pomakenpolitik den Boden entzogen. Ein ähnlicher Prozess hatte übrigens während der 1960er Jahre im Kosovo stattgefunden, als Belgrad versuchte, die ausgeprägte Dualität der albanischen Dialekte (Gegisch im Norden und Toskisch im Süden) politisch zu instrumentalisieren: Die Kosovaren haben die politische Konstruktion einer gegisch-basierten šiptarski jezik , die sich deutlich von der toskisch-basierten albanischen Standardsprache (albanski jezik) absetzt, durchschaut und als ikonisiertes Symbol ihrer nationalen Spaltung zurückgewiesen (Hetzer 2000: 114ff).
Die sprachpolitischen Vorstöße in West-Thrakien sind von der Pomakengemeinde selbst von Beginn an vehement abgelehnt worden, sie tragen unmittelbar zum rapiden Sprachtod des Pomakischen bei. Hierfür gibt es gleich mehrere Gründe:
Die Verfasser der Lehrbücher sind zumeist Griechen, die sich in ihrer Zeit als Dorfschullehrer das Pomakische angeeignet haben. Sie haben daher die Tendenz, das türkische Element im Pomakischen deutlich unterzubewerten. Dies liegt einzig und allein an ihrer Zweisprachigkeit im Gegensatz zur pomakischen Dreisprachigkeit. Die Erziehung zu bloßer Zweisprachigkeit wird von den Pomaken selbst aber als ikonischer Ausdruck der politischen Motivation verstanden, nämlich der Spaltung der Muslime, der Entturzisierung der Pomaken. Auch Pomaken, die kein Türkisch gelernt haben, besitzen ein hohes Reservoir an Turzismen in ihrem Wortschatz: So zählen die meisten Pomaken von 1-4 auf Slavisch, ab 5 dann auf Türkisch.
Das Pomakische als geschriebene Sprachform ist unmissverständlich ein Instrument von griechischen Ultranationalisten, ihr unverkennbares Ziel die Hellenisierung der Pomaken. Werfen wir dazu einen Blick in ein Schulbuch, das 1997 in Komotini erschienen ist: Es wimmelt vor griechischen Flaggen in diesem Buch. Weiterhin wird versucht, mit den Kindern die griechischen Nationalfeiertage einzuüben. Von den zwei großen griechischen Nationalfeiertagen eignet sich der stark antimuslimisch konnotierte Tag des griechischen Aufstands 1821 schlecht, so dass hier der sog. "Nein"-Tag gewählt wurde, an dem Griechenland 1941 dem Hitler-Faschismus die Stirn bot. Nationalfeiertag wird auf Pomakisch als "hükümecki bajram" übersetzt. Dieser türkisch orientierte Terminus, der das größte muslimische Fest als Vergleichsbasis bemüht, ist so stark säkularisierend, wenn nicht gar blasphemisch.
Die türkisch-nationale Orientierung der Pomaken hat zwei sehr pragmatische Gründe: Trotz der Minderheitenrechte, die im griechisch-türkischen Vertrag von Lausanne 1923 gesichert wurden, sind die Muslime Thrakiens starker Diskriminierung ausgesetzt. Das Verbot des Erwerbs von Immobilien hat dazu geführt, dass die zahlreichen pomakischen BRD-Gastarbeiter seit den 1960er Jahren ihr im Ausland verdientes Geld in der Türkei investieren. Vor allem aber bestand die einzige Möglichkeit zu sozialem Aufstieg darin, in der Türkei ein Universitätsstudium zu absolvieren. Die pomakische Elite ist daher eindeutig türkisch national ausgerichtet, was in den Dörfern große Signalwirkung hat.
Das Pomakische als eigene Sprache gibt es nicht. Es gibt noch nicht einmal pomakische Dialekte, ebenso wenig wie wir in Baden-Württemberg evangelische von katholischen Dialekten trennen können. Vor allem aber stehen Dialekte immer im Kräftefeld von standardsprachlicher Überdachung: Die pomakischen Dialekte in Bulgarien funktionieren in einem regulären Dialekt-Standard-Verhältnis, in Griechenland hingegen führen sie zu einer stark asymmetrischen Zwei- bzw. Dreisprachigkeit zusammen mit dem Griechischen und dem Türkischen. Die regionalen Differenzen sind dabei extrem hoch: Im eher traditionellen Raum der Bergdörfer von Xanthi lässt sich folgende Relation aufstellen: Pomakisch ist weiterhin Muttersprache für alle Pomaken, im Alltag wird zu 50% Pomakisch, zu 30% Griechisch geredet, neuerdings zu 20% Türkisch. Im Raum Komotini beobachten wir seit Jahrzehnten die Landflucht der Pomaken aus den Bergdörfern, was zu einer Vermischung mit den Türken in der Ebene geführt hat (Tsibiridou 2000): Im Ergebnis benutzen die Komotini-Pomaken heute zu ca. 80% Türkisch, zu 15% Griechisch, und zu 5% Pomakisch. Eine ältere Pomakin, die in ihrer Jugend noch nicht das 1951 eingerichtete türkisch-griechische Minderheitenschulsystem durchlaufen hat und somit kein Türkisch kann, hat enorme Verständigungsschwierigkeiten mit einem jungen Pomaken aus Komotini, dessen Eltern bereits den Sprachwandel hin zum Türkischen vollzogen haben.
Wie sieht der ideologische Umgang mit kultureller und sprachlicher Differenz aus? Wird die unterschiedliche Alltagskultur von Muslimen und Christen auch sprachlich manifest? Es wäre sehr vereinfacht, diese Differenz auf eine stärkere Präsenz von Turzismen im Sprachgebrauch der Muslime zu reduzieren. Beispielsweise zeigt ein Vergleich des Wörterbuchs zu Turzismen im bosnisch-herzegowinischen Raum (Škaljić 1957) mit dem Wörterbuch von Knežević 1962 zum gesamtjugoslawischen Raum, dass im serbischen Osten und Südosten eine archaischere Lehnwortschicht zu finden ist als in Bosnien. Dennoch ist die "gefühlte Orientalität" des heutigen Bosnischen größer, da Turzismen symbolisch aufgeladen als ethnic flagging fungieren - und dies, obwohl die makedonische und bulgarische Mediensprache eine sehr viel höhere Frequenz an Turzismen aufweist, hier allerdings als Kolloquialstil, der postsozialistisch-demokratisch markiert ist (Friedman 2003).
Schauen wir nun auf die Rolle der südosteuropäischen Sprachwissenschaft. Wird bei weitest gehender sprachlicher Übereinstimmung ebenso subjektiv die kulturell-nationale Gleichheit betont oder ins Gegenteil gekehrt? In Titos Jugoslawien, das seit 1963 die nationale Frage wiederentdeckt hatte und den Multikulturalismus zur eigenen Stärke und Tugend stilisierte, wurde die konfessionelle Differenz auch sprachlich aufgebaut. Greenberg (1996, 1998, 2004) hat die Ethnisierung der jugoslawischen Dialektologie nachgezeichnet, die die Omnipräsenz der von oben verordneten Ethnizität umgesetzt hat. Im bosnischen Raum zeigen sich gewisse Differenzen zwischen den archaischeren autochthonen Dialekten der Katholiken und Muslime und den neuštokavisch-ijekavischen Dialekten der ab dem 17. Jahrhundert zugezogenen Serben, die Innovationen mitgebracht haben (vor allem in der Prosodie). Infolge des jahrhundertelangen Dialektausgleichs als einer supraethnischen Koineisierung sind diese aber weitgehend neutralisiert worden.
In Makedonien und Bulgarien werden im Gegensatz hierzu Torbešen und Pomaken als integraler Teil der eigenen Sprachgruppe vorgeführt. Im Standardwerk der makedonischen Dialektologie findet sich ein kurioses, weil das dialektologische Prinzip der Arealität durchbrechendes Sonderkapitel "Govorite na islamiziranite Makedonci vo zapadna Makedonija" (Vidoeski 1998: 309-338), das die sehr heterogenen Dialekte von Torbešendörfern aus dem gesamten makedonischen Raum vorführt, die im Falle konfessioneller Einheitlichkeit niemals in dieser Anordnung besprochen worden wären. Wichtig ist das apodiktische Urteil zum Abschluss, dass die Dialekte von christlichen und muslimischen Makedonen identisch seien. Dasselbe gilt für die bulgarische Dialektologie, die die Pomaken quasi als letzte native speakers des Altbulgarischen abhandelt.
Hier möchte ich einen Aufsatz von zwei namhaften Vertreterinnen der amerikanischen linguistic anthropology zitieren, die nach der Rolle von Sprachideologien bei der sozial konstruierten Grenzziehung zwischen Dialekten und Sprachen fragen. Im Prozess der Nationalstaatsbildung, der angeblich kulturelle Einheiten in politische Gebilde überführt hat, ist der die slavischen Balkanmuslime betreffende Inklusionsdiskurs ausschließlich auf sprachlicher Basis geführt worden. Es geht also zunächst um die Sichtweise der nationalen Mehrheit, dann aber auch um die Reperkussion divergierender Inanspruchnahmen seitens der Minderheit, die so ihre eigene Ideologie ausformt.
Irvine/Gal (1995: 974ff; 2000: 38ff) nennen drei semiotische Prozesse, durch die Sprachideologien sprachliche Ausdifferenzierung verarbeiten. Am wichtigsten scheint mir die sog. erasure: Die "Rasur" meint die Ausblendung von sprachlichen Fakten, die nicht mit der Sprachideologie in Einklang zu bringen sind. "Erasure" finden wir häufig im Falle von Minderheiten: So können die Windischentheorie in Kärnten, die russische Sprachpolitik in Karelien ebenso wie die griechische Sichtweise des "scheinbar slavischen Idioms" in Nordgriechenland als Paradebeispiel für derartige Sprachideologien angeführt werden, die sich weit vom Faktischen entfernen. Im Ergebnis ist es so, dass die Minderheit selbst zur Festigung von neuerworbenen Identitäten derartige Ideologien mitträgt. Im Endergebnis sehen wir etwa bei den Pomaken, dass durch sich überlagernde Sprachideologien von drei Nationalstaaten (Griechenland, Türkei und Bulgarien), die die Gruppe als Teil ihres Volkskörpers einklagen, die Wirksamkeit des "erasure"-Prozesses noch potenziert wird: Indem Sprache von mehreren Seiten manipulativ als Argument missbraucht wird, verliert sie bei ihren Sprechern selbst endgültig ihre Rolle als Indikator für Gruppenzugehörigkeit.
Erst in den letzten Jahren, in denen die postsozialistische Transition eine Neuverhandlung ihrer Identität ermöglicht hat, zeigen die Balkanmuslime die Tendenz, ihre nationale Identität mit der adäquaten Sprachloyalität zu verbinden. Dies verdeutlicht etwa der Vergleich der Bevölkerungsstatistiken von 1953 und 1994 der Republik Makedonien (Fishman 2003: 275): Während 1953 noch 16,4% derjenigen, die sich national als Albaner deklarierten, nicht Albanisch als Muttersprache angegeben haben, ist die Zahl bis 1994 auf 1,1% gesunken. Ohne vergleichbare Zahlen für die Pomaken in Griechenland zu besitzen, ist derselbe Prozess auch hier spürbar: Einer nationaltürkischen Orientierung folgt allmählich der Sprachwechsel zum Türkischen.
Wir können dies auf dreierlei Weise interpretieren: Einerseits erreicht die Ideologie des Sprachnationalismus erst jetzt die isolierten und damit wirtschaftlich marginalisierten Moslemdörfer, andererseits folgt die sprachliche Umorientierung hin zu einer türkischen oder albanischen Identität der slavischsprechenden Muslime in Makedonien, Bulgarien und Griechenland eben gleichwohl starken ökonomischen Interessen (Michail 2003). Dieses pragmatische Motiv findet sich in Aussprüchen "mein Kind will eine Sprache mit Nation", "das Pomakische hat keine Flagge" o.ä., wobei die türkische Propaganda in weiterer Folge ein leichtes Spiel hat, den sowieso als dörflich konnotierten Dialekt als nutzlos hinzustellen. Der Sprachwechsel bei Torbešen und Pomaken steht also zugleich im Kontext eines sozio-kulturellen Öffnungsprozesses der alten Dorfgemeinschaften.
Abschließend möchte ich zur eingangs vorgestellten gesamtbalkanischen Perspektive zurückkehren und die sprachliche Ausgangssituation der vier besprochenen Gruppen der slavischen Balkanmuslime miteinander vergleichen. Es wird sich zeigen, dass Schriftsprachlichkeit fast ausschließlich von der Mehrheitsbevölkerung als Instrument ethnopolitischer Beeinflussung eingesetzt worden ist.
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1. Sprachpolitik: | ||||
Standardsprache |
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Kleinsprache |
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+ |
2. Innersprachlicher Aspekt: |
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Dialekt-Standard-Verhältnis |
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Abstandsprache |
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3. Historischer Aspekt:
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Teilnahme an bratstvo i jedinstvo |
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Ethnozentrischer Staat seit 1912 |
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4. Identitätspolitischer Aspekt:
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Stärkung der Identität von außen |
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"Eigenes" nation building |
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Nur zwei der vier Gruppen mit einem deutlich erkennbaren Identitätsmuster und Außengrenzen haben Schriftlichkeit entwickelt: Bosnisch und Griechisch-Pomakisch. Dies besitzt keine innersprachliche Logik, da die Dialektbasis der Bosnjaken sozusagen 0% Abstand zu den Katholiken und Orthodoxen der Region hat, während der bulgarische Dialekt der Griechenland-Pomaken 100% Abstand zum Griechischen und Türkischen aufweist. Ansonsten finden sich keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen Bosnisch und Griechenland-Pomakisch: Bosnien zählt durch die Aufwertung zur konstitutiven Nation im Laufe der 1960er Jahre zu den großen Gewinnern Tito-Jugoslawiens, während in Griechenland ethnische Alterität schlechthin geleugnet wurde - anerkannt war nur die muslimische Minderheit in West-Thrakien. Die Schriftlichkeit des Pomakischen ist ausschließlich im Rahmen der kulturpolitischen Kampagne der 1990er Jahren entstanden, als die griechische Seite versucht hat, durch die Förderung einer pomakischen Sonderidentität einen Keil zwischen die muslimischen Gruppen in West-Thrakien zu treiben. Insofern ist die (auch sprachpolitisch fassbare) Fremdzuschreibung der Identität der Bosnjaken und der Pomaken in Griechenland vergleichbar: Im Falle der Pomaken wird hier jedoch eine Reethnisierung unternommen, die der Minderheitengruppe Kategorien überstülpen will, die die betroffenen Individuen für sich selbst längst abgelegt haben.
© Christian Voss (Erlangen/Freiburg i.Br.)
LITERATUR
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