Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Februar 2006
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"Universitär" d. h. universal sein -
wenn es auch nicht mehr (nur) um Universitäten geht

Sándor CSEH (Westungarische Universität Györ, Ungarn)

 

Unser Blick zielt in erster Linie immer auf die Zukunft - dies geschieht in allen wichtigen Lebensbereichen: in der Liebe, der Hoffnung, der Religion, der Arbeit - so soll es auch beim Unterricht sein. Nur aus solchen Gründen - wenn man so will, geht aktuell eine Umstrukturierung des Universitätsunterrichts (und damit des ganzen Unterrichts) in den Ländern der Europäischen Union vor sich. Das Projekt heisst "Bologna-Beschluss 1999". Mein Land, Ungarn, passt sich eminent an diesen Prozess an. So fällt es uns überhaupt nicht schwer, diesen Beschluss und den Prozess , der ihm folgt, als die aktuelle Zukunft des Unterrichts in Ungarn anzuerkennen. "Bologna" selbst will sich an etwas anpassen - und zwar an die "Anforderungen eines transkontinentalen Pragmatismus". Aber das Gesetz bringt auch eine Art Erschütterung der traditionellen universitas mit sich. Im Laufe dessen muss man schliesslich einsehen, dass die herkömmlichen, in gewisser Hinsicht vielleicht "aristokratischen" Formen der Gestaltung und Erforschung des Wissens nicht mehr adäquate Richtlinien eines (Hoch)schulverhaltens sein können.

Die Universitäten tauchen vielmehr als Sammelpunkte gesellschaftlicher Fähigkeiten und Informationen auf. Das sogenannte "Grundfach" ist die neue Einheit des Unterrichts, des Wissens und schliesslich des Menschen selbst. Es erfordert sowohl eine Art Stabilität und Entschlossenheit der Studierenden als auch die Flexibilität derselben: Sie können immer - vor allem aber noch im Laufe des Unterrichtsprozesses - ihr Bestreben anders formulieren, sogar ohne wesentlichen Zeit-, Geld- und Energie-Verlust völlig neu denken. Unter solchen Umständen werden zukünftig die Lebensläufe nicht so aussehen, dass ein 18jähriger als 80jähriger unbedingt der Pensionist oder gar der Verstorbene seines urspünglichen Faches sein muss, sondern es wird überhaupt nicht so etwas wie ein "ursprüngliches Fach" geben. Es wird Fächer oder vielmehr aber Fachrichtungen geben, die die aktuellen Zustände einer Gesellschaft, Wirtschaft, ja eines Menschen ausdrücken werden. Dies ist sicher notwendig, auch wenn es dabei nicht in erster Linie um die Universitäten geht - kein "Selbstzweck", keine traditionelle Wissensstrukturierung, aber diese Institutionen werden dennoch beibehalten. Wenn es aber Universitäten auch weiter geben wird, so werden doch die universitären Verhaltensformen gültig bleiben. Die des Unterrichts, des Lernens und der menschlich-gesellschaftlichen Kommunikationsformen an den Fakultäten und Campusen. Wie sollen diese Verhaltensweisen aussehen? Man kann keine endgültige und sichere Antwort geben. Fest steht nur, dass diese Verhaltensweisen, diese universitären Gesten, vielfältig, vielschichtig, komplex und offen sein müssen.

Die Anforderung der Berücksichtigung der Komplexität hören wir nicht zum ersten Mal in unserer Kultur. Zweifelsohne braucht man aber heute eine andere Art Komplexität wie gestern oder vorgestern. Oder in den uralten Zeiten der Vergangenheit. Die alten Zeiten waren schön, aber die Qualität unserer Existenz hängt natürlich davon ab, welches Profil unsere Kinder und Enkel, dann deren Kinder und Enkel werden aufweisen können usw. Und so weiter? Aber wie? Die fast dreitausendjährige europäische Kultur konnte in einem ausgezeichneten Augenblick u. a. auch eine komplexe Bildung des humanen Wesens aufweisen: in den Gymnasien der Altgriechen wurden sowohl Geist als auch Körper gefördert. Sport bildet heutzutage einen festen Bestandteil des Lebens und der fast schon kultischen Orientierung der Jugendlichen, so dass das fehlende Element der erstrebten und gehofften Komplexität gegebenenfalls nicht in ihm erblickt werden konnte. Wo und wann können also Defizite dieser Komplexität erblickt werden?

Z. B. in einer kleinen und partikularen Geschichte der Einführung des neuen Unterrichts-, d. h. Universitätssystems in Ungarn in den letzten Jahren. Im Problem, das eben das Einfügen der Schulpädagogik in die neue Struktur für das Ministerium und die akkreditatorischen Instanzen bedeutete. Diese Geschichte ist aber so partikulär, dass ich sie Ihnen nicht detalliert erzähle. Es sei genug, darauf hinzuweisen, dass es eine zeitlang fraglich war, ob solche zukünftigen LehrerInnen, die sich mit den ganz Kleinen in den Grundschulen beschäftigen, ihren berechtigten Platz in dem von Bologna bestimmten neuen ungarischen Unterrichtssystem auf universitärer Ebene wiederfinden werden. Ich melde nun das Ergebnis: dieser berechtigte Platz für diese jungen Studierenden ist keine Frage mehr. So ist es gut, aber die Vorbereitungsphase war nicht leicht. Der Kampf wurde hart gekämpft. Die Wacht der Altpädagogen - ganz im Geist der Altgriechen etwa - konnte sich (noch) durchsetzen. So wie es ist, können wir sagen, dass auch die universitäre Seite des sich umstrukturierenden Europas in Ordnung ist, und zwar unter allen Reformbestrebungen. Die Universitäten nämlich - oder wie immer wir diese universellen Bildungsanstalten auch nennen - bekommen ihre Neuankömmlinge aus den Schulen, und bilden für sie - nach wie vor - die Lehrkräfte aus.

Universitärer Charakter der Hochschulen, der (ehemaligen) Universitäten Europas, bedeutet nun nicht mehr (aber auch nicht weniger!) eine spezielle Art zentraler Stellung innerhalb der Kulturkommunikation, der Kommunikation überhaupt. Eine solche Universität besteht nicht nur aus Lehrstühlen und Instituten. Sie besteht vor allem aus Computerräumen, der Abteilung der Internationalen Beziehungen und nicht zuletzt dem Büro der Regionalen Arbeitskraft-Förderung, wo man auch pragmatische Ratschläge bekommen kann, wie man sein Leben fachlich gestalten könnte. Sonst ist eine solche Universität - aus dem Blickwinkel der Studierenden betrachtet - "nur" der Schauplatz der Aktivitäten von jungen, ziemlich intelligenten und zielbewussten Menschen, die ihr Leben sicherlich nicht an einem einzigen Ort, in einem einzigen Land verbringen werden.

© Sándor CSEH (Westungarische Universität Györ, Ungarn)

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For quotation purposes:
Sándor Cseh (West Hungarian University, Hungary): "Universitär" d. h. universal sein - wenn es auch nicht mehr (nur) um Universitäten geht. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005.
WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/plenum/cseh16DE.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 17.2.2006     INST