Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 1.1. | Europäische Identitäten, Europäische Realitäten Sektionsleiter | Section Chair: Christoph Parry (University of Vaasa) |
Polarität und Sympathie zwischen Kulturmustern
oder wie Kontraste zu Spielarten werden
Teresa M.L.R. Cadete (Lissabon) [BIO]
Email: trcadete@mail.telepac.pt
Ausgehend von konkreten Begebenheiten des „Clash of Civilizations“ wird hier versucht, Verbindungsglieder zwischen Zeugnissen, Haltungen, Erscheinungen aus kontrastierenden Kulturmustern, die mit den Unterschieden zwischen shame-cultures und guilt-cultures direkt oder indirekt zusammenhängen, aufzuzeigen. Über ausgewählte Beispiele wird die historische Genese von „Clash“-Situationen durch Zurückgreifen auf das historische Gedächtnis (Beginn der Neuzeit) hinterfragt, auch als Versuch, einige Mechanismen der Gruppenidentitätsbildung, in der Spannung mit Ausdrücken von einer vermeintlichen Freiheit zu individuellen Optionen zu analysieren. Doch weder eine transdisziplinäre Annäherung (wie die hiesige), noch eine genetisch-systemische Perspektive werden „Lösungen“ für eine Problematik zu liefern vermögen, auf die nur die Diskursivität der Kunst, die Performativität der Interkommunikation und die Kenntnis der paradoxen und ironischen Aspekte jeder Realität und Epoche zufriedenstellende Antworten annähernd geben können.
Die Frage lässt einen nicht los: Warum heißt in der deutschen Übersetzung Huntingtons Titel „Clash of Civilizations“ „Kampf der Kulturen“ und nicht „Zusammenstoß der Zivilisationen“? Es scheint somit, dass hier auf die alte – aber vielleicht nicht gänzlich veraltete – Charakterisierung Thomas Manns von Kultur und Zivilisation mehr oder weniger bewusst zurückgegriffen wird.
Erinnern wir uns hier kurz an diesen hochproblematischen deutschen Begriffsstreit, auch mit Hilfe von deren Thematisierung durch Norbert Elias. Etwa zwei Jahrhunderte lang sagte das Bildungsbürgertum Kultur und meinte eine schöngeistige Stilisierung bzw. verklärte Kultivierung eines Lebensstils, die zur unpolitischen Apathie und Aphasie oder gar Verschlossenheit gegenüber Außenwelten und tagespolitischen Wirklichkeiten führen konnte und oft geführt hat. Aber die subversive Seite der Kultur, wenn wir Thomas Mann Glauben schenken sollten, kann gerade hier einen sprengenden Charakter haben, werden doch in seinem Aufsatz von 1914 („Gedanken im Kriege“) virulente Beispiele angeführt, die zeigen, wie in den Gebieten der Kunst, der Religion und mancher anderer traditionellen Gebräuche die Kodifikation von Materialien und die Durchführung von Praktiken alles andere als sanft (oder eben kultiviert) erscheinen oder auch sind.
Greifen wir aber zu einer zivilisatorischen Korrektur der barbarischen Dimension mancher kulturellen Erscheinung, was im Prinzip zu Formen von Besänftigung und Befriedung führen sollte und selten auf die Beihilfe von irgendwelchen Techniken angewiesen sein sollte – von Normen und Gesetzen bis zu härteren Artefakten wie Waffen, oder auch sanfteren bzw. immaterielleren wie vorgeschriebenen und eingeübten Manieren und Haltungsmustern – dann sind wir die kulturellen Probleme noch lange nicht los. Es lassen sich in unserer gegenwärtigen europäischen Arena von Kulturdifferenzen allzu leicht dafür Beispiele finden. Sie könnten mit der Frage beginnen: „Was würden wir denken und tun, wenn wir erfahren würden, dass, um ein erstes Beispiel zu nehmen, in der Wohnung nebenan gesetzwidrige Beschneidungspraktiken durchgeführt werden, die einer uralten Tradition in einem anderen Kontinent entsprechen mögen?“ Zugegeben, die Antwort wird hier überaus vereinfacht durch die Kraft des Gesetzes, des verfassungsmäßigen Rechts auf Menschenwürde; auch wenn es sich stattdessen um die Aufopferung eines Tiers aus religiösen Gründen handeln würde, konnte die Kraft des Gesetzarguments eine zufriedenstellende Antwort und Handlungsrichtlinien gestalten helfen. Für Beispiele, die unter der Kategorie der Gesetzwidrigkeit bei aller Macht jedweder Traditionen fallen, kann die Antwort nur naheliegen. Und lassen wir hier nebengleisige Argumentationen und Hypothesen beiseite, etwa die Verteidigung eines vermeintlichen Rechts auf kulturelle Autonomie oder gar Autarchie, um nicht zu sprechen von der oft gestandene Scheu, in fremde Welten einzugreifen, auch wenn sie sich freiwillig unter einen europäisch genormten Himmel begeben haben.
Versuchen wir es stattdessen mit einem anderen Beispielsbereich: Was würden wir denken und tun angesichts einer Situation von zwar nicht gesetzwidrigen jedoch freiheitshemmenden Handlungen, von Verboten jeglicher Art innerhalb einer Gruppe von streng kodierten Kultur- und Zivilisationsmustern, oder von gesundheitsschädigenden, religiös diktierten Geboten? Mit anderen Worten, angesichts solcher Fälle, wo wir ausschließlich auf unsere eigene Urteilskraft angewiesen sind, auf Entschlüsse, die kommunikativ und handlungsdiskursiv erarbeitet werden sollen, jedoch in ihrer Widersprüchlichkeit nur halbwegs zufriedenstellende Lösungen und Antworten zulassen können? Wenn wir ein Fazit aus allen multi- und transkulturellen Theoriebereichen ziehen, aus vielen Studien hinsichtlich einer fundierten Anerkennung der untilgbaren Differenzen zwischen Kulturen und Zivilisationen, können wir auf die bittere Frage stoßen, die sich Bazon Brock vor Jahren, allerdings eher als Forderung, gestellt hat: Müsste die Kultur „zivilisiert“, d.h. in irgendwelche musealen bzw. verklärenden Rahmen eingezwängt werden, damit nicht bloβ die gesetzliche Ordnung, sondern auch die interkulturelle Kommunikation allgemein nicht in Frage gestellt wird?
Wir alle wissen, wo Fremdheit bei uns beginnt: nicht so sehr angesichts eines in unseren Augen noch so „unlesbaren“ Anderen, sondern in der Befremdung bei der Wahrnehmung vieler unerfüllter Wunschvorstellungen unsererseits, die sich sodann in die Erfahrung von Widerständen und Widerfahrnissen in den Zwischenräumen niederschlagen. Das kann weder mit der Kategorie des bedrohlichen bzw. unheimlichen Fremden umschrieben noch in der Klassifikationskiste von Gewalt, Unterdrückung, Fanatismus oder Fundamentalismus untergebracht werden. Mittlerweile hat die kulturtheoretische Forschung auch den Engpass der opferbezogenen political correctness grundlegend relativiert und fragt stattdessen, wie eine kommunikative Balance etwa zwischen den Erfahrungen von Exteriorisierung und Interiorisierung, zwischen Furcht und Faszination vor dem Fremden, bei aller Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen erreicht werden könnte.
Wir haben nun gesehen, dass mit Gesetzpragmatismus nur solchen Situationen zu begegnen ist, die eindeutig unter einen explizit formulierten Legislationsparagraphen fallen können. Ich spreche hier natürlich vor allem von der europäischen Gegenwart und vornehmlich über die Probleme, die aus dem kulturellen Bereich der Einwanderer und dem Verhalten bzw. den Handlungen dieser Gruppe entstehen können. Aber nicht ausschließlich. Das Verständnis von anderen, von Fremden, beginnt sozusagen genealogisch. Mit anderen Worten: Zusammen mit der Wahrnehmung der Polarität zwischen unseren eigenen und fremden Kulturerscheinungen (auch und vor allem vor unserer Haustür) sollte die Übung der Anerkennung des eigenen phylogenetischen Gedächtnisses geschehen, d.h. der Anerkennung des Jägers und Sammlers, des Wilden, des Barbaren, des Bauern, des Stadtmenschen in uns. Aber unser ontogenetisches Verständnis ist auch tätig, und mit ihm die Würdigung und Kritik unserer biologischen Vernunft, und dies jenseits aller Diskussionen zwischen Geisteswissenschaftlern und Gehirnforschern, um gleich die Extreme zu benennen, und auch bei aller Kontingenz der Interpretationen. Was wir wiederholt tun, bewusst oder unbewusst, könnte als Synchronisierung von Erinnerungsmustern, als Verräumlichung von zeitlichen Prozessen, von denjenigen, die wir erfahren mit denjenigen, die wir überliefert bekommen, bezeichnet werden. Unser Geschichtssinn liefert, wie wir mittlerweile wissen, alles andere als lineare Lesarten.
Nehmen wir uns das Recht, zwischendurch allzu schwierige Problemstellungen zu benennen und damit mindestens vorläufig zu „parken“. Fragen und Situationen, die z. B. mit Mustern von Gruppenidentitenzu tun haben, tragen die offene oder potenzielle Gewalt gegenüber einem äußeren Feindbild mit sich, das zur Gestaltung und Befestigung derselben Identität konstitutiv beiträgt. Wir wissen, dass (mindestens auf dem Boden, wo wir uns befinden) ihnen in Extremfällen und kritischen Momenten nur mit dem gesetzlichen Diskurs und den entsprechenden Sanktionen in ihren Ausschreitungen zu begegnen ist. Aber damit nicht genug: es bleiben das Davor und das Danach, und die Momente der Erfahrung und der Auseinandersetzung, des Schocks und der Vertehensversuche, der Anerkennung des radikalen Andersseins und der Bereitschaft zur Gestaltung von Zwischenräumen, von dritten Plattformen zwischen sich polarisierenden Situationen, Mustern, Elementen. Damit sind also Formen der Unterdrückung, Gewalt und Miβverständnisse aller Art keineswegs aus der Welt geräumt, und schon gar nicht die vielen Momente der Wahrnehmung von tiefer Fremdheit, von „Entzug“, von „Versetzt- und Ausgesetztseins“(1) . Die Frage bleibt also im Raum: Ist es überhaupt möglich, aus Situationen radikaler Polarität Formen der Sympathie in den jeweiligen Zwischenräumen zu gestalten?
Die Antwort, das wissen wir schon, kann weder einem Muster noch einer Theorie entspringen, denn sie ist selbst situativ und kontingent. Jedoch kann sie als beispielhaft für die Möglichkeiten und Grenzen der Überwindung vieler Klüfte und Engpässe angesehen werden. Das zeigen uns einige Figuren unserer Kultur, nämlich, wie Kulturkontraste einschließlich Zusammenstöβen und Brüchen so eingebunden – wir könnten auch sagen: zivilisiert – werden können, dass sie wie Spielarten einer breiten Kulturpalette erscheinen und somit den Zwischenraum der polaren, fremden Elemente zu einem mosaikartigen Horizont werden lassen.
Fassen wir kurz zusammen, was Norbert Elias mit dem Übergang von Kontrasten zu Spielarten meinte, innerhalb dessen, was er den Prozess der Zivilisation genannt hat. Wie bekannt verlief dieser Prozess als Evolution von der mittelalterlichen Kriegergesellschaft hin zur neuzeitlichen höfischen Gesellschaft, sozusagen symbolisch vom Lanzenhieb zum stechenden Witz, vom Turnier zur Debatte, wobei der Austausch von Klischeebildern heute noch in unserem historischen Horizont nachklingt, z.B. was adeligen Mut bzw. Anmut gegenüber bürgerlicher Tölpelheit betrifft, oder aristokratische Dekadenz und Verschuldung gegenüber bürgerlicher Zivilcourage und auch Solvenz. (Natürlich bleibt das immer eine Perspektivfrage.) Doch die scheinbare Linearität täuscht, und der Autor selbst hat vor jeder linearen Lesart gewarnt. Wir wollen uns jedenfalls auch kurz daran erinnern, wie er in seinen Studien über die Deutschen (1989)nicht nur den irregulären Verlauf, sondern vor allem die Nichtabgeschlossenheit des Zivilisationsprozesses am Beispiel der nationalsozialistischen Erfahrung (als „Zusammenbruch der Zivilisation“) mehrmals betonte. Wir sind uns natürlich darüber einig, dass einmal zivilisiert nicht unbedingt für immer zivilisiert heiβen kann. Und auch, dass die Begriffe – Kultur und Zivilisation – sich an manchen Stellen überlappen, nicht nur aus einer anthropologischen Perspektive, sondern vor allem aus einem Verständnis der Hybridität oder gar Polyvalenz aller menschlichen Tätigkeit, alles menschlichen Produzierens, alles menschlichen Kodifizierens und Dekodifizierens, kurz: alles menschlichen Daseins heraus.
Im Zeitalter eines (angeblich postmodernen) Misstrauens gegen große Metanarrative haben manche Kulturfiguren Konjunkturchancen, die Brüche, aber auch und vor allem deren Überbrückungsmöglichkeiten in den Lesarten der Geschichte zu verkörpern. Mit anderen Worten, unsere gemeinsame Erinnerung besteht aus einer eigenartigen Durchkreuzung von Fremdheit und Vertrautheit, von Dichtung und Wahrheit, und sie ist voll von Zwischenräumen, wo sich materielle Ideen bewegen und alle Art von symbolischen und allegorischen Figuren die Chance einer Wiedererkennung wittern.
Was bedeutet aber dieser letzte Satz? Zuerst sollten wir den Ausdruck „materielle Idee“ beleuchten. Er stammt aus Schillers erster Medizindissertation, die er mit 20 Jahren verfasst hat und die Ergreifung der Materie durch eine Vorstellung bedeuten sollte. Was ist aber an diesem scheinbaren Oxymoron so verblüffend? Eben die anerkannte Präsenz von materiellen und prinzipiell nichtmateriellen, jedoch materialisierbaren Elementen in jeder kulturellen bzw. zivilisatorischen Konfiguration. Schiller hat hier – wie in seinem gesamten Werk – schon anthropologisch gedacht und den engen „Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ – wie es in seiner dritten medizinischen Dissertation heißt – in seiner vollen Ambivalenz erkannt. Aber diese Betrachtung findet ein Echo in der modernen phänomenologischen Problematisierung des Sichtbaren und Unsichtbaren, in der Feststellung, dass eine Idee „nicht das Gegenteil des Sinnlichen ist, sondern sein Futter oder seine Tiefe“(2) In diesem Konstitutionsgeschehen kann Sympathie nicht so sehr als spontane Haltung gelten, sondern vielmehr prozesshaft als eine Mischung von Einsicht und Neugierde, von Widerstand aber auch Lernbereitschaft und Selbstbefragung, gleichsam als Überwindung der Polaritäten von Freiheit und Notwendigkeit, vom Fremden und Eigenen, die sich uns nunmehr als Konstrukte entpuppen.Kultur – aber auch Zivilisation, beide jetzt anthropologisch perspektiviert – sind Teil eines nicht endenden Prozesses von Aneignung und Verfremdung, von wiederholt materialisierter Gestaltungskraft. Nehmen wir einige Beispielfiguren dafür aus unserer gemeinsamen Geschichte, wie das osmotische Paar Herr und Knecht, oder die Tragik des Verbrechers aus verlorener Ehre, oder das moderne Dilemma der utopischen Glückssuche und ihrer Relativierung durch die naturrechtliche Betonung der Menschenwürde.
Die Ordnung der (hier nur angeschnittenen) Themenbereiche ist nicht willkürlich, sondern zeigt einige prozessuale Tendenzen in chronologischer Ordnung. In diesem Sinne ist die historische Dimension jeder dieser drei Kulturfiguren bzw. Kulturkonstrukte unverkennbar, und alle bewegen sich in einer schwierigen Balance zwischen Offenbarung und Geheimhaltung, Freiheitsidee und Konditionierung, Verfremdung und Aneignung. Wir sehen hiermit, wie die obengenannten (konstruierten) Kontraste von Freiheit und Notwendigkeit, von Fremdem und Eigenem sich zugunsten von differenzierten Spielarten aufzufächern beginnen. Alle diese Figuren haben daher eine explizite interkulturelle Dimension.
Nicht nur seit Hegel, sondern spätestens seit Cervantes oder Defoe, Diderot oder Mozart (bzw. Da Ponte) wissen wir, wie organisch, wenn nicht gar symbiotisch oder osmotisch, sich das Verhältnis zwischen Herr und Knecht gestaltet. Diese relativ autopoietische Einheit aus Befehl- und Ausführungsinstanzen, die potenziell oder offen ironische Dekonstruktion von tradierten Macht- und Herrschaftsstrukturen zugunsten der Gewandtheit eines fachlichen Könnens, das neue Formen der Macht ermöglicht, darf allerdings nicht durch allzu große Distanz gebrochen werden. Mit anderen Worten: Soviel Ironie, soviel Modernität muss sein, damit der Knecht sich dem Herrn als freier Mensch mit eigenständiger Meinung nähern kann – er darf also weder Sklave noch Leibeigener sein. Die (unverkennbare) Vertikalität der Kommunikation muss daher nicht die Möglichkeit der Annäherung beider Muster, der Infragestellung von Machtstrukturen erlauben können. In dieser Hinsicht sehen wir, wie das weltbezogene Geschick eines Sancho Panza, eines Freitag, eines Jacques le Fataliste, eines Leporello die herrschaftsbedingte Bewegungsgebundenheit leicht überspringen und übertreffen kann. Was wäre aus Don Quijote, aus Robinson Crusoe, aus dem Maître, aus Don Giovanni geworden ohne ihre instrumentalen Hilfeleister, aber auch welterfahrene Faktoten und letzten Endes Mitbestimmer – oder gar Hauptgestalter – des Laufs der Geschehnisse? Die von Hegel in seiner Phänomenologie erarbeitete gegenseitige Abhängigkeit beider Figuren ist letzten Endes nichts anderes als die funktionale und performative Kooperation innerhalb einer hierarchischen Gemeinschaft, die durch die Kraft der Verhältnisse die kodifizierten gesellschaflichen Distanzen zugunsten kommunikativer Effizienz aufgrund weltorientierter Erfahrungsgrundlagen stark relativiert und somit die Kontraste zu Spielarten werden läβt.
Die zweite Figur – Verbrecher aus verlorener Ehre – zeigt mit zunehmender Deutlichkeit die fließenden Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Schichten, die die vorher genannten Positionierungen von Herrn und Knecht noch aufrechtzuerhalten schienen. Fassen wir jedoch diese Figur nicht nur als Endprodukt eines verhängnisvollen Prozesses (worauf die Partizipialkonstruktion hinzudeutet), sondern auch als drohende Möglichkeit innerhalb eines fernen oder naherückenden Horizonts (etwa wie „Verbrecher, der aus der Ehre heraus-, oder besser herunterzufallen droht“), dann offenbart diese Auffächerung der Zeitdimension schon die ganze tragische Spannung, die nicht nur die antiken und modernen Dramen, sondern auch die Kriminalromane (die sozusagen die konsequenteste Form von fiktiver Erzählung sind, was Instrumentalisierung der Handlung betrifft) und manche life stories durchzieht. Die bekannte Flucht nach vorne von Individuen, die einer Kultur des Dekorum verpflichtet sind, ist somit kein exklusives Produkt des Ancien Régime oder von Ehren- und Schandekulturen (shame-cultures). Sie durchzieht alle gesellschaftliche Schichten und Ordnungen, alle Räume und Zeiten, und wird allerdings besonders brisant in Übergangsepochen und besonders in den sog. offenen Gesellschaften, die Illusionen eines raschen Aufstiegs mehrfach verbreiten. In solchen Epochen kann die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen besonders akut werden, und wir erleben Spielarten dieser Figur sowohl auf individueller als auch kollektiver bis zur planetarischen Ebene. Auf einem Hintergrund von allerlei tragischen Figuren, von Macbeth bis Wallenstein oder auch Schillers Sonnenwirt, der dieser Figur des Verbrechers aus verlorener Ehre nicht nur fiktives Leben schenkt, können wir das Drama des individuellen Autonomiebestrebens in Kollision mit gesellschaftlichen Prestigemustern erleben, die dieses Bestreben teils fördern, teils hemmen. Zugespitzt könnten wir sagen, dass dieses Paradigma für eine Gratwanderung zwischen kollektiver shame und individueller guilt steht, wobei eine Aufhebung des gefühlten inneren Drucks, zur Rettung der eigenen Ehre zu betrügen oder gar zu morden, einer gelungenen Internalisierung des Selbstverantwortungssinnes und somit des guilt-Paradigmas entsprechen könnte. Wir aber wissen, dass die paradigmatische westliche Kultur (die wiederum eine Abstraktion ist) trotz Ablehnung verbrecherischer Taten seitens der Mitglieder ausgesprochener shame-cultures – wie etwa Ehrenmordedurch Brüder an weiblichen Familienmitgliedern, die das Ehrenkodex vermeintlich verletzt haben – nicht ganz auf Prestigemuster verzichten kann.
Die dritte Figur – die ich hier mit felicitas aut dignitas umschreiben möchte – ist viel zu komplex, um hier ausreichend problematisiert werden zu können. Beide Bestrebungen, utopisch-modellhaft konzipiertes Glück und naturrechtliche Forderung der Berücksichtigung menschlicher Würde, sind Produkte neuzeitlichen Denkens und zeugen von der Spannung zwischen individuellem Streben und dem Entwurf kollektiver Modelle, die jedoch jenes Streben nicht mehr ignorieren können und es daher aufzuheben versuchen. In diesem konfliktreichen Prozess der Neustrukturierung vor allem von Repräsentationen von Individuum und Gesellschaft, entsteht oft eine Zunahme von (individualistischer) Kontingenz und Willkür, aber auch eine Forderung nach autoritativen Lösungen, sozusagen als Kompensation für dieselbe Kontingenz. Beide Tendenzen zeugen von der mehrfachen Natur des modernen Menschen, als Bürger und Bourgeois, als private und öffentliche Person und daher als Rechtssubjekt und -objekt, als bedürftiges, aber auch potenziell moralisches Wesen, als eine Summe von Instanzen, die Konstitutionsbedingungen von widersprüchlichen Kulturwelten sind. Wir wollen hier die allzu bekannten Spannungen zwischen Ökonomie und Politik, zwischen allgemeinem Interesse und privaten Anliegen nicht wieder aufgreifen – es sei kurz daran erinnert, dass diese Spannungen die einzelnen Individuen durchziehen. Trotzdem wollen die Menschen, vor allem in einer Vorstellung von transkultureller, dialogfähiger Gesellschaft, sich als Individuen begegnen können, ohne ihre Kontingenz und Differenz zu verklären oder gar zu eskamotieren.
Die gegenwärtige Forderung nach gegenseitiger Wertschätzung bei schwer überbrückbaren Differenzen müsste also den Weg gegenseitiger Herausforderung als Gestaltungsarbeit aussehen, die darauf hinauslaufen sollte, die Zwischenräume der Missverständnisse und des Schweigens, der Klischeebildung und Herstellung von Feindbildern, im Rahmen der konkreten Berücksichtigung der Differenzen und deren Beitrag zur Konstituierung gemeinsamen Plattformen zu nutzen. Welchem der beiden Momente bzw. Grundvorstellungen, Utopie oder Menschenrechtsdenken, Glück oder Würde, das Vorrecht eingeräumt werden sollte, sollte keiner besonderen Fragestellung bedürfen. Schreiten wir jedoch nicht damit, gleichsam durch die Hintertür, wieder ins Gebiet der Utopie?
Anmerkungen:
1.1. Europäische Identitäten, Europäische Realitäten
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-20