Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | August 2006 | |
14.7. "Ränder der Welt" im Zeitalter transnationaler Prozesse |
Methodologische Ansätze über eine Kunst in der Arktis
Knut Ove Arntzen (Universität Bergen, Norwegen)
[BIO]
Auf Basis einer INST-Expedition im Jahre 2004 nach Tromsø (Nordnorwegen) und Spitzbergen (Svalbard) ging es in unserer Arbeitsgruppe darum, sich die "Ränder der Welt" im Zeitalter transnationaler Prozesse bewusst zu machen. Das heißt, sich kulturwissenschaftlich mit Perspektiven der Künste mit Bezug auf "Meer und Kälte" auseinanderzusetzen. Es geht um eine Konstituierung von Kultur unter arktischen Bedingungen.
Es gibt bereits einige Studien in diese Richtung - zum Beispiel Northern Studies Alumni von der Universität von Alaska, Fairbanks, mit dem Programm Carrying the North all over the world. Dieses Programm hat einige Studien befördert sowie im Bereich Kulturstudien The Quintessential Frontier Religion: The Restoration Movement in Alaska von James W. Cook(1) und von Tone Benedicte Deehr: Vernacular Imagers of the Svalbard Archipelago from 1596-1996(2).
Im Zusammenhang mit Kunst geht es meiner Meinung nach methodologisch darum, einige Ansätze zu entwickeln, die Bezüge zwischen Natur/Kultur verstehbar machen. Die Frage, die zu stellen wäre, ist wie künstlerische Prozesse verwendet werden können, eine Beziehung Natur/Kultur aufzuarbeiten. Ich habe mehrere Materialien gesammelt. Weiters stehen auch Videoaufnahmen von der INST-Kulturexpedition nach Tromsø und Spitzbergen in 2004 zur Verfügung, die von der Künstlerin Elsebet Rahlff aufgenommen wurden.
Natur ist, was auch als authentisch verstanden werden könnte. Zum Beispiel ist der Stein ganz konkret, aber er kann auch abstrakt und skulpturell sein, wenn er als Träger von Bildern und graphischen Spuren gesehen wird. Es gibt Steine, die Spuren der Menschen tragen, so wie Fossilien Leben vor Millionen von Jahren dokumentieren. Auf Svalbard gibt es weiters riesengroße Berge mit graphischem Charakter, weil die Berge so jung sind, und die Steine durch das Eis von der Natur sehr unterschiedlich und musterhaft geformt wurden. Sie können manchmal Visuellen Formen ähneln, wie zum Beispiel anthropologischen Grundformen der Menschen wie in primitive Labyrinthen oder Skulpturen der Frühzeit oder Bergkunst, wie zum Beispiel labyrinthische Formen. In diesem Sinne hat die Natur zu etwas eigenartigem beigetragen, das als Urformen von Menschen aufgenommen worden ist. Es gehört aber zur Geschichte Svalbards, dass - annehmbar - Menschen spät hingekommen sind. Es wird aber unter Archäologen darüber diskutiert, ob es nicht doch möglich wäre, dass Menschen im Steinalterzeit über die Inseln nördlich von Russland nach Svalbard hätten wandern können.
Was die Kunst betrifft, stellt sich die Frage, in wie weit wir in diesen Kontext von Kunst der Natur und den Spuren in der Natur reden können. Kunst ist traditionell durch einen kunstinstitutionellen Rahmen und dessen Kontexte definiert. In einem alternativen Natur-Kultur bezogenen Rahmen frage ich trotzdem: Gibt es eine Svalbard-Kunst? Die Svalbard Gallery antwortet innerhalb eines institutionellen Rahmen, aber darüber hinaus müssen wir auch schauen können. Die Antwort ob es eine distinkte Svalbardkunst gibt, liegt gerade inzwischen dem metaphorischen und dem konkreten Bedeutungen von Nomadismus(3) im Sinne von Natur und Menschen in Bewegung, ob sie nomadischen Völker sind oder Gegenwartskünstler, die immer Reisen müssen, um dort zu sein, wo sie am stärksten sich beeinflussen lassen. Es ist auch möglich geologische und sonstige naturwissenschaftlichen Definitionen der Kunst zu entwickeln, so wie auch geographische(4). Weiter möchte ich aber hier einige andere Aspekte vertiefen, so wie auch die Verbindung zur Bewegung der Situationisten und die Verbindung zu den Naturwissenschaften hervorheben.
Die Situationistiche Bewegung hat sich am Ende der 1950er Jahre und in der 1960ern mit Formen beschäftigt wie Spiralen und Labyrinthen, die etwas mit Zusammenhängen zwischen Urmustern und Steinlabytrinthen der Frühzeit zu tun haben. Lech Tomaszewski hat mehrmals über solche Fragen in The Situationist Times geschrieben - mit Bezug auf ´non-orientable surfaces´:
"/.../The closed non-oirentable surfaces which have existed in four dimensional spaces, unaccesible to us, can be investigated only by means of having them projected onto our conventional three-dimensional space"(5).
Tomaszewski versucht die Frage zu stellen, wie amorphe Figuren einige Muster darstellen können, die schwer zu klassifizieren sind. Es geht um Figuren der Natur, die auf Oberflächen entstehen, die wir als Menschen nicht unmittelbar dekodifizieren - oder metaphorisch gesehen - lesen können. Es sind multidimensionalen Formen, die in unerklärbarer Weise ineinander, durcheinander und untereinander gehen. Naturwissenschaftler würden sagen, es entspricht Prozessen in der Natur, so wie sie in Verbindung mit Entstehungsprozessen und Lebensbedingungen der Natur beobachtbar sind. Ich erinnere mich, dass mich auf Svalbard ein Reiseführer darauf aufmerksam gemacht hat, wie man die Photosynthese - wie grüne Pflanzen in der organischen Verbindung mit Karbodioxyd und mit dem Licht als Energiequellen Umwandlungen vollziehen - mit den bloßen Augen sehen kann. Die Hypothese ist in diesem Fall, dass die Figurativität solcher Prozesse in der Natur sich in Symbole verwandelt, die zuerst in der anthropologischen Kunstgestaltung umgestellt wird, und sich weiter in menschlichen Formen wie in der Architektur und als Kunstverfahren in anderen menschlichen Aktivitäten umsetzt und verwandelt werden kann. Beispiele von anthropologischer Kunstgestaltung sind die Schamanentrommeln, die von den Lappen gemacht wurden, und mit Figuren bedeckt wurden, die man als Sonnenbilder oder Symbole erkennen könnte. Die Situationisten haben dies in Richtung einer Objektlosigkeit der Kunst entwickelt, und die Behauptung aufgestellt, Kunst solle Erlebnis statt Werkfetischismus sein. Diese Ideen wurden von Asger Jòrn mit Hinweis auf den Atomphysiker Niels Bohr entwickelt. Jòrn schriebt:
"/.../So called ´open´ arts based on two new realizations. I formulated one in the second number of ´Helhesten´ (The Ghost Horse´) as the conclusion of my article ´Intime banaliteter´, which was reprinted in the catalogue for the exhibition of the Guggenheim Museum, where they wanted to award me a prize. By reading the article on ´Anti-Art´ or New Rituals some people perhaps will understand for what I was to be used, and why I refused. In 1940 I concluded: ´The spectator does not exist anymore´...Bohr´s cognition consisted in the fact that pure objective intuition or observation was impossible, that every observation consumes the object"(6).
Jòrn war sehr mit Aktivitäten beschäftigt, die Rituale erzeugen, und solche offenen, anthropomorphen Formen aus der Natur wurden dann diesen Theorien von den Situationisten im Zusammenhang zwischen Natur und Kultur von den Menschen nachgeahmt, wie bei den Bergkünstler in der Frühzeit des arktischen Nordens bis Süd-Afrika. Solche Urformen wurden allmählich als Symbole des religiösen Denken empfunden. Asger Jòrn interessierte sich in einem nordischen Kontext für solche Urformen, wie sie in Labyrinthen in arktischen und Subarktischen Gebieten vorzufinden waren. Von dort ist der Weg in den Schamanismus nicht weit. Svalbard hatte wahrscheinlich keine Urbevölkerung, und deshalb gab es bis jetzt keine Funde von einer Urbevölkerung. Aber seit dem 16. Jahrhundert waren Jäger unterwegs, die zum Teil aus Holland kamen und später aus Norwegen und Russland. Die russischen Pomoren hatten die Gewohnheit, die Landschaft mit griechisch-orthodoxen Kreuzen zu kennzeichnen, damit Nachfolger und andere Jäger die Wege wieder finden konnten. Solche Denkmäler in der Natur gibt es auch in anderen Teile der Welt sowie auch auf der nordskandinavischen Tundra.
Aspekte von Mensch und Natur sind auch in den späteren künstlerischen Arbeiten vorhanden, die besuchende und zum Teil überwinternde Künstler auf Svalbard gestaltet haben. Wir können zurück zur Research Expedition von 1839 gehen, einer französischen wissenschaftlichen Expedition, die u.a. Finnmark in Nordnorwegen besucht hat(7). Es wurde mit Kupferstichen als Dokumentation gearbeitet, die sehr lebendig das Verhältnis Natur und Kultur abbildeten. Bilder vom Leben der Jäger und Bergleute gehören zu den üblichen Motiven aus einer längere Tradition einer arktischen Kunst, und in unserer Zeit sind viele professionelle Künstler nach Svalbard gegangen. Es muss auch noch bemerkt werden, dass Laienkünstler in Bild und Photographien das Leben der Jäger wiedergeben. Die Eindrücke der Mienenarbeiter sowie auch der Beamten, Kaufleute und Dauerbesucher sind bestimmt in solchen persönlichen Bilder verewigt worden, so wie auch in der Reise- und Erlebnisliteratur - zum Beispiel von Christiane Ritter(8).
Heute wohnen zeitweilig mehrere bildende Künstler auf Svalbard, so wie auch auf Groenland. Die meisten spezialisieren sich auf Landschaftsbilder in mehr oder weniger abstrakten Richtungen, aber vor allem macht das Licht und der Wechsel zwischen dem arktischen Sommer und dem arktischen Winter einen sehr großen Eindruck. Auch in Verbindung mit Expeditionen sind Künstler anwesend gewesen, um die Eindrücke der polaren Umgebungen künstlerisch zu verarbeiten. Die Svalbard Gallery hat Faszilitäten, Ateliers und Ausstellungsräume. Diese Gallerie wurde in Svalbard 1995 eröffnet:
«/.../ Svalbard Gallery has a number of collections. Svalbard enthusiast Henrik Varming has for years collected maps and books which mention Svalbard and these are all exhibited in the gallery. The Kåre Tveter collection comprises 40 paintings, mainly images of Svalbard. Also included is a picture series called ’ arctic light over Svalbard’ in which photographer and musician Thomas Wiederberg captured the light at Svalbard through a year and composed music inspired by his own photos. Finally the museum includes the Recherche Expedition, which consists of 27 lithographic prints »(9).
Wenn wir noch dazu die Architektur und andere praktische Gestaltungen der Menschen einbeziehen, kommen wir im Rahmen von Kunst mit Bezug auf zum Beispiel Farben zur Frage der Bemalung der Häuser und wie diese Farben mit der Natur spielen. Weiters ist interessant zu sehen, wie modern gebaut und gemalt wird. Erwähnt werden müssen in diesem Zusammenhang die Kunstdesignerin Grete Smedal (Kunsthochschule Bergen), die beauftragt wurde, für Longyearbyen neue Farben zu vorzuschlagen, Farben für die Häuser(10). Sie hat sich sehr auf die arktische Natur bezogen, als sie diese Farbvorschläge ausgearbeitet hat. Es ist mir auch erzählt geworden, dass im autonomen Gebiet Nunavit von den Inuit ganz im Norden von Kanada, die Hauptstadt Inuvik mit ähnliche Farben gestaltet wurde, die Pastellfarben bzw. Naturfarben sind, die helle Nuanzierungen und Kontrastierungen aufzeigen. Diese Farben sind anderes als die rote Farbe, die ehemalige Farbe der alten Seehäuser, wie sie in Ny Ålesund auf Svalbard noch zu finden sind, weil dort während des Zweiten Weltkriegs wenig zerstört wurde. Man kann sich fragen, ob die Pastellfarben einen Idealanspruch haben, ob sie neuromantische Strömungen in sich tragen. Auf alle Fälle kann von einer Farbendramaturgie mit Bezug auf Arktis gesprochen werden.
Tone Benedicte Deehr erzählt in der Dissertation Vernacular Imagers of the Svalbard Archipelago from 1596-1996, wie Jäger ihre lokale Rituale von Zuhause mitgebracht haben, als sie Svalbard besuchten 2). Dann haben sie dort einen eigenartigen Charakter von Fest und Spiele unter arktischen Bedingungen entwickelt, so wie vor allem mit Bezug auf die russischen Jäger, die seit dem 16 Jahrhundert das Svalbard Archipelago besucht haben.
In den 1930 Jahren besuchten sowjetische Agit Prop Gruppen aus Barentsburg Norwegische Siedelungen wie Longyearbyen und Ny Ålesund, was zum Beispiel im Museum von Ny Ålesund dokumentiert ist. Es wurde höchstwahrscheinlich Laientheater in diesen Siedlungen seit Anfang des 20 Jahrhundert gemacht, und die Strapazen der Jäger und Bergleute wurden in mehreren bühnendramatischen Arbeiten dargestellt, aber auch in Photosausstellungen und mehrfach in Filmen. Der Entdecker von altnordischen Siedlungen auf Neufundland, Helge Ingstad, der zuvor in Svalbard Sysselmann war (eine Art Amtsvorsteher bzw. Gouverneur) hat z. B. ein Polardrama geschrieben (11). Eismeergeschichten gehören zur norwegischen Kulturverständnis und zur Folklore, und die Erzählungen haben viele Richtungen genommen. Kunst in der Arktis kann und sollte unter ihren eigenen Bedingungen weiter erforscht werden - mit Bezug auf Kulturwissenschaften so wie auch Kunst- und Theaterwissenschaften. Die Naturwissenschaften können aber auch in dieser weiteren Erforschung eine entscheidende Rolle spielen. Das hat auch unsere Arbeitsgruppe im Rahmen der IRICS-Konferenz gezeigt.
© Knut Ove Arntzen (Universität Bergen, Norwegen)
ANMERKUNGEN
(1) 1) Cook, J. W., The Quintessential Frontier Religion: The Restoration Movement in Alaska. University of Alaska, Fairbanks 1999.
(2) Deehr, T. B., Vernacular Imagers of the Svalbard Archipelago from 1596-1996. University of Alaska, Fairbanks 1997.
(3) Arntzen, K. O., On Nomadism, http://www.inst.at/trans/14Nr/arntzen14.htm
(4) Arntzen, K. O., Post-mainstream as a geocultural dimension for theatre, http://www.inst.at/trans/5Nr/arntzen.htm
(5) Tomaszewski , L., in The Situationist Times, Nr 5, Paris/Kopenhagen 1964, S. 13.
(6) Jòrn, A., in The Situationist Times, Nr 5, Paris/Kopenhagen, S. 9.
(7) http://www.ub.uit.no/northernlights/nor/recherche.htm.
(8) Ritter, C., Eine Frau erlebt die Polarnacht. Berlin 1938/2003.
(9) http://www.culturalprofiles.org.uk/norway/Units/496.html, downl. 30.6.06
(10) Smedal, G., Longyearbyen i farger - og hva nå?, Bergen 2001.
(11) Ingstad, H., Siste båt (Der letzte Boot), Theaterstück, 1946 aufgeführt, und dann in 2000 im Sogn og Fjordane Teater, das Regiontheater in Førde, West Norwegen, in einer Bearbeitung von Mette Brantzeg.
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