Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 1.1. | Europäische Identitäten, Europäische Realitäten Sektionsleiter | Section Chair: Christoph Parry (University of Vaasa) |
Das verstohlene Bekenntnis zu Europa –
Amerika und sein offenes Geheimnis
Peter Pabisch (The University of New Mexico in Albuquerque, USA)
Email: pabisch@unm.edu
Was heiβt hier ‘verstohlen’ und ‘offen’ in einem Atemzug? Einerseits scheint sich die amerikanische Bevölkerung nicht zu Europa oder einem anderen Land auβer dem seinen zu bekennen. Bei jeder Schuleröffnung am Morgen legen die Schüler und ihre Lehrer die Hand aufs Herz und singen die amerikanische Hymne “O, say can you see by the dawn’s early light…”. Kaum eine öffentliche Veranstaltung geht vorbei, wo nicht die Versammelten ihr Amerikabekenntnis in gleicher Weise ablegen. Dann jedoch wird gefragt, ob sie sich auch zu einem Land ihrer eingewanderten Voreltern bekennen – und da vernimmt man meist erstaunt, wie sehr sie noch mit dem einen oder anderen Land verbunden sind. Dass es sich dabei meistens um europäische Länder handelt, die genannt werden, verrät in jüngster Erkenntnis die amerikanische Volkszählung aus dem Jahre 2000, die erst 2004 durch die Presse publik(1) gemacht wurde. Die umfangreichen und in verschiedene Fachrichtungen ausgewerteten Statistiken daraus ergeben etwa, dass sich 75% aller US-Bürger zu ihren europäischen Wurzeln bekennen.Betrachtet man demgegenüber die populäre Presse- und Medienbehandlung der Demographie Amerikas, so dringen seit Jahren die Minderheiten eher wie gewaltige Mehrheiten in den Vordergrund. Das entpuppt sich als Mediendiktat.
Die höchste Zahl des Bevölkerungsanteils nach Herkunftsregionen und -ländern stellen in der Statistik die Deutschen mit 15% oder ca. 45 Millionen amerikanischer Bürger bei allerdings fallender Tendenz gegenüber der Volkszählung von 1990 vor, wo ihr Prozentsatz noch bei 27 % lag. Ob es sich dabei um Deutsche oder schlicht um Deutschstämmige handelt, was auch Österreicher, Deutschschweizer oder Sudeten- und Rumäniendeutsche einschlösse, geht aus diesen Zahlen nicht hervor. Es ist überhaupt fraglich, was einen Volksgezählten bewog, seine Einwanderungsidentität preiszugeben, und wie sehr diese Gezählten dabei wunschgemäß und nicht faktisch antworteten. Während nämlich den Deutschen seit dem Ersten und verständlicherweise auch seit dem Zweiten Weltkrieg eine unterschwellige Gegnerschaft seitens der amerikanischen Wertschätzung nachhängt, genieβen die Iren eine derartige Popularität, dass sie als zweitstärkste Minderheit mit beinahe 10% rangieren, was um die 30 Millionen aller Amerikaner ausmachen würde, weitaus höher als es Iren gibt oder in Irland je gegeben hat. Man muss sich hier fragen, ob nicht so mancher Amerikaner aus Sympathie, ja aus Jux seinen Ursprung als irisch angab. Dennoch dürfte die Hochrechnung der Gesamtliste weitaus stimmen, weil auch frühere (Volks)-Zählungen vergleichbare Resultate zeitigten. Bei den Deutschen ist noch zu erwähnen, dass ihre Zahl vor dem Ersten Weltkrieg so hoch war, dass New York die drittgröβte deutschsprachige Stadtbevölkerung der Welt nach Berlin und Wien aufwies(2). In Staaten um Chicago – wie Iowa, North Dakota, South Dakota, Wisconsin, ja auch in Illinois und Indiana – war ihr prozentueller Anteil in der Bevölkerung so hoch, dass mehr Deutsch als Englisch auch im offiziellen Amtsbereich verwendet wurde. Die aus Großbritannien, vor allem aus England stammenden Amerikaner sahen in solchen Staaten ihre Dominanz bedroht. Als Folge des Ersten Weltkriegs und der Feindschaft Deutschlands gegen die USA, wollte man dem Deutschen und damit seinen Sprechern kategorisch den Garaus machen. Deutschamerikaner durften in mehreren Staaten Anfang der 1920er Jahre bei Strafe nicht mehr ihre Sprache in Gesellschaft auβer Hauses verwenden und wurden politisch verfolgt.(3) Das war insofern unfair, weil viele der Amerikadeutschen gegen den Kaiser optierten und sich klar und deutlich zu ihrem neuen Land bekannten. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Deutsch, das an den amerikanischen Hochschulen bis in die dreiβiger Jahre in die Defensive geraten war, plötzlich von den aus ihrer Heimat zwangsweise emigrierten, zu Juden abgestempelten Deutschen und Österreichern wieder belebt wurde und eine Renaissance erfuhr. Viele dieser Exilanten lehnten es u. a. ab, als Juden bezeichnet zu werden, da sie den Zionismus für ihre Volkszugehörigkeit nicht beanspruchen wollten. Sie vertraten tatsächlich die deutschsprachige(n) Kultur(en) und brachten die Bedeutung Goethes, Schillers oder der deutschen Aufklärung – mit ihrer von Immanuel Kant geförderten Friedensbewegung und dessen Bekenntnis zur republikanischen, sprich demokratischen Staatsform als Friedensgarantie wieder ins Bewusstsein ihrer Studenten. Ganz wichtig war etwa ihr akademischer Beitrag zur historischen Bewusstmachung der Leistung Wiens um 1900 auf fast allen Gebieten der Kultur. Daraus erkennt man, zumindest darf man es vermuten, dass das sogenannte Amerikanertum nach dem exklusiven Slogan “I’m ‘merican!” ein differenziertes, nicht leicht durchschaubares und sicherlich äußerst klischeehaftes Nationalbekenntnis vorstellt. Daher leitet sich aus der Überschrift dieses Beitrags ab, dass nicht nur die Deutschstämmigen, sondern viele zuerst oft nicht englisch sprechende Einwanderer zuweilen ihren Ursprung nach auβenhin verleugnen oder nur zaghaft, also mit Vorsicht vermelden. Meist reden sie quasi um den Brei, wenn es darum geht, ihre Wurzeln zu offenbaren. Die Geschichte des Landes zeigt, dass die Zeitphasen der Verfolgung anderer Minderheiten in den USA – man denke an die harte Verfolgung amerikanischer Staatsbürger japanischer Abstammung im Zweiten Weltkrieg – ebenso sporadisch, wie kurzlebig sein können. Sie wurden oft in der Folge mit groβen Reueanstrengungen von Regierung und Bevölkerung widerrufen oder, dem amerikanischen Gemüt der Fairness entsprechend, in menschlich verständliche und annehmbare Auffassungen revidiert. So erinnert man sich an Präsident Reagan, der auf die alleinige Duldung von Englisch pochte, aber – nach vielen Protesten der Liberalen – es dann doch den einzelnen Bundesstaaten überlassen sollte, andere Sprachen offiziell zu dulden. Das bedeutet etwa für ein Gebiet in Louisiana, dass Französisch Zweitsprache sein darf, oder im Bundesstaate Neumexiko, dass nicht nur Spanisch als offizielle Zweitsprache gilt, sondern dass auch Indianerstämme und –pueblos zum Teil in ihren Stammessprachen an den Schulen lehren lassen und ihre politischen Geschäfte darin durchziehen dürfen. Man nennt dieses Phänomen bekanntlich “bilingualism” und trennt es vom engeren Fremdsprachenunterricht. Deutsch hat allerdings nirgendwo diese Begünstigung gefunden; die deutsche Kultur wird allerdings in anderer Weise nicht selten intensiv gepflegt, was unter anderem viele deutsch-amerikanischen Clubs bestätigen.(4)
Die weiteren Ergebnisse der oben genannten Volkszählung des Jahres 2000 decken sehr viele Schichten teilweise oder gänzlich verdrängter ethnischer Haltungen auf, die in entsprechender Weise das Verhältnis zu den Ursprungskulturen durchblicken lassen. Diese Volkszählung erfragte, zu welcher eingewanderten Volksgruppe man sich rechne. Dabei sollte man wenigstens drei Abstammungskulturen in absteigender Reihenfolge des Bezuges angeben. Das heiβt demnach, dass keine Kultur einzig und allein aufgelistet wurde, sondern nur neben anderen Kulturen zu denken war. In der vorliegenden Studie liegt aus Übersichtsgründen das Augenmerk auf der Auflistung der erstgesetzten Abstammungskultur. Hier folgen unter den Europäern, der weitaus stärksten Mehrheit in ihrer Gesamtheit, die Engländer erst auf Rang 3 mit etwa 7% nach den Deutschen und Iren. Die Engländer vetreten als die eigentlichen Anglosachsen aber jenen Kulturbereich, an den sich die nordamerikanische Geschichtsschreibung vorrangig orientiert, mehr noch – der in den offiziellen Geschichtsbüchern aus ideologischen, wie aus machtbezogenen Grundauffassungen vorherrscht. Alle übrigen Immigrantenländer liegen eher weit unter den drei führenden europäischen Nationen, zwischen die sich noch die Afroamerikaner mit knapp 9% schieben. Die Volkszählung des Jahres 2000 unterscheidet zwischen reinblütigen Spaniern und Mestizen. Es gibt jedoch nur mehr etwa 300.000, meist in New Mexico lebende, im 17. Jh. aus dem spanischen Europa eingewanderte Kolonisten, d. s. 0,1% aller Amerikaner in den Vereinigten Staaten. Sie rechnen sich zur "alma de la raza," zur Seele ihrer Rasse. Ihnen stehen 6,5% oder 20 Millionen aller Amerikaner als (meist noch Spanisch sprechende) Mestizen gegenüber, die zu Europa wenig oder keinen Bezug empfinden. Statistisch werden aber beide Gruppen in den U. S. A. unter "Hispanics" aufgelistet. Sie stellen hingegen bewusst Lateinamerika vor, das allerdings ohne Europa auch kaum zu denken ist, obwohl es in der historischen Tradition den Kräften des habsburgisch-katholischen Raumes, also den ehemaligen Gegnern der Anglosachsen angehört. Durch ihre starke legale und illegale Einwanderung der letzten Jahrzehnte sind diese Hispanier in den Vereinigten Staaten gewaltig im Anwachsen begriffen. Ihre Zahl mag sich von etwa 20 Millionen allein seit dem Jahre 2000 bis zu 25% in kaum einem Jahrzehnt vermehrt haben. Spanisch sprechende Mestizen, die nach ihrem Wohngebiet “Nuevomexicanos, Californios oder Tejanos” oder als die von Mexiko eingewanderten “Chicanos” heiβen, haben zudem vielerorts in den USA durchgesetzt, dass Spanisch zur offiziellen Zweitsprache erhoben wird oder werden soll. Dieser noch lange nicht abgeschlossene Umdenkungsprozess könnte laut Vorhersage bedeuten, dass um das Jahr 2050 um die 120 Millionen Lateinamerikaner in den USA leben werden.
Das mag letzten Endes o. k. sein; wenn anderes zuweilen eher das “k. o.” erfuhr, wie vor allem die deutsche Sprache. Mein weiß, dass k. o. von “knock out” kommt, eine nicht nur dem Boxsport entstammende, sondern seit dem amerikanischen Filmschauspieler John Wayne gelegentlich praktizierte Erziehungsmethode an widerspenstigen Familienmitgliedern und Zeitgenossen. Sie ist allerdings durch ihr gegenüber harte Rechtsanwälte – samt deren Gebühren – so rasch wieder verschwunden, wie sie einst in Filmen aufgetaucht war. Woher kommt aber “o. k.”? Diese heute in vielen Sprachen der Welt angenommene Fügung belegt einmal mehr, wie sehr sich Europa und Amerika überschneiden und in einem die modernen Kommunikations- und Transportmittel ausnützenden Geschehen über den seit dem Flugverkehr zum “River” gewordenen Atlantik – “the Atlantic River” – sehr nahe stehen , wenn doch nicht fraglos gleich kommen.
Zuerst zum o. k! Die Fachliteratur(5) verweist auf die erste starke Einwanderung aus Europa von 1850 bis in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, so dass viele Ausländer lange Zeit die Arbeitswelt bestimmten. Als Henry Ford sein Model-T Auto auf dem Flieβband herstellen lieβ, musste der letzte Mann in der Reihe ein verlässlicher Automechaniker sein, dessen “o. k.” zur Kennzeichnung des vollendeten Produkts gewisse absolute Gütemarke besaβ. Zuerst setzte er seinen vollen Namen unter das begleitende Ausfolgedokument. Bald beschaffte er sich einen Stempel, der das Akronym “O. K.” seines deutschen Namens “Oskar Kause” aufdruckte, so stark, dass der Begriff zur “sine qua non” des erfolgreichen Abschlusses jeder Art von akzeptabler Leistung geworden ist.(6)
Dass dieser Tatbestand nicht in den allgemeinen Geschichtsbüchern der Pflichtschulen Amerikas aufscheint, geht auf die antideutsche Zeit zurück, so dass sich in vielen Ländern – wie in den USA – eine Geschichtsschreibung entgegen den Intentionen des schon im 19. Jh. Objektivität fordernden deutschen Historikers Leopold Ranke etabliert hat, die eher vom politischen Wollen, als von sachlichen Aspekten geprägt wird. So bleibt die Bedeutung von “o. k.” verstohlen, ja volles Geheimnis (das sich allerdings hier als gelüftet erweist), wie viele andere historische Phänomene, die den transatlantischen Raum eigentlich in einen eher einheitlichen Kulturrahmen fügen. Die Mehrheit der Amerikaner ist Europa so sehr zugetan, dass von einer eigenen Kultur im total unabhängigen Sinne niemals die Rede sein kann, obwohl einige Menschen in der Führung hüben und drüben des u. a. als großer Teich klassifizierten Ozeans sich diesen Alleingang wünschen würden. Europa ist ebenso sehr von Amerika – das schlieβt, wie gesagt, Lateinamerika ein – und den reziproken Ideen seiner Einwanderer vom transatlantischen Uferbereich durchdrungen wie auch die Amerikas von ihren zisatlantischen Wurzeln. Dieser gesamte atlantische Bereich bleibt zwar im Detail vielschichtig, föderativ, vom Kantönligeist durchwirkt – vergleichbar mit der viel kleineren Schweiz und ihren 26 Kantonen und Halbkantonen – steht aber auf einem gemeinsamen historischen Fundament, dem zugegeben – entgegen der nach innen disparaten, nach außen aber einheitlich wirkenden helvetischen Konföderation – ein weiβes Kreuz auf rotem Untergrund, demnach eine gemeinsame Fahne fehlt . Die kulturellen, erziehlichen, psychologischen, politischen, militärischen oder ökonomischen Gemeinsamkeiten bieten sich dabei in derartiger Annäherung dar, dass es eher aufhorchen lässt, wenn sie geleugnet werden. Das gilt besonders seit Ende des Zweiten Weltkriegs, als der atlantische Raum, der auch mit Abstrichen Afrika und mit überproportionalem Zutun den Mittelmeerraum, besonders den Nahen Osten einschlieβt, in friedlichem Sinne durch mehrere Bündnisse und Verträge in Erinnerung des gemeinsamen Hintergrunds zusammenrückte und zusammen geblieben ist.
Zuerst muss man sich der Beschlüsse nach 1945 erinnern, als der Marshall-Plan im Gewahrsein des Kulturerbes dazu beitrug, Europa im Sinne der Vereinigten Staaten einem politischen Gebilde anzupassen, das 2007 in der Europäischen Union einen fünfzigjährigen Ausdruck seines Anfangs fand, der nicht immer recht, aber auch nicht durchaus schlecht vorangleitet. Vor allem hatte man schon 1948 einen groβen transatlantischen Marktbereich im Auge, dessen zwei groβe Währungen auf einer eins-zu-eins Wertebasis stehen sollten, was die gegenwärtige Finanzpolitik der USA geradezu torpediert. Eine freie Gesellschaft sollte im Wohlstand dessen die buchstäblich gemeinten Früchte auf beiden Ufern genieβen. Das Militärbündnis der NATO ist ein weiteres Ergebnis dieser Bestrebungen. Am meisten jedoch überzeugt der kulturelle und erziehliche Bereich, den die Bürger guten Willens auf vollen Touren laufen lassen, wozu der ständig sich erweiternde und verdichtende Flugverkehr, gar nicht zu reden von Verständigungsgeräten wie Computer, “web-mail” und Internet, ihren wesentlichen und zukunftsträchtigen Anteil liefern; dazu kommt noch ein nicht zu unterschätzender Tourismus mit Schiff, Bahn und Auto.
Inwieweit Afrika und der Nahe Osten in diesem Geschehen mitschwingen, bedingen, wie schon darauf hingewiesen, relative politische Umstände und leider auch Zwänge. Rechnet man jedoch den gesamten atlantischen Raum und seine amerikanische Einwanderungsdynamik in die Statistik der hier betrachteten Volkszählung, dann ergeben die 9% Menschen afrikanischer Herkunft mit den Europäern in den Vereinigten Staaten eine Gesamtziffer aller transatlantischen Verwurzelung von beinahe 85% der Bevölkerung. Nur sieben Prozent hatten in der Volkszählung 2000 darauf bestanden, bloβ “American” ohne internationale Verquickung und Herkunft genannt zu werden. Dazu darf man die kaum ein Prozent zählenden amerikanischen Ureinwohner rechnen – sie nennen sich heute “Native American”, was den Prozentsatz derer, die rein amerikanisch bleiben wollen, auf schmale acht Prozent hebt. Nur rund sieben Prozent oder etwa 21 (von 300) Millionen aller U. S.-Amerikaner weisen auf eine Abstammung um den Pazifik, den “Pacific Rim” hin, obwohl ihre Bedeutung spürbar diese eher minder erscheinenden Proportionen übersteigt. Der asiatische Raum spielt spätestens seit dem 7. Dezember 1941 eine schicksalhafte Rolle in den Vereinigten Staaten, wie überhaupt auf der ganzen Welt.
Bei Anwendung historisch exakter Forschungsmethoden eröffnet sich ohne Frage ein Bild, das der Beziehung Europa-Amerika seit dem Zeitalter der Entdeckungen das Hauptgewicht einräumen muss. Wie der österreichische Politologe und Wirtschaftsfachmann Thomas Nowotny(7) in seinem Anfang August 2007 in Taos Ski Valley, New Mexico, gehaltenen Vortrag zum Thema “Transatlantische Beziehungen Europas und Amerikas zueinander” aufmerksam machte, besteht das atlantische Brückengeschehen seit fünf Jahrhunderten: Die ersten vierhundert Jahre mit Schwergewicht des Einflusses von Europa nach Amerika – und seit einem guten Jahrhundert umgekehrt von Amerika auf den alten Kontinent. In den letzten 15 bis 20 Jahren, meinte Nowotny, also um die Zeit des Eintritts ins 21. Jh., habe sich das Verhältnis zudem aus integralen, über kurz nicht genugtuend zu analysierenden Gründen, im Groβen und Ganzen transatlantisch die Waage gehalten, so dass gleich viel gegeben wie genommen wird.
Davon seien hier immerhin die Hauptpunkte herausgeschält: der Amerikanismus in Europa wird durch wachsendes Interesse der Amerikaner, vor allem der studierenden Jugend und gebildeter Erwachsener, in ein das Gegenseitige verschmelzendes Amalgam gegossen. Es stellt sich in den USA seit etwa 1980/85 so dar, dass zum Beispiel der Geschmack für Kaffee, Wein, Bier oder Lebensmittel(8) dem in dieser Hinsicht anspruchsvollen Europäertum auf gleicher Ebene begegnet. Bei der Jugend auf beiden Ufern sieht das so aus, dass man die jungen Menschen rein äuβerlich in Kleidung und Benehmen kaum mehr unterscheiden kann. Sie verehren und kennen etwa die gleichen Rockbands (wie mich im November 2007 der Vortrag eines mexikanischen Studenten, der in den USA studiert, überzeugt hat), so sind “Rammstein” – und wie die Gruppen alle heiβen – hier wie dort der Jugend bekannt.(9)
Sieht man von den augenblicklichen Schwierigkeiten im Wirtschaftsbereich ab, sei hier abschließend der Kulturbereich an wenigen Beispielen erwähnt, der den Bezug ‘Amerika zu und besonders von Europa’ beleuchtet – Musik, Kunst und, wenn auch eingeengter – Literatur.
Vor wenigen Monaten (2007) erhielt der Dalai Lama im Kongressgebäude von Washington D. C. vor vielen amerikanischen Kongressmitgliedern und der Regierung, einschließlich dem Präsidenten, die höchste U. S. – amerikanische Ehrenmedaille. Im Hintergrund spielte ein amerikanisches Kammerorchester auf – aber nicht etwa mit Werken von George Gershwin oder Aaron Copland, sondern mit einem Divertimento von Wolfgang Amadeus Mozart. Schon als John F. Kennedy 1963 zu Grabe getragen wurde, spielte die Militärband den Trauermarsch im 2. Satz aus Beethovens ‘Eroica’. Das deutet auf die mächtige, auf europäischer, klassischer Musik basierende Musikszene in Amerika. Schon seit dem 19. Jh. und verstärkt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs besteht eine enge Dreiheit im Opernbereich zwischen der MET (Metropolitan Opera) in New York, der Scala in Mailand und der Wiener Staatsoper. Diese Musikszene kennt keine Grenzen und hat zu allen Zeiten politische Feindseligkeiten ignoriert. Auf der Kunstszene ist es nicht viel anders gelaufen, wenn auch die sogenannte deutsche Kunst, wozu auch lange die österreichische gerechnet wurde, erst seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts die ihr gebührende Anerkennung findet. Besonders die Werke von Gustav Klimt haben alle anderen Groβen – besonders Picasso oder van Gogh – und ihre Werke preislich überholt: man denke an die Affäre Zuckerkandl vor wenigen Jahren und die Einrichtung eines eigenen Museums auf der 5th Avenue für Werke von Klimt und anderen Wiener Künstlern um 1900.(10) Andrerseits hat ein amerikanischer Künstler wie Andy Warhol wie kein zweiter in Europa Anerkennung gefunden, wie ein Foto demonstriert, das ihn vor dem Tischbein’schen Gemälde ‘Goethe in Rom’ in der ‘Casa di Goethe’ zeigt(11). Das Gesamtbild wird noch durch ein Foto vor dem gleichen Werk Tischbeins vertieft, das einen deutschen Teenager mit Indianerhaartracht vorstellt, der damit den Jugendgeschmack von Los Angeles bis Bukarest oder Sofia über den riesigen transatlantischen Kulturraum repräsentiert.(12)
Die Architekturszene läuft seit den Arbeiten von Frank Lloyd Wright und Otto Wagner, gefolgt von der weit verzweigten Bauhaus-Bewegung, mehr als ein Jahrhundert Hand in Hand. Sie hat sich in ihren technischen und ästhetischen Ansichten weltweit etabliert, wird jedoch zuweilen arg torpediert und widersinnig von wirtschaftlichen Sparmaβnahmen entstellt. Dennoch greifen Freund und Feind in der Welt darauf zurückgreift. Der moderne Tourismus, der Kreuzfahrten über alle Weltmeere und schiffbare Flussläufe veranstaltet, hat es zudem ermöglicht, dass heute Millionen Menschen die gemeinsame Kultur nachvollziehen, eine bewusste Einheitlichkeit glaubhaft erleben und ihr Geschichtsbewusstsein erweitern. Diese Entwicklung hat besonders seit den neunziger Jahren Fuβ gefasst und neue Dimensionen der gemeinsamen Kulturauffassung eingeleitet, die noch nicht in ihrer vollen Wirksamkeit durchforscht sind.(13)
Die Literaturszene geht verschiedene Wege. Einerseits interessieren Amerikaner mehr ihre eigenen Besteller-Autoren. Der internationale Buchmarkt, besonders der europäische, wird nur an den Universitäten eindrucksvoll gelehrt und behandelt. Doch schaffen es immer wieder einige Autoren die Enge ihrer Sprachgrenzen zu transzendieren, was sowohl geographisch, wie intellektuell zu verstehen ist. So liest man ebenso fasziniert auf beiden atlantischen Ufern John Updikes sprachgewandte Fiktion von “Gertrud and Claudius” nach der Ermordung von Gatten bzw. Bruder, wie man nach der Lektüre die zum Film verwandelte Romanversion von Gabriel Garcia Marquez zu “Liebe in der Zeit der Cholera” erlebt. Shakespeare gilt allerdings überall, gefolgt von anderen in Amerika bekannten Autoren wie Dante, Molière, die Russen, Goethe und Günter Grass.
Schließlich gelangen wir zum gemeinsamen Boden des Films, dessen etwa einhundertjährige Entwicklung seit seiner Entdeckung durch die Brüder Lumière die europäisch-amerikanische, transatlantische Verwandtschaft tausendfach belegt. All das wurde z. B. auf dem “Amerikanischen Symposium zur österreichischen Literatur”(14) in Taos Ski Valley, New Mexico, vom 22. Juli bis 12. August 2007 gedanklich überschlagen und nachvollzogen, als mehr als vierzig Autoren, Künstler, Filmemacher und Theoretiker bewusst das transatlantische Kultur- und Bildungsphänomen erlebten und bestätigten. Neuspanien und der Donauraum gehörten in das Reich Karls V. und der Habsburger, in dem die Sonne nicht unterging.(15)
Das Schweizer Tor vom Jahre 1553 in der Wiener Hofburg macht einmal mehr – nicht nur auf die vorhin erwähnte kleine Schweiz im Vergleich zum groβen, hier betrachteten Raum aufmerksam. Es wurde zu einer Zeit errichtet, als der Zusammenschluss Europa – Amerika begann, und dessen historischen Wurzelbereich selbst die Amerikaner in wachsendem Maβe auch als den ihren, und somit als den ‘unseren’ konzipieren müssen und wollen. Man lehrt das transatlantische Verhältnis sogar schon in vereinfachter Weise im jüngst wieder zurückgebrachten Fremdsprachen- und internationalen Kulturunterricht vom Kindergarten – so benannt auf beiden Ufern – bis in die Erwachsenenbildung. Den transatlantischen Bezugsbereich plagt seit Ende des Zweiten Weltkriegs kein Krieg mehr – sieht man von den eher begrenzten, wenn auch nicht beruhigenden Gemetzeln im Balkan ab. Bewährt sich hier eine transatlantische Friedensbewegung, die zur Zeit der Aufklärung von den amerikanischen Gründungsvätern bis zu ihren europäischen Gesinnungsgenossen von Montesquieu bis Immanuel Kant Fuß gefasst und nach den Schrecken etlicher historischer Ereignisse, zuletzt zweier Weltkriege, nun schon über zwei Generationen sinnvollen, bündnispolitischen Bestand hat?(16) Diese Beziehungen zwischen beiden Kontinenten entdecken das verstohlene Bekennen eher unverhohlen, wenn sie nicht sogar das Geheimnis gänzlich lüften.
Anmerkungen:
1.1. Europäische Identitäten, Europäische Realitäten
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-20