Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Dezember 2005
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Reformierung des Universitätssystems oder Globalisierung der akademischen Biographie in Georgien

Nino Pirzchalava (Staatliche Ilia Tschawtschawadze Universität für Sprache und Kultur, Tbilissi)

 

Wahrscheinlich darf man sich jede Kultur in symbolischer Gestalt einer pflanzlich-kosmischen Metapher eines Baumes vorstellen. Dieser Baum des Lebens und der Weisheit hat seine Wurzeln im metaphysischen Boden der jeweiligen Nationalkultur gefaßt, welche gerade dadurch ihre absolute Selbstidentität und Authentizität gewinnt und behält. Der Stamm des Baumes aber dient als vereinigende Weltachse zwischen den unterirdischen Wurzeln und dem zum Himmel strebenden Wipfel. Gerade die Kraft und die Stärke des Stammes, aber gleichzeitig auch seine Fähigkeit zur Transparenz, zur Durchlässigkeit des Lichtes und des Lebenssaftes ist Bürgschaft dafür, wieweit jeweilige Kultur in der Lage ist, den angeborenen altherkömmlichen eigenen urwüchsigen Provinzialismus zu überwinden, der mehr oder weniger fast jeder Kultur immanent ist und wesensmäßig zu ihr gehört. Denn gerade dieser Stamm führt zu jenem Wipfel des Baumes, dessen Spitze zur Idee des transnational-transkulturellen Zusammenlebens sich aufschwingt und eben auf diese Art und Weise den urwüchsig-altherkömmlichen nationalen Provinzialismus in einem ausgesprochenen Gesinnungsuniversalismus aufhebt. Eben hier findet man bestimmte Ansätze für euro-asiatisches Zusammenwachsen. Denn Georgien als Land der Mitte, als Land des kulturellen Dolmetschertums zwischen Osten und Westen hat auf seine Art und Weise die universelle Einheit zwischen räumlicher Wahrnehmung der Welt und der Gotteserkenntnis erlebt. Diese globalisierte Auffassung der Welt hat jene Tradition der absoluten kulturell-konfessionellen Toleranz geprägt, welche zu seiner Zeit Goethe mit aus dem Koran entnommenen Versen "Und Allahs ist der Westen und der Osten" (2.Sure) in seinem "West-östlichen Divan" zum Ausdruck gebracht hat ("Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident! Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände") (1) und den Versen aus dem Koran ein besonderes Ethos und Pathos des aufklärerischen Universalismus verliehen hat, was im gewissen Sinne als Ansatz der Globalisierungsidee zu betrachten ist. Als ein typisch vorderasiatisches Land war Georgien stets zu Europa hingewendet und nach einer Behauptung von Hegel, "was darin hervorragend ist, hat dieses Land nicht bei sich behalten, sondern nach Europa entsendet. Den Anfang aller religiösen und aller staatlichen Prinzipien stellt es dar, aber in Europa ist erst die Entwicklung derselben geschehen". (2)

Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, scheint der Baum der georgischen Kultur erhebliche Probleme eben bei der Suche eines neuen ideelen Stammes zu haben. Einstmals die urgeorgischen Wurzeln mit der Weltkultur vereinigender Stamm, eine Art Weltachse oder Übermittlungskanal - die russische Kultur - verliert zum Glück oder gar zum Unglück ihre eigentliche Vermittlerfunktion. Um von einer wertakzentuierten Beurteilung Abstand zu nehmen, darf man wahrscheinlich wohl behaupten, dass dieser ursprüngliche Übermittlungsweg von der jüngsten Generation aus verständlichen Gründen, wenn nicht mehr verabscheut (denn diese Periode in der neuesten Geschichte Georgiens ist erfreulicherweise bereits vorbei), so doch mit einer entfremdend-ablehnenden Haltung ignoriert wird. Die Wurzeln aber auch dieses Baumes haben unbedingt einen kräftigen und mächtigen Stamm nötig, der mit ihnen organisch und fest verwachsen ist. Andernfalls verdorren die Wurzeln oder noch schlimmer, es entsteht ein pathologisch-degeneriertes Gewächs als eine häßlich-eklektische Mischung von allerlei Kulturpflanzen. Und gerade darin besteht die größte drohende Gefahr für die Kultur eines kleinen Landes. So ist Georgien wieder einmal auf der Suche nach einer neuen Mitte, einem neuen Zentrum, einer neuen Pforte zur großen Welt, welche nicht mehr in Moskau zu suchen und zu finden ist.

In dieser Hinsicht bildet Georgien keinen Ausnahmefall, denn der Prozeß der Globalisierung setzt eben die qualvolle Suche des Platzes und der Stelle der eigenen Kultur im Rahmen der globalisierten Welt voraus. Diese ungewöhnliche Chance des räumlichen Wandels des zentralen Mittel- und Bezugspunktes bedingte nicht nur Erkundungen nach neuen Zentrierungs- und Orientierungsmöglichkeiten, sondern auch eineErfüllung des jahrhundertelang ersehnten Traumes von der Zulassungsperspektive in die europäische Gemeinschaft. Dieses sensationelle Erlebnis und Bewußtwerden der Legitimierung von der europäischen schicksalhaften Zusammengehörigkeitsaussicht nährt in diesem uralten christlichen Lande die Hoffnung endlich die höflich-freundliche Gleichgültigkeit der elegant verfeinerten Weltöffentlichkeit zu überwinden. Einer der Gründe dieser freundlichen Gleichgültigkeit der Weltöffentlichkeit könnte darin liegen, dass der zeitlichen Entfaltung dieses Landes, eines der ältesten Mitglieder der ostchristlichen Kirche, d.h. der Geschichte seine räumliche Entfaltung, d.h. die Geographie zum Verhängnis wurde. Gerade dieses Verhängnis prädestinierte eine eindeutig "ortsmonogame" georgische Existenzform. Damit ist aber eine absolute, totale Gebundenheit der Biographie an die eigene Landschaft gemeint, was mit den "ortspolygamen" Lebens- und Denkformen schwer zu vereinbaren ist.

Gerade deswegen ist in der globalen Ära der Übergang dieser Existenzform von der ersten Moderne auf die zweite Moderne erschwert und behindert, was seinerseits für die ganzen Lebens- und Denkformen den Phasenwechsel vom Stadium der Ortsmonogamie zum Stadium der Ortspolygamie bedeutet oder mit anderen Worten gesagt, es ist erheblich erschwert die Globalisierung der Biographie und ihre Vorbereitung auf das transnationale Zusammenleben, dessen Sinngehalt aber durch die universelle Formel der sozialen Nähe trotz geographischer Distanz oder sozialer Distanz, trotz geographischer Nähe zum Ausdruck gebracht werden kann. Wenn man die Gründe für reserviert joviale, liebenswürdig gleichgültige Haltung der westlichen Welt gegenüber dem durch häufige Amputationen ohne Betäubung gemartertes Georgien aus dieser Perspektive, aus diesem Blickwinkel betrachtet, so kann man hinter der gut polierten Oberfläche der unpersönlich neutralen Freundlichkeit und des gönnerhaften Wohlwollens das absolute, doppelte Pathos der Distanz durchschauen, welches aus der zweifachen Entfremdungsperspektive keinerlei Erlebnis weder sozialer noch geographischer Nähe kennt. Diese Tatsache gilt auch abgesehen davon, dass mit der Zeit immer intensivere Ausstattung dieses geographisch distanzierten Raumes mit derjenigen unentbehrlichen Dekoration geschieht, welche eine Illusion der Überwindung von der erwähnten sozialen Distanz schafft. Demzufolge ist dieser Raum angefangen mit McDonalds bis zu den Werbungen für Marlboro und Snickers oder Blue Jeans und Coca-Cola, d.h. durch den für die globale Kulturbühne unentbehrlichen Zubehör reichlich überladen. Trotz dieser Realität aber wird durch diesen Überfluß an internationalem Alltagsrequisit selbstverständlich die georgische Bevölkerung weder geographisch noch sozial jenem Teil der globalen Gesellschaft kaum näher gebracht, der nicht am eigenen Ort angekettet ist, sondern die ganze Erdkugel bewohnt. Diese Tatsache gewinnt einen besonderen Wert innerhalb der akademischen Sphäre, wo die Bedeutung und Funktion von Übersetzungsbiographien d.h. von Allgemeingültigkeit dieser Biographien ständige Notwendigkeit des Dolmetschens zwischen eigener und fremden Kulturen voraussetzt. Eben darin besteht die notwendige Vorbedingung für die Globalisierung der Biographie im allgemeinen Sinne und der akademischen Biographie im engeren Sinne aber erst recht. Gerade das ist die klare Zielsetzung und Zweckbestimmung der Reformierung des Bildungs- und Universitätssystems in Georgien.

Im Kontext dieser Entwicklungen und Tendenzen versucht Georgien innerhalb der auf neue Art und Weise stratifizierten und polarisierten Weltgesellschaft nicht nur durch das unentbehrliche Alltagsrequisit eine bestimmte Illusion der eigenen Zugehörigkeit zu den Globalisierungsprozessen zu schaffen, sondern man ist ernsthaft bestrebt durch die wahren Reformen auf dem Gebiet der Bildung und des Universitätswesens einen würdigen Platz innerhalb der aufkeimenden und sich formierenden neuartigen soziokulturellen Hierarchie von weltweiter Geltung einzunehmen.

Nur dank der produktiven Aneignung von wahren Werten, welche übernational sind, kann es einem kleinen Lande wie Georgien möglich sein, jener drohenden Gefahr zu entrinnen, die dem Lande und seiner Kultur den Verlust von eigener Einzigartigkeit bedeutet. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist die Lage von Georgien aus zweierlei Hinsicht erschwert. Dieses wichtigste Dolmetschervolk innerhalb des postsowjetischen Raumes hat seinen Bilingualismus noch nicht endgültig überwunden. Die meiste Information kommt aus dem Schattenreich jener Doppelsprachigkeit, wo das Russisch zur Amts- und Staatssprache bestimmt war. Diese Vergangenheit wird im Gedächtnis in erster Linie durch Fernsehwerbungen oder TV-Seifenopern wachgerufen. Das ist ein Musterbild, ein exemplarisches Beispiel des sprachlichen Vakuums. Haupteigentümlichkeit dieses Phänomens besteht darin, dass die sämtlichen englischsprachigen Texte, zunächst durch die russische Übersetzung vermittelt, erst viel später durch schlechte georgische Übersetzung die Öffentlichkeit erreichen. Gerade in diesem zerstörten Übersetzungs- und Kommunikationsakt besteht die Gefahr der Verwandlung der gesamten Kultur in ein erbärmliches Surrogat, welches das ganze Land zu einer dritt- oder viertrangigen Kopie macht, die dazu noch durch schlecht funktionierenden Kopierer ohne jegliche Qualität hergestellt wird. Demzufolge nicht der bescheidene Reiz der Globalisierung ist furchterregend, sondern deren surrogater Ersatz.

Und wahrscheinlich in dieser schwierigen schicksalswendenden Situation dürfte man von einer ganz besonderen unikalen Rolle unserer Universität für Sprachen und Kultur reden. Gerade an dieser Universität, wo inzwischen fast vergessenes Russisch neben Englisch, Deutsch, Französisch, Schwedisch, Holländisch und Polnisch dank der Unterstützung von verschiedenen internationalen Institutionen ziemlich erfolgreich unterrichtet wird, wird der Versuch unternommen, eigene Kultur, eigene Tradition im Dialog mit anderen Kulturen besser zu erkennen und zu erfassen. Denn nur im Dialog von Kulturen wird ein erhellendes Licht auf die eigene Kultur geworfen. Aber jeglicher Dialogvorgang setzt die Kenntnis einer gemeinsamen Sprache voraus. Als Vermittlerin der Sprachen von verschiedenen Kulturen versucht unsere Universität nicht nur alte Partnerschaften zu pflegen, sondern lädt neue Freunde und neue Partner zu einem weiteren anregenden Dialog ein.

© Nino Pirzchalava (Staatliche Ilia Tschawtschawadze Universität für Sprache und Kultur, Tbilissi)


ANMERKUNGEN

(1) Goethe, West-östlicher Divan, Werke in 6 Bd-n, Frankfurt am Main, 1977, S. 344

(2) G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte , Werke 12, Frankfurt am Main, 1995, S.132


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Nino Pirzchalava (Staatliche Ilia Tschawtschawadze Universität für Sprache und Kultur, Tbilissi): Reformierung des Universitätssystems oder Globalisierung der akademischen Biographie in Georgien. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005.
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