Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Dezember 2005 | |
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Joseph S. Warioba (Präsident der Convocation der Universität Dar es Salam, Tansania)
Eine Universität - wie jede andere Erziehungseinrichtung in einer Gesellschaft - ist ein kulturelles Produkt der Gesellschaft, in der sie sich befindet und - man kann dies annehmen - ein kultureller Ausdruck dieser Gesellschaft. Wenn es zwischen der Gesellschaft und der Erziehungsinstitution keine Übereinstimmung gibt, dann ist etwas verkehrt. Denn eine Gesellschaft ist ein Kollektiv von Individuen, die bestimmte Lebensqualitäten gemeinsam haben, z.B. eine gemeinsame Grenze zu anderen Kollektiven, eine gemeinsame Sprache, die eine sinnvolle Kommunikation und einen Austausch unter ihnen ermöglicht. Wir nehmen also an, daß die Sozialisationsbeauftragten in einer Gesellschaft sowohl Erzeugnisse dieser Kultur sind als auch die Werkzeuge der Gesellschaft für kulturelle Transformation und Reproduktion, wenn die Gesellschaft auch weiterhin überleben und sich den vielen Veränderungen und Wandlungen, die unsere Welt kennzeichnen, anpassen will. Mein Vortrag beschäftigt sich mit der Frage der Relevanz und Lebendigkeit der Hochschulen im Dienst der Gesellschaft und Entwicklung. Die Diskussion dreht sich um die afrikanische Universität von heute, und meine Beispiele beziehen sich auf die Erfahrung in Ostafrika und Tansania.
Der historische Auftrag der Hochschulen umfaßt Forschung, Lehre (Unterricht auf einer höheren pädagogischen Ebene) und Beratung (also Dienst an der breiteren Öffentlichkeit). Forschung bedeutet eine empirisch verfeinerte, systematische und konsistente Suche nach Wissen in der materiellen Welt und ihren sich ständig verändernden Umständen und Phänomenen, deren Natur oft schwer verständlich ist und untersucht werden muß. Wegen ihrer bleibenden Bedeutung für die Wissensproduktion, das Lösen von Problem und die Anwendung des Wissens auf neue Situationen, müssen die Antworten auf solche schwer verständliche Probleme den Studenten in diesen Hochschulen zur Bildung ihrer Aufnahmefähigkeit und für ein bleibendes institutionelles Gedächtnis in der Gesellschaft beigebracht werden. Dienst an der Öffentlichkeit - entweder in der Form einer spezialisierten Konsultation eines Klienten oder in der Form von Rat und Meinung für eine staatliche Institution, eine Regierungsabteilung oder eine bürgerliche Organisation - ist das Ergebnis der Forschung oder Lehrerfahrung eines Einzelnen oder einer Institution, von der aus empfohlene Lösungen oder Handlungsweisen zum Vorteil der ganzen Gesellschaft verbreitet werden können.
Diese drei Funktionen - Forschung, Lehre und Dienst an der Öffentlichkeit - sind dann möglich, wenn das Individuum oder die Organisation die nötige Freiheit haben, ihnen nachzugehen. Daher die oft zitierte Wichtigkeit der akademischen Freiheit - der Freiheit die Wahrheit zu suchen, zu sprechen und zu schreiben [Forschung], die Freiheit die erforschte Wahrheit zu lehren und zu verbreiten [Lehre], und die Freiheit, die gute Praxis durch Meinungen und Konsultation zum Zwecke der Problemlösung und Innovation zu befördern [Dienst an der Öffentlichkeit]. Wenn das die kardinalen Funktionen sind, die die Aufgabe der Hochschulen ausmachen, dann haben diese ihrerseits gewisse sozio-kulturelle Verantwortlichkeiten.
Die Verantwortlichkeiten der Hochschulen - vor allem der Universitäten - können als in drei wesentliche Kategorien fallend gesehen werden - nämlich: (a) intellektuelle Leitung, (b) Sensitivität und Offenheit für gesellschaftliche Bedürfnisse und (c) institutionelle Selbstkritik und Selbstbefragung für Veränderung und Erneuerung. In jedem dieser kulturellen Bereiche haben die Universitäten eine deutliche Rolle zu spielen.
(A) Intellektuelle Hingabe und Universalismus
Eine zentrale Verantwortlichkeit der Hochschulen - vor allem der Universitäten - ist das "Schrittmachen" im intellektuellen Geschäft der Wissensproduktion. Aufgrund der Eigenart des Curriculums und der pädagogischen Methode ist die Universität ein "Schrittmacher" für die Gesellschaft und die Menschheit. Sie trägt mit sich ihr eigenes konventionelles Ideal und Bild, nicht nur als intellektuelle Fabrik für neue Ideen und Informationen, sondern auch als ein Instrument der Wahrheitssuche (veritas) und als ein wichtiger Multiplikator für die Verbreitung des Erforschten und des autoritativen Wissens für die Nachwelt. Das drückt sich in zwei der drei wesentlichen und miteinander verflochtenen Funktionen aus, die sich, wie schon gesagt, aus der Aufgabe der Universität ergeben, nämlich: Forschung (d.h. Wissensproduktion und -aufbau durch unablässige systematische und aufopfernde Feldforschung, dokumentarische Forschung und andere Formen der Suche nach Daten); und Lehre (d.h. die Artikulation, Vermittlung und Verbreitung oder Zirkulation des neu gefundenen Wissens als auch des Wissens, das im Augenblick dem Stand der Forschung entspricht).
In diesem Kontext kann und will Forschung und Lehre nicht auf die lokalen und unmittelbar sichtbaren Probleme beschränkt werden. Forscher sind im Dienst der Menschheit; und in einer solchen Position ist alles, was irgendwie für menschliche Entdeckung und Wissen für die Nachwelt wichtig oder relevant ist, relevant für Forschung und Lehre. Um in der Forschung und der Verbreitung des Wissens (Lehre) erfolgreich zu sein, muß den Hochschulen die nötige Freiheit der Rede zugestanden werden, eine Freiheit, die leider in vielen Staaten fehlt und nicht toleriert wird, vor allem in Ländern, die von einem Kriegszustand oder einem Bürgerkrieg betroffen sind. Im 17ten Jahrhundert bereits hat ein berühmter tschechischer Gelehrter und Lehrer, Johann Amos Komensky [Comenius] (1592-1670) die Menschheit angehalten, "allen Menschen alles zu lehren", natürlich mit Methode, Stil und Höflichkeit . Das war seine große Didaktik.
(B) Aufmerksamkeit für die Entwicklungsbedürfnisse der Gesellschaft
Universitäten haben eine sehr lange Geschichte, die bis ins Mittelalter zurückreicht, und sie haben im Laufe der Jahrhunderte Tradionen geerbt, die durch Zeit und Gewohnheit gestärkt wurden - Traditionen, die oft als ein sine qua non verstanden wurden , die man nicht mehr befragen darf. Unglücklicherweise sah sich die westliche hauptstädtische Universität, die im Jahre 1949 im Land gegründet wurde (Makerere University College) als eine Eliteinstitution, die von den Sorgen und Problemen der Entwicklung der Gesellschaft getrennt war (und sich auch um sie nicht kümmern brauchte). Sie war einfach da, um bewundert zu werden und ihre Gelehrten, um gefürchtet zu werden. In den sechziger Jahren waren die drei föderalen Colleges, die die University of East Africa bildeten, par excellence, bewundernswerte "verwestlichte Universitätsinstitutionen", die keinerlei eigene Traditionen hatten, die in dem einheimischen kulturellen Milieu der Ostafrikaner verwurzelt waren. Als solche distanzierten sich diese Institute als Elfenbeintürme, uninteressiert an den gewöhnlichen täglichen Problemen der Entwicklung der neuen Nation. Die Kritik, die mit dieser Beobachtung zusammenhängt, wurde von Männern wie Julius Nyerere (mit Bezug auf Ostafrika und Tansania in den Sechzigern), Yesufu (mit Bezug auf die afrikanische Universität im Allgemeinen in den Siebzigern), und Ivan Illich und James Coleman (mit Bezug auf die Universitäten in der Dritten Welt im allgemeinen in den Siebzigern und Achtzigern) lauter und schärfer artikuliert.
Als erster Präsident des gerade unabhängig gewordenen Tansania und als erster "Visitor" der University of East Africa, war Nyereres Kritik scharf und spitz:
Die Erziehung, die von der kolonialen Regierung zur Verfügung gestellt wurde ... hatte einen anderen Zweck zu erfüllen. Sie sollte die jungen Leute nicht auf den Dienst an ihrem eigenen Land vorbereiten, sondern sollte ihnen die Werte der kolonialen Gesellschaft vermitteln und sie für den Dienst am Kolonialstaat vorbereiten ... mit noch stärkerem Nachdruck auf unterwürfige Einstellungen und auf eine Erziehung zu Bürotätigkeiten. Unvermeidlicherweise war diese Erziehung natürlich auf den Voraussetzungen einer kolonialistischen und kapitalistischen Gesellschaft begründet. Sie betonte und förderte die individualistischen statt die kooperativen Instinkte der Menschheit. ... Sie verursachte Haltungen der menschlichen Ungleichheit, und beförderte die Herrschaft der Starken über die Schwachen, besonders in der Ökonomie."
Wie viele von unseren Studenten verbrachten ihre Ferien, indem sie eine Arbeit verrichteten, die das Leben der Leute verbessern würde, für die es aber kein Geld gab - wie zum Beispiel das Graben eines Bewässerungsgrabens oder eines Entwässerungsgrabens für ein Dorf, oder indem sie die Konstruktion von tiefen Toiletten demonstrierten und ihre Vorteile erklärten und so weiter? Nur wenige haben eine solche Arbeit in den Nationalen Jugendlagern oder durch nationale Aufbau-Projekte, die von ihrer Schule organisiert wurden, getan, aber das sind die Ausnahmen und nicht die Regel. Die große Mehrheit denkt nicht daran, wie ihr Wissen oder ihr Können mit den Bedürfnissen der Dorfgemeinschaft verbunden sind.
Diese Kritik verweist auf den dritten wichtigen und notwendigen Teil der Aufgabe der Universitäten, ihren Dienst an der Öffentlichkeit. Das bezieht sich darauf, das von den Intellektuellen angesammelte Wissen und die Weisheit der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, so dass die Gemeinschaft und Gesellschaft um die Institution herum und die Menschheit im allgemeinen es verwenden und benutzen kann. Über die Jahre hin hat sich diese Kritik positiv ausgewirkt, und eine wachsende Anzahl von Universitätslehrern sind willens, in verschiedenen öffentlichen Positionen zu dienen, auch im Regierungsdienst.
Aber das bedeutet nicht, daß alle sich dieser Verpflichtung gestellt haben. Ebensowenig kann man sagen, daß Regierungsabteilungen und Projekte sich immer um eine solche Expertise bemüht haben, vor allem um auf Forschung basierte, informiertere Entscheidungen zu fällen und Probleme schneller zu lösen. Es ist notwendig, daß Universitäten und Forscher einerseits und die Bevölkerung andererseits sich mehr aufeinander beziehen.
(C) Institutionelle Selbstbefragung, Selbstkritik, Innovation und Selbsterneuerung
Die dritte Kategorie der kulturellen Herausforderungen und Verantwortlichkeiten der Universitäten liegt im Bereich der institutionellen Selbstbefragung, Transformation und Erneuerung. Das bedeutet, daß eine Institution willig und bereit ist, die schwierige Aufgabe anzupacken, sich selbst kritisch zu untersuchen, um Veränderungen durchzuführen und auf entsprechende Herausforderungen in der Gesellschaft zu reagieren, und sich den Schwierigkeiten der Gegenwart zu stellen.
Für afrikanische Universitäten - besonders für die staatlichen Universitäten in Ostafrika - war die Zeit von 1980 bis in die frühen Neunziger Jahre sehr schwierig und turbulent. In der Zeit der ökonomischen Rezession in den späten Siebzigern und Achtzigern wurden die Subventionen der Regierung immer geringer, und das beeinträchtigte nicht nur die Instandhaltung der Gebäude und materiellen Einrichtungen, sondern auch die Lebensfähigkeit der akademischen Programme und die Arbeitsmoral des Personals. Die meisten afrikanischen Universitäten kamen völlig zum Stillstand, und in der Angst ums bloße Überleben wurde die wichtige Funktion der Wissensproduktion auf den zweiten Platz verwiesen.
Im Gefolge dieser bitteren Erfahrung in der Entwicklung der tertiären Erziehung ergab es sich, daß einige der innovativen Institutionen den Weg zu Lösungsfindungen fanden, die ‘gute Praxis’ konstituierten und von anderen Institutionen nachgeahmt wurden. Im Zusammenhang mit dieser Schrittmacher-Initiative müssen in der südöstlichen Region Afrikas wenigstens zwei Universitäten genannt werden - nämlich die Eduardo Mondlane University in Mozambique und die Makerere University in Uganda. Die Edwardo Mondlane University war die erste, die früh neueste Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen (ICT) in diese Region verlegte, während die Makerere University die frühesten Strategien entwickelte, die Anzahl der Studenten zu vergrößern, und damit eine siebenfache Zunahme der Studentenzahlen in nur zehn Jahren erreichte, von etwa 3500 Studenten im Jahre 1993/4 auf 26000 im Jahre 2003/4. Im allgemeinen kann man sagen, daß andere Universitäten in dieser Region dann diesem Vorbild gefolgt sind. Unter diesen Institutionen war auch die Universität von Dar es Salam. Die Universität von Dar es Salam hat dann ihrerseits diesen Prozeß in systematischer Weise in verschiedenen Bereichen weitergeführt und mit vergleichsweise gleicher Kraft und bemerkenswerten Erfolgen.
Sechs Bereiche sind symbolisch für einen Versuch einer zielgerichteten institutionellen Transformation und Innovation an der University of Dar es Salaam, und sollen untersucht werden. Das sind (1) Kosteneinsparungen und Einkommen generierendeUnternehmungen, (2) ein akademischer Audit (1998 und 2004), (3) Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) und deren Auswirkungen in Lehre und Lernprogrammen, (4) Erweiterung der Studentenzahl, (5) ein Versuch mehr Frauen als Studentinnen und Dozentinnen einzubeziehen und diesen Ausgleich zur normalen Praxis zu machen , und (6) eine universitätsweite Studie über das weitere Fortkommen der ehemaligen Studenten, für akademische Verbesserungen.
Zum Schluß muß gesagt werden, daß die Bereiche, die untersucht wurden, ohne Zweifel auf das Begehren der Institution verweisen, in der Suche nach Relevanz, Innovation und Erneuerung sich selbst zu untersuchen und zu befragen. Der Antrieb für diese Bemühungen der Universität von Dar es Salam (und was viele als ihren Erfolg ansehen) scheint eine Antwort auf die Bedrohung ihres Überlebens selbst gewesen zu sein: die schwierigen ökonomischen Umstände der achtziger Jahre. Aber diese Erfahrung war wichtig für den weiteren Erfolg der Universität jetzt und in Zukunft.
Andererseits hat eine Universität eine kulturelle Verantwortung - was die intellektuelle Führungsrolle betrifft -, und daher muß sich die Universität von Dar es Salam so wie die anderen Universitäten in Ostafrika und Afrika der Herausforderung stellen, daß die Anzahl der Leser und die intellektuelle Gelehrsamkeit unter einer wachsenden Anzahl von Studenten zurückgeht - auf grund von vier Problemen. Diese entstehen, (i) weil weniger Lesematerial, vor allem Lehrbücher, in ihren Bibliotheken und Buchhandlungen vorhanden sind; (ii) die Schwierigkeit und die Kosten der Beschaffung von Lehrbüchern, die vor allem in entwickelten Ländern produziert werden; (iii) selbst wenn Bücher vorhanden sind, lesen viele Studenten nicht, sondern verlassen sich sklavisch auf das, was der Lehrer in der Klasse sagt oder auf wiederverwertete Notizen und Essays von Mitstudenten. Unglücklicherweise wächst dieser Trend unter den jüngeren in der Schule und am College viel schneller im Vergleich zu den älteren und den Pensionierten. Wir müssen in unserer Gesellschaft und unter unseren jungen Schülern eine Lese- und Schreibkultur stimulieren. Dies ist ein dringender Grund zur Besorgnis in unseren Hochschulen in Ostafrika und anderswo; ebenso die abnehmenden Möglichkeiten für unsere Studenten Stipendien zu bekommen, um in interntionalen und interkulturellen Milieus zu reisen und zu leben, so daß sie sich weiteren Wissensquellen und dem Austausch von Ideen in Institutionen außerhalb ihres Heimatlandes aussetzen konnten. Wir erinnern uns an eine anhaltende Bitte des Internationalisten, die an anderer Stelle von Atle Hetland zitiert wird:
Erinnert Ihr Euch an Namen wie Athen, Konstantinopel und Toledo? In verschiedenen Jahrhunderten haben diese Zentren der Gelehrsamkeit Studenten von fern und nah angezogen. Zu anderen Zeiten und auf anderen Kontinenten gab es ähnliche Zentren, z.B. in Indien, Ägypten und Timbuktu - die kleine Stadt in der Wüste im heutigen Mali. Solche Zentren der Gelehrsamkeit [...], von internationaler Art mit einem überschreitenden Verständnis nationaler und kultureller Grenzen fehlen. Wir haben alle von den wandernden Scholaren gehört, Studenten und Forschern früherer Zeiten, die weit reisten, um die beste wissenschaftliche Umgebung zu finden, um mit berühmten Kollegen zu diskutieren und von ihnen zu lernen, und Stimulation und Reaktionen auf neue Ideen zu bekommen. Sie verließen ihre Heimat und ihre Familie, um anstrengende und lange Reisen zu unternehmen, um Weisheit und Wahrheit zu finden.
© Joseph S. Warioba (Präsident der Convocation der Universität Dar es Salam, Tansania)
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