Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Dezember 2005 | |
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Marko Todorov (Universität Rousse, Bulgarien)
Wenn wir einen Blick zurück in die Vergangenheit werfen, können wir mit Nostalgie feststellen, dass es Zeiten gab, in denen "der alte Kontinent" führend in Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft und Kultur war. Doch vernichtende Kriege und Konflikte - besonders im vorigen Jahrhundert - zersetzten die Schöpfungskraft Europas. Aber das Potential Europas ist immer noch da und die beste und hoffnungsvolle Komponente dieses Potentials sind die Menschen, die heute gemeinsam, wenn auch mühevoll, das vereinte Haus Europa aufbauen. Dass die Zukunft Europas weitgehend von der Vereinigung des menschlichen Potentials auf dem "alten Kontinent" abhängig ist, sollte daher von allen erkannt werden.
Die Lissabon-Strategie hat das Ziel gesetzt, dass sich die Europäische Union als eine dynamische Wirtschaftsregion entwickeln und die Wirtschaft des Wissens Priorität haben soll. Das stellt neue Aufgaben für die Bildungspolitik der europäischen Länder, die in mehreren Beschlüssen der europäischen Bildungsminister zusammengefasst sind. Untersuchungen des Bildungsniveaus an den Mittelschulen haben gezeigt, dass die Kenntnisse der Schüler besonders im Bereich der Naturwissenschaften, ungenügend sind. Auch im Bereich der Hochschulbildung ist festzustellen, dass das Interesse für technische und naturwissenschaftliche Fachrichtungen nicht besonders groß ist, und es entsteht ein Mangel an hochqualifizierten jungen Menschen. Die Bedingungen für eine wissenschaftliche Karriere in Europa sind nicht sehr günstig, und viele junge Wissenschaftler suchen andere Berufsmöglichkeiten oder wandern aus, besonders in die USA. Der Brain Drain ist ein Problem sowohl für die hoch entwickelten Länder Europas als auch für die neu aufgenommenen. Bei den jüngeren Mitglieder der EU ist die Motivation zum Lernen immer noch etwas höher, und ein Teil der gut qualifizierten jungen Menschen sucht ihre Arbeit in den hoch entwickelten Ländern Europas. Der technologische Fortschritt verlangt aber immer mehr gut ausgebildete und für die Praxis vorbereitete Menschen, und besonders die Hochschulbildung muss den Weg von einer Bildung für eine Elite zu einer Massenbildung in schnellen Schritten durchschreiten. Diese Tatsachen verlangen eine Reform des Bildungswesens in allen EU-Ländern, um den so genannten Europäischen Bildungsraum zu gestalten.
In diesem Sinne ist auch der Beschluss der Bildungsminister in Bologna im Jahre 1999 zu verstehen. Er betrifft die Hochschulbildung und empfiehlt allen Staaten drei Bildungsstufen einzuführen: Bachelor, Magister und Doktor. Für die erste Stufe - Bachelor - sind nur drei Jahre empfohlen, und das setzt voraus, dass man von den Absolventen mehr praktisches Wissen und Fähigkeiten verlangt. Damit will man die Ausbildungszeiten verkürzen und gut qualifizierte Menschen schnell auf den Arbeitsmarkt bringen. Man schätzt, dass etwa ein Drittel der Bachelorabsolventen zum geeignetem Zeitpunkt ihr Studium fortsetzen werden, um den Magister- oder Doktorgrad mit dem Ziel zu erreichen, in Forschungseinrichtungen und hochtechnologischen Betrieben arbeiten zu können. So entsteht eine Bildungspyramide mit einer sehr breiten Grundfläche, welche einen großen Zugang zur Hochschulbildung erlaubt und nach oben - je nach den eigenen Leistungen der Studierenden - bilden sich die Abgänger vom Studium. Von den Absolventen werden heute nicht nur gute fachliche Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt - jeder muss zudem mindestens eine zusätzliche Sprache beherrschen und mit dem Computer vertraut sein.
Diese tief greifende Reform des Hochschulwesens findet nicht immer das Verständnis der akademischen Gemeinschaft und der Führungen der Universitäten. Besonders schwierig ist das für einige europäische Länder mit einer jahrhundertealten guten Tradition im Bildungswesen wie z.B. Frankreich und Deutschland. Dort verlaufen die Umstrukturierungsprozesse langsamer als in manchen kleinen Ländern oder Ländern des ehemaligen sozialistischen Lagers. Trotzdem ist aber das Verständnis da, dass sich die Zeiten heute sehr verändert haben, und was gestern gut war, kann heute bremsend wirken.
Aber nicht nur die Universitäten haben Probleme mit den neuen Bildungsstufen. Die Arbeitgeber und der Arbeitsmarkt in den meisten Ländern sind nicht vorbereitet, die einzelne Abgänge aus den Universitäten zu unterscheiden, und das wirkt sich auf das Interesse der Studenten und die Motivation der Universitäten aus, sich zu ändern.
Das Bildungssystem ist daher konservativ und die Änderungen brauchen ihre Zeit. Deshalb soll erst im Jahr 2010 der einheitliche europäische Bildungsraum entstehen. Das heißt bei weitem nicht, dass es überall in Europa abgestimmte Lehrgänge und einheitliche Lehrpläne geben wird. Im Gegenteil - die Vielfalt der Bildungsanstalten und Bildungstraditionen sollen grundsätzlich erhalten bleiben, aber es wird eine weitgehende Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den Universitäten erwartet. Aus diesem Grund wird die Mobilität der Studierenden und der Lehrkräfte durch eine Reihe von Europäischen Programmen gefordert und finanziell unterstützt. Erwähnt werden sollen hier das SOKRAT/ERASMUS Programm und das spezielle Programm CEEPUS, welches für Mittel- und Osteuropa eine große Bedeutung hat. Als Hilfsmittel für die Unterstützung der Mobilität wurde für alle Länder der EU das Europäische System für den Transfer von Bildungskrediten (ECTS) eingeführt. Damit kann man angeeignete Kenntnisse aus einer Universität in eine andere übertragen. Ein Hindernis für die Mobilität sind die ungenügende Kenntnisse von Fremdsprachen unter den Studierenden, und deshalb bieten in letzter Zeit viele Universitäten einzelne Lehrveranstaltungen in English an. Offensichtlich hat sich die englische Sprache als eine notwendige Bedingung für die internationale Kommunikation angeboten und in der Zukunft wird sie einen festen Platz in allen Unterrichtsplänen einnehmen.
Die hohen Anforderungen an die Hochschulbildung und die wachsende Anzahl von Studierenden und Universitäten bringt die Bildungsqualität auf die Tagesordnung. In vielen Ländern mehren sich heute Akkreditierungsanstalten, die eine Aufsicht über Fachrichtungen und Universitäten ausüben. Damit will man einerseits das Vertrauen in die verliehenen Diplome erhöhen, aber auch gleichzeitig gewisse Standards in den Bildungsprozess einführen.
Nicht nur die Bildung ist die Voraussetzung für den Fortschritt Europas. Die Erhaltung des wissenschaftlichen Potentials, die Finanzierung von wissenschaftlichen Projekten sind ein wesentlicher Teil der Maßnahmen für den Aufbau der Wirtschaft des Wissens. Untersuchungen zeigen, dass das mittlere Alter der Wissenschaftler beunruhigend gewachsen ist und dass junge Wissenschaftler in der Regel keine langfristige Aussicht auf eine wissenschaftliche Karriere haben. Die Bemühungen der EU zu einer wachsenden Finanzierung von Wissenschaftsprogrammen (jetzt läuft das Sechste Rahmenprogramm) ist zu begrüßen. Nur durch die Vereinigung des wissenschaftlichen Potentials und mit dem gemeinsamen finanziellen Beitrag aller Länder Europas kann die notwendige kritische Masse erreicht werden, um die Forschungsarbeiten auf das entsprechende Niveau zu bringen.
Zuletzt will ich nur darauf hinweisen, dass nicht nur die Hochschulbildung und die Universitäten einen Beitrag für die Wirtschaft des Wissens leisten müssen. Eine besonders wichtige Rolle werden auch die Berufsbildenden Schulen im Mittelschulbereich spielen, und man sollte sie als einen wichtigen Beststandteil des gesamten Bildungswesens betrachten.
Meine Damen und Herren, man kann nicht heute das gesamte Wissen erfassen. Man sollte nicht anstreben, dass die Studenten wie Leonardo da Vinci, der gleichzeitig Maler, Bildhauer, Architekt, Ingenieur und Wissenschaftler war, sein sollen. Das wichtigste ist heute, dass man die Kunst des Lernens beherrscht und dass man das ganze Leben lang lernen muss. Das verlangen die Zeiten in denen wir alle leben.
© Marko Todorov (Universität Rousse, Bulgarien)
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