Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Dezember 2005 | |
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Peter Horn (Johannesburg, University of the Witwatersrand)
[BIO]
In unserem Garten in Kapstadt wuchs ein Unkraut, Sutherlandia frutescens, das die Buren "Kankerbos", die Xhosas "Unwele" nannten, und von dem ein einheimischer Heiler, Credo Mutwa, behauptet, es strahle Energie und Wohlsein aus, es reinige das Blut und sei ein Tonikum, es bekämpfe die Symptome der Grippe und kann benutzt werden um Krebs zu bekämpfen, denn seine Früchte seien krebsartig.
"Es gibt keine Ähnlichkeit ohne Signatur", so beschreibt Foucault (1974:57) das Wissenssystem des 16. Jahrhunderts. Das Gesicht der Welt ist mit "Hieroglyphen" überdeckt. Alle Pflanzen sind ebenso viele Bücher und magische Zeichen. Die magische Form war der Erkenntnisweise inhärent. Giovanni Battista della Porta (1545-1615) untersuchte in seiner Phytognomica (1588) ein gesamtes Pflanzensystem nach der Signaturenlehre, also nach äußeren, morphologischen Kennzeichen, die die verborgenen Heilkräfte verraten.(1) Greift Credo Mutwa also hier auf eine altertümliche Magie der Ähnlichkeiten zurück, oder hat das Kraut tatsächlich eine heilende Wirkung? Das magische Denken nämlich ist durch die Vorstellung gekennzeichnet, daß Dinge, die einander ähnlich sind, in einer Weise, die wissenschaftlich nicht getestet werden kann, auch ursächlich miteinander verbunden sind.
Einerseits, auf der Ebene der Naturwissenschaft, hat unser Denken aufgehört, sich in dem Element der Ähnlichkeit zu bewegen. Was vor allem an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sich ändert, und noch unsere heutige Form des Wissens bestimmt, ist die Auffassung, das Wissen selbst sei eine im voraus bestehende Seinsweise zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Gegenstand der Erkenntnis.(2) Von dem Denken Mutwas trennen uns zwei Diskontinuitäten in der episteme der abendländischen Kultur. "Das heißt nicht, daß die Vernunft Fortschritte gemacht hat."(3) Und das heißt nicht, daß die afrikanischen Heiler nichts wußten. "Gefunden" haben die Wirkung dieses Unkrauts (falls es denn eine Wirkung hat) die afrikanischen Naturheiler.
Zwei Operationen trennen ihr Verständnis aber von dem was heute Wissen heißt: die Analyse der Wirkstoffe und die Analyse ihrer Wirkung im Körper - also die Überprüfung der Wirksamkeit in klinischen Tests. Theorie das eine, Praxis das zweite. Alte Volksweisheit, auch wenn sie wiederentdeckt wird und neu verpackt wird, hat wenig Chancen gegen die Produkte, die aus modernen wissenschaftlichen Laboratorien kommen.
Wissenschaftler in Südafrika sind dabei, etwa 10 verschiedene Pflanzen zu testen, die potentiell Krankheiten wie Malaria, Tuberculose und Diabetes heilen könnten, oder sich als Immunmodulatoren für Lebertransplantationspatienten eignen könnten. Südafrikas Biodiversität ist längst noch nicht völlig erforscht, und einheimische Wissenssyssteme können uns weiterhelfen, mögliche Heilkräfte zu entdecken. Ähnliches gilt für einheimisches Wissen um Lebensmittel und ihre Verarbeitung.
Es geht aber nicht nur um Technologien sondern auch um kulturelle Systeme. Einheimische Wissenssysteme haben aber nicht nur mögliche industrielle Produkte zu bieten, sondern auch gesellschaftliches und kulturelles Wissen, das bei der Bewältigung der Probleme der Globalisierung und der Modernisierung in traditioneller Gesellschaften hilfreich sein könnte. Ethische und Rechtssysteme, Erziehungslehren, Konfliktlösungsstrategien, religiöse Vorstellungen, kognitive Funktionen einheimischer Sprachen, Wissenschaften und Technologien - all das muß daraufhin untersucht werden, wie es das Leben der Menschen in einer Region bestimmt und erleichtert. Dabei gilt die Maxime, daß die Erforschung dieses Wissens unter Mitwirkung der lokalen Gemeinschaften und zu ihrem Vorteil geschehen sollte. Einheimische Wissenssysteme sind aus bestimmten lokalen Gegebenheiten entstanden und werden auch dort immer noch ganz oder teilweise tradiert, wo einheimische Gemeinschaften kolonisiert und unterdrückt wurden.
Die Frage, die mich interessiert ist: was ist das für ein Wissen, das z.B. Naturheiler haben, und wie unterscheidet es sich von dem Wissen, das z.B. an europäischen Universitäten gelehrt und erforscht wird? Diese Frage hat einen wesentlichen Einfluß darauf, wie einheimisches (afrikanisches) Wissen in Europa und Amerika wahrgenommen wird, aber auch, wie europäisches und amerikanisches Wissen in Afrika verwendet wird. So ist es z.B. wichtig zu verstehen, wie sich einheimische afrikanische Menschen zu einer globalisierten Ökonomie verhalten, die ihre eigene Produktion von Mitteln zum Überleben oft völlig zerstört hat. Das äußerst verarmte Volk in vielen afrikanischen Staaten glaubt z.B., dass sich der Wohlstand irgendwie herbeizaubern lasse - und handelt danach. Die Anthropologen Jean und John Comaroff haben dafür den Begriff »okkulte Ökonomie« geprägt: Er umschreibt die Anwendung magischer Mittel zur Erzeugung materieller Reichtümer, Mittel, die rational nicht erklärbar sind und oft auf der Vernichtung anderer Menschen beruhen. (4)
Fred Khumalo beschreibt wie er als junger Mann mit einer "Medizin" bekannt gemacht wurde, mit der man einen Arbeitsplatz bekommen konnte, oder Mädchen anziehen konnte.(5) Während Khumalo und seine gebildeten Freunde darüber lachen konnten, sind solche "Medizinen" für die meisten, die in ihrer Verzweiflung fast alles glauben, nicht zum Lachen. Und wenn ein inyanga (Heiler) ihnen dann noch sagt, sie müßten z.B. ein Kind töten, um gesund zu werden oder daß sie das Opfer eines Zaubers (muti) ihres Nachbarn sind.(6) Die Zahl der mutmaßlichen penis shrinkers, die der Mob in Ghana totgeschlagen hat, ist unbekannt. Man weiß auch nicht, wie viele Frauen, die in Südafrika als witches verfolgt wurden, in so genannte Schutzdörfer geflohen sind. Das kontinentale Ausmaß lässt sich nur ahnen, wenn man sich eine Statistik aus Tansania vor Augen hält. Dort sind nach Schätzungen des Familienministeriums allein zwischen 1994 und 1998 über 5000 »Hexen« umgebracht worden.(7) So wird der Hexenglaube zu einem Instrument der sozialen Kontrolle, ja, des Terrors, das die Macht- und Besitzverhältnisse zementiert, gesellschaftlichen Aufstieg verhindert, die Tüchtigen bestraft, die Menschen mental lähmt, die Entwicklung zum modernen homo oeconomicus blockiert.(8) Natürlich gibt es überall, auch in Europa, in dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Spannungen: Wunderheilungen in Fatimah, wenn die moderne Chemotherapie versagt, afrikanische Heilungsriten gegen die Hoffnungslosigkeit der AIDS-Kranken; das eine bestreitet dem anderen seine Gültigkeit und Legitimität. Klinische Testreihen verdrängen Althergebrachtes, das sich auf Traditionen beruft, die älter sind als die Entschlüsselung des Genoms.(9) Zwar, so kritisierten Adorno und Horkheimer die aufgeklärte und moderne Praxis: "Natur soll nicht mehr durch Angleichung beeinflußt, sondern durch Arbeit beherrscht werden."(10) Und: "Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen."(11) Aber ob der "beseelte" Krebsbusch besser (oder überhaupt) heilte als der versachlichte, ist noch sehr die Frage.
In der Moderne fühlen die Menschen sich gar nicht zu Hause, - da haben " in der Helle der vorurteilslosen Kenntnis Dinge und Menschen" eine "dämonenhaft verzerrte Gestalt" angenommen. In Europa gibt es einerseits die Moderne und ihre Wissenschaftler, aber auch viel magisches Denken, das zwei Ereignisse miteinander verknüpft, ohne sich um eine wirkliche Kausalität zu bekümmern;(12) es gibt Parapsychologie(13) und Homeopathie.(14) Aber gleichzeitig sehen moderne Menschen in den " Zauberern und Medizinmännern" nur "Blendwerk" , das auf "die Herrschaft zurück weist, auf das Prinzip, das schon die Spezifikation des Mana in die Geister und Gottheiten bewirkte".(15)
Wie in Europa herrschen auch in Afrika gewisse irrationale Diskurse, die sich auf Traditionen berufen, die allerdings meist in dieser Form gar nicht bestanden. Der belgische Kulturforscher Filip de Boeck hat den Hexendiskurs im Kongo untersucht. Dort grassiert eine krankhafte Furcht vor hübschen kleinen Mädchen. Sie werden kamoke sukali genannt, Zuckerpüppchen, und verwandeln sich angeblich in Femmes fatales, um ihre Väter zu verführen und ihnen die Hoden abzureißen. Häufig werden Aids-Waisen, Streetkids oder Kindersoldaten der Schwarzen Magie bezichtigt. In Kinshasa verfolgt der Mob die »Kinder von Lunda« als Hexen; sie haben es beim Diamantensuchen im Kriegsland Angola zu Geld gebracht und erwecken die Missgunst ihrer verarmten, arbeitslosen Väter. Der Erfolg der Jungen gefährdet die gerontokratische Ordnung, die Älteren sehen ihre Autorität erodieren. Deshalb machen sie die Heimkehrer verantwortlich für Armut, Siechtum und alles unbegreifliche Unglück. Und gerade jene Bewegungen, die voller Bekehrungswut gegen diese Phänomene ankämpfen, die christlich-fundamentalistischen Freikirchen und Sekten, verstärken durch endzeitliches Geschrei die Angst vor Teufeln und Hexen. (16)
Der nigerianisch-südafrikanische Wissenschaftler, Kole Omotoso, hat darauf hingewiesen, daß viele afrikanische Intellektuelle alles, was aus Europa kommt, als eurozentrisch boykottieren, daß aber die meisten Afrikaner sich mit den Folgen der Begegnung zwischen Europa und Afrika abgefunden haben. Afrikaner können nicht umhin, meint er, ein Teil dessen zu werden, was Europa in der Welt zustandegebracht hat, ohne aber zu vergessen, daß sie dem aus ihrer Kultur und ihrem Wissen auch etwas hinzuzufügen hätten. Statt diesen Politikern und Intellektuellen zu folgen, die ständig eine afrozentrische Position forderten, die aber in Afrika eine Minderheit seien, müsse man zu einer neuen Verbindung des einheimischen Wissens mit dem der restlichen Welt kommen. Es ginge nicht an, einfach eine Afrikanisierung der Armut zu propagieren.(17)
Sikhumbuzo Mngadi hat es als einen neuen Exotismus und als naiv ahistorisch bezeichnet, zu glauben, man könnte zwischen "europäischen" und "afrikanischen" Vorstellungen von Universitäten unterscheiden, auch wenn diese europäischen Institutionen mehr oder weniger von den Kulturen außerhalb von Europa verändert wurden, die sie übernahmen.(18)
Was die europäische Wissenschaften auszeichent, ist die Systematik. Oder wie Kant sagt: "Ihre Vorschriften sind die Anweisungen zum hierarchischen Aufbau der Begriffe." ... "Das »Systematische« der Erkenntnis ist »der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip«" (Kant). Insgesamt wird die Vernunft von der Wissenschaft unterrichtet. Die Vernunft muß der Wissenschaft gehorchen, und zwar der am weitesten entwickelten Wissenschaft, der am stärksten sich entwickelnden. Die Vernunft hat nicht das Recht, eine unmittelbare Erfahrung überzubewerten; sie muß sich im Gegenteil mit der Erfahrung ins Gleichgewicht setzen, mit der am reichsten strukturierten. Unter allen Umständen muß das Unmittelbare vor dem Konstruierten zurücktreten.(19)
Denken ist im Sinn der Aufklärung die Herstellung von einheitlicher, wissenschaftlicher Ordnung und die Ableitung von Tatsachenerkenntnis aus Prinzipien, mögen diese als willkürlich gesetzte Axiome, eingeborene Ideen oder höchste Abstraktionen gedeutet werden. Die logischen Gesetze stellen die allgemeinsten Beziehungen innerhalb der Ordnung her, sie definieren sie. Die Einheit liegt in der Einstimmigkeit. Der Satz vom Widerspruch ist das System in nuce.(20) "Denken, das System und Anschauung nicht in Einklang hält, verstößt gegen mehr als gegen isolierte Gesichtseindrücke, es kommt mit der realen Praxis in Konflikt. Nicht allein bleibt das erwartete Ereignis aus, sondern das unerwartete geschieht: die Brücke stürzt, die Saat verkümmert, die Medizin macht krank."(21)
© Peter Horn (Johannesburg, University of the Witwatersrand)
ANMERKUNGEN
(1) Ilse Jahn, Grundzüge der Biologiegeschichte. Jena 1990:181
(2) vgl. Foucault, Michel 1974. Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 309
(3) Foucault, Michel 1974. Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 25
(4) Bartholomäus Grill, Die Macht der Hexen Die Zeit 15.09.2005 Nr.38: "Jeden Tag fragen sich Millionen von Afrikanern: Wie können die Weißen Raketen ins All schießen und Computer bauen? Warum sind sie so reich und wir so arm? Und jeden Tag antworten sich Millionen: weil sie mit übernatürlichen Mächten im Bunde sind und die besseren Hexen haben."
(5) In Zulu heißt diese "Medizin" velabahleke, das ist "a foulsmelling ointment that you applied to your face so that wherever you appeared the girls would fall for you. Not only that, but if you went looking for a job, you applied the stuff to your face, and the groot baas would love you to bits and give you a job on the spot, promote you to an induna within a few weeks."
(6) Fred Khumalo, Pedlars of false hope mustn't profit from our freedom. Sunday Times (Johannesburg) 9.10.2005: p.35
(7) Bartholomäus Grill, Die Macht der Hexen Die Zeit 15.09.2005 Nr.38
(8) Bartholomäus Grill, Die Macht der Hexen Die Zeit 15.09.2005 Nr.38. Vgl auch David Signer, Die Ökonomie der Hexerei. Oder warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt (Peter Hammer Verlag, Wuppertal)
(9) Bartholomäus Grill, Die Macht der Hexen Die Zeit 15.09.2005 Nr.38
(10) Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W. 1971.Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Fischer: 20
(11) Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W. 1971.Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Fischer: 29
(12) vgl. James Alcock http://www.csicop.org/si/9505/belief.html
(13) Dean Radin (1997), a foremost apologist for parapsychology, notes that "the concept that mind is primary over matter is deeply rooted in Eastern philosophy and ancient beliefs about magic." However, instead of saying that it is now time to move forward and give up the magical thinking of childhood, he rebuffs "Western science" for rejecting such beliefs as "mere superstition." Radin, Dean (1997). The Conscious Universe - The Scientific Truth of Psychic Phenomena. HarperCollins
(14) Fallacies in homeopathic claims have been discussed by many, including Barrett (1987) and Gardner (1989) in this journal; but it is curious that this healing system has not been more widely recognized as based in magical thinking. The fundamental principle of its founder, Samuel Hahnemann (1755-1843), similia similibus curentur ("let likes cure likes"), is an explicit expression of a magical principle. The allegedly active ingredients in homeopathic medications were "proved" effective against a particular disease when they produced in healthy people symptoms similar to those caused by the disease. According to a survey about alternative medicine in the November 11, 1998, Journal of the American Medical Association, Americans' use of homeopathic preparations more than doubled between 1990 and 1997 (Eisenberg et al. 1998). Eisenberg et al. (1998) found that "alternative" or "complementary" medicine use was significantly more common among people with some college education (50.6 percent) than with no college education (36.4 percent), among people aged 35-49 than older or younger, and among people with annual incomes above $50,000.
(15) Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W. 1971.Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Fischer: 29
(16) Bartholomäus Grill, Die Macht der Hexen Die Zeit 15.09.2005 Nr.38
(17) Kole Omotoso, The Africanization of poverty. Scrutiny2 - issues in english studies in southern africa vol 2 no 1: 13f
(18) Sikhumbuzo Mngadi (1997), "Africanization", or, the new exoticism. Scrutiny2 - issues in english studies in southern africa vol 2 no 1:17-23
(19) Bachelard E pistemologie 130
(20) Adorno/ Horkheimer 1971:74
(21) Adorno/Horkheimer 1971:75
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