Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Dezember 2005 | |
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Alfred Gusenbauer (Wien)
[BIO]
Bereits bei ihrer Gründung im 19. Jahrhundert hatte die Sozialdemokratie erkannt, dass Wissen eine höchst bedeutende Rolle für die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, aber auch für sie als Partei spielen würde.
Im Grunde hat sich daran bis heute nichts geändert. Ganz im Gegenteil: In einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr in Richtung Dienstleistung und Information entwickelt, wird Wissen zur zentralen Ressource, die sowohl für die individuelle Entfaltung als auch für den gesellschaftlichen und ökonomischen Gesamterfolg unverzichtbar wird.
Im EU-Europa des 21. Jahrhunderts sind natürlich andere Bedingungen gegeben als im ausgehenden 19. Jahrhundert. An die Stelle eines täglichen Überlebenskampfes für die überwiegende Mehrheit der Menschen ist ein Wohlfahrtsstaat getreten, der in unterschiedlicher Akzentuierung und Intensität für Grundbedürfnisse des Daseins vorsorgt. Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Verunsicherung sind freilich damit nicht verschwunden.
Die Rasanz der gesellschaftlichen Entwicklung, die nicht nur am Arbeitsmarkt Vertrautes und Gewohntes unter Druck setzt, erzeugt Unsicherheit und erfordert politische Antworten. Nur ein Beispiel für die Dramatik der Veränderungen:
Noch am Beginn des 20. Jahrhunderts lebten rund 90% der österreichischen Bevölkerung von der Landwirtschaft. Heute sind es im Kern rund 1,7% der Bevölkerung. Hier hat ein grundlegender Transformationsprozess stattgefunden, der im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts auch die Industrieproduktion erfasste.
Auch wenn es im Prinzip genügend materielle Güter für alle geben würde, so sind diese Güter doch ungleich verteilt. Noch immer findet - auf globaler Ebene, aber durchaus auch in Europa - die gesellschaftliche Auseinandersetzung über diese Verteilung statt. Nicht selten sind Versuche, eine Umverteilung zu ungunsten der sozial Schwächeren durchzuführen. Das ist auch Ausdruck einer neoliberalen Politik, die nirgendwo erfolgreich ist, und sogar teilweise - wie in Frankreich - zu gewaltsamen Auseinandersetzungen geführt hat. Die soziale Frage bleibt jedenfalls auch im 21. Jahrhundert die zentrale Frage.
Die Europäische Union hätte in diesem Zusammenhang die Aufgabe, Perspektiven für eine andere Entwicklung zu bieten, die auf mehr Gerechtigkeit, wie z.B. die Beseitigung der Armut zielt. Innerhalb der Europäischen Union, aber auch in jenen Ländern, die als Freunde an ihren "Rändern" gewonnen werden sollen.
Ein wesentliches Element einer solchen Politik muss bestmögliche Bildung und damit die Stärkung des Wissens sein. Voraussetzungen dafür sind das Lesen und die Interpretation von Zeichen, Bildern, Texten, Zahlen - gerade auch unter Berücksichtigung der neuen Bedingungen. Ohne diese Fähigkeiten gibt es keinen Zugang zur Tradition, aber auch nicht zu den neuen Möglichkeiten. Die Vermittlung dieser kulturellen Fähigkeiten hat daher im Mittelpunkt jeder Bildungspolitik zu stehen und muss früh im Lebensalter ansetzen.
Wissensproduktion war im 19. und auch noch im beginnenden 20. Jahrhundert ein Privileg. Heute muss aber festgestellt werden, dass der wesentliche Faktor der Wissensproduktion das "Licht der Öffentlichkeit" ist, wie dies Immanuel Kant genannt hat.
Wissensproduktion ist auch nicht zu vergleichen mit Agrarproduktion oder Industrieproduktion. Sie benötigt spezifische Arbeitsformen, die Innovation ermöglichen, und ist im Kern auf die Nutzung vorhandenen Wissens und der Entwicklung neuen Wissens konzentriert.
Die Wissensproduktion ist in sich stark differenziert: in die Bereiche der Entwicklung des Wissens (Innovation), der Sicherung und Tradierung des Wissens (Reproduktion) sowie der Weitergabe des Wissens (Bildung). Diese Bereiche sind von einer starken Wechselbeziehung geprägt und auch hier spielt die Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle bei der gegenseitigen Information und dem Austausch, die für die Qualität entscheidend sind. Ohne Öffentlichkeit bleibt das Wissen Stückwerk und nur bedingt brauchbar.
Für die heutige Wissensproduktion haben sich die Rahmenbedingungen völlig verändert. Wissensproduktion und -reproduktion sind nicht mehr auf einen kleinen Bereich beschränkt, sie sind zum eigentlichen Faktor der Produktion in Europa und der Welt geworden. Es sind nicht mehr wenige, die forschen, lehren und Wissen verbreiten. Vielmehr ist die Wissensproduktion zu einem Massenbetrieb geworden.
Dabei beschränkt sich Politik oft darauf, das Schlagwort "Forschung und Entwicklung" nur dazu zu nutzen, Subventionen mit einer anderen Rhetorik - aber im Sinne der alten sozialen Interessen - zu verteilen. Dies erbringt keineswegs eine neue Produktivität, sondern - nur scheinbar paradoxerweise - führt eine solche Politik gerade in der heutigen Zeit zu einer hohen Akademikerarbeitslosigkeit, weil den neuen gesellschaftlichen Prozessen nicht entsprochen wird.
Bei einer solchen Politik der Interessensbedienung überkommener Sozialstrukturen ist nicht ersichtlich, wie im ländlichen oder auch im urbanen Bereich die Lebensverhältnisse neu gestaltet werden könnten. Die Zerstörung entsprechender Infrastruktur im ländlichen Raum beispielsweise steht im strikten Gegensatz zu der Erkenntnis, dass Kommunikation und Öffentlichkeit die wesentlichen Rahmenbedingungen sind, die Produktion und Distribution bestimmen und über deren Produktivität entscheiden.
Es reicht aber auch nicht aus, die richtigen Schwerpunkte in der Bildung zu setzen, die Transformationsmöglichkeiten zu erkennen, die richtigen Entscheidungen im Einsatz von Wissen - zum Beispiel Technologie - zu setzen.
Es ist wichtig, dass die gesellschaftlichen Prozesse auf allgemeinen Nutzen ausgerichtet sind. Reine Restriktion ist nicht zielführend. Es ist evident, dass es einer anderen Gesellschaftspolitik bedarf, nicht nur um Gewaltexzesse wie in Frankreich zu vermeiden, sondern auch, um das allgemeine Zusammenleben produktiv zu gestalten. Es geht um die Motivation der Menschen, sich in gesellschaftliche Prozesse einzubringen. Die Verängstigung durch Restriktion bringt nur Probleme im persönlichen Leben der Menschen, aber auch im ganzen sozialen System.
Zu einer produktiven Gestaltung des allgemeinen Zusammenlebens gehört die Möglichkeit, sich zu engagieren. Es bedarf daher einer Politik, die auf das Erkennen von Möglichkeiten und die breite gesellschaftliche Motivation setzt.
In diesem Sinne geht es nun im 21. Jahrhundert unter anderem darum, die Möglichkeiten und Chancen der Wissensproduktion zu erkennen. Dazu sind die Vorschläge aus der Wissenschaft und Forschung natürlich von grundlegender Bedeutung. Sodann sind diese Erkenntnisse mit den richten Multiplikatoren zu verbreiten und umzusetzen.
Eine Konferenz wie diese Konferenz, zu der WissenschafterInnen, KünstlerInnen, PädagogInnen, MedienvertreterInnen, PolitikerInnen aus über 80 Ländern gekommen sind, hat beste Voraussetzungen, neue Vorschläge zu unterbreiten, da sie sich nicht nur mit isolierten Fakten beschäftigt, sondern transnational die neue Bedeutung von Wissen und Wissensproduktion für heutige gesellschaftliche Prozesse zu erfassen versucht. In diesem Sinne wünsche ich den Beratungen dieser Konferenz alles Gute.
© Alfred Gusenbauer (Wien)
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