TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 1.1. Europäische Identitäten, Europäische Realitäten
Sektionsleiter | Section Chair: Christoph Parry (University of Vaasa)

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Die Dekonstruktion von „europäischer Identität“ in Terézia Moras Alle Tage

Eszter Propszt (Szeged)

Email: propszt@jgypk.u-szeged.hu

 

Abel Nema, die Hauptfigur in Terézia Moras „Alle Tage“(1) lebt als Übersetzer in einem Raum des Dazwischen, als Flüchtling aus Osteuropa in einer westeuropäischen Metropole bzw. in einem entörtlichten Netzwerk. Somit – könnte man denken – sind ihm alle Voraussetzungen einer „europäischen“ Identität gegeben, vorausgesetzt, man betrachtet die Übersetzung als Sprache der „europäischen“ Kultur, nicht im Sinne von einer Technik, sondern als kulturelle Praxis, als Teilnahme am Grenzverkehr verschiedener Kulturen und als Gestaltung der eigenen Identität als eines durchlässigen Ortes, in dem Veränderungen, Denken in Differenzen und Austausch potenziell möglich sind. Abel Nemas Identität als Übersetzungsraum wird jedoch dekonstruiert, und somit auch eine „europäische“ Identität.

Mein Referat soll in einem ersten Untersuchungsschritt die diskursiven Mechanismen ausdifferenzieren, über die Abel Nemas (potenziell „europäische“) Identität konstruiert wird. Diese Zielstellung impliziert zwei Grundannahmen: Die erste ist, dass Identität das Ergebnis einer Bedeutungskonstruktion, also ein Konstrukt ist, und die zweite, die die Geltendmachung der ersten für die Textanalyse legitimiert, ist, dass die epische Fiktion – wie Käte Hamburger feststellt(2) – ein bzw. der einzige erkenntnistheoretische Ort ist, in dem die Subjektivität einer dritten Person als die einer dritten dargestellt werden kann. Die praxisanleitende Methode ist die Analysemethode, die Gérard Genette in „Die Erzählung“(3) vorlegt.

Die narrative Praxis von Terézia Mora ist mit dem polytonalen System eines Musikstückes vergleichbar. Der Vergleich ist auch im zweiten Unterkapitel, „Chöre“, angelegt, in dem ein Chorgesang neben Äußerungen von Erzählern über Abel Nema gestellt wird: Dadurch wird eine metanarrative Ebene installiert, über die die Konstruktionsregeln der Erzählung reflektiert werden. Den Vergleich ausführend kann behauptet werden, dass die Autorin zahlreiche narrative Instanzen im Sinne der fiktiven „Person“ eines Erzählers gestaltet, die gemeinsam einen vielstimmigen Chor bilden (wobei ich Stimme im Sinne der Genette’schen Erzähltheorie verwende), das heißt sie werden mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen ausgestattet und in sehr unterschiedliches zeitliches und ontologisches Verhältnis zum Erzählten gesetzt. Sie erzählen aus unterschiedlichem zeitlichem Abstand, und neben den vielen homodiegetischen Erzählern – alle relevanten erzählten Figuren fungieren auch als erzählende – gibt es auch einen heterodiegetischen, das als „leibliche“ Person nicht fassbare Ich des Sprechers der Erzählrede, außerdem werden intradiegetische sowie metadiegetische Ebenen der Erzählung eröffnet. Auch die Präsentationsformen des Erzählten sind differenziert, beinahe alle Modi der mittelbaren sowie der unmittelbaren Präsentation von gesprochener Rede und Gedankenrede sind herauszustellen und auch die Polymodalität der Erzählung, das vielfältige Nebeneinander von Fokalisierungsmodi, fällt auf. Die Stimmen werden permanent moduliert, und sie wechseln einander unvermittelt ab; die Distanz zum Erzählten kann auch innerhalb eines Satzes beträchtlich zunehmen oder eben schrumpfen; und auch die denkbaren Fokalisierungsmodi, die Nullfokalisierung, die interne Fokalisierung (wobei auch die variable interne und die multiple interne Fokalisierung festgestellt werden können) und die externe Fokalisierung wechseln einander stets gestaltend ab. Es ist darüber hinaus festzuhalten, dass für den Text eine durchgängige Anachronie, d.h. eine durchgängige Umstellung der chronologischen Ordnung der Ereignisfolge konstitutiv ist.

Diese narrative Praxis installiert keine Harmonie, der Chor, ich meine die Erzählung, praktiziert nicht den Frieden, um den der Chorgesang im Kapitel „Chöre“ betet. Der Chor, ich meine die Erzählung, hat manchmal beinahe unerträgliche Dissonanzen, obschon alles auf Abel Nema abgestimmt ist bzw. auf Abel Nema abgestimmt werden will. Wir wollen nun die Chöre belauschen. Zuerst den Chorgesang:

[…]
Männerstimme (gleichzeitig): Doooo-naa no-o-bis.
Frauenstimme (gleichzeitig): Paaa-a-cem.
Andere Stimmen (gleichzeitig): Doooo-naa no-o-bis.
Alle: Paaa-a-cem. (Mit ein wenig Konzentration bringt man das alles schon auf die Reihe.) (S. 12),

dann die Abel-Nema-Konstruktion verschiedener Erzähler:

Maria von der Gnade der Gefangenenbefreiung, sagte Tatjana zu Erik. Unsere Freundin Mercedes hat eine Art Genie oder was aus Transsylvanien oder wo geheiratet, den sie aus dem Feuer oder so ähnlich gerettet hat.
Eigentlich, sagte Mercedes’ Mutter Miriam, ist alles in Ordnung mit ihm. Ein höflicher, stiller, gutaussehender Mensch. Und gleichzeitig ist nichts in Ordnung mit ihm. Wenn man das auch nicht näher benennen kann. Etwas ist verdächtig. Die Art, wie er höflich, still und gutaussehend ist. Aber vielleicht ist das so, wenn man hochbegabt ist.
Was heißt hier: hoch? Nun gut, er kann was. Einpaar Sprachen. Angeblich. Denn in der Praxis hört man kaum einen Satz von ihm. […]
[…] seine eigentliche Spezialität ist es, dass sich Menschen für ihn interessieren, und zwar ohne dass er auch nur das Geringste dafür tut. […] die Welt, mit Mann und Maus, interessiert ihn nicht die Bohne. In der Welt leben und nicht in der Welt leben. So einer ist er. (S. 13-14)

Jede „Stimme“ konstruiert Abel Nemas Identität, je nach ihrer Wahrnehmungs- und Sprachkompetenz, ein enormer Konstruktionsaufwand – ohne Erkenntnisgewinn: Zu einem kohärenten Gebilde lassen sich diese Konstrukte nicht integrieren, weder durch die Konstrukteure noch durch den Leser.

Die Motivation der Konstrukteure scheint gerade in der Erfolglosigkeit ihrer Konstruktionsarbeit zu liegen. Die größte Gemeinsamkeit ihrer Konstrukte ist, dass sie Abel Nema dadurch definieren, dass er undefinierbar ist und von dieser Undefinierbarkeit geht auf die Konstrukteure eine eigenartige Faszination aus: Trotz der Einsicht in dessen Unmöglichkeit geben sie den Versuch nicht auf, Abel zu definieren. Wegen ihrer Sisyphus-Tapferkeit kann die Erzählung als ein polytonales (polymodales) System beschrieben werden, in der Zwischenstellung zwischen einem streng strukturierten tonalen (modalen) System und einem atonalen, das über keinen herrschenden Code mehr verfügt. Die ständige Verletzung der Grenzen des eigenen narrativen Systems artikuliert nämlich die Sehnsucht nach einem intakten, unverletzbaren System bzw. nach dem Zustandebringen eines kohärenten Systems – indem in jedem Verstoß gegen die Ordnung eine implizite Anerkennung und Bestätigung der Ordnung enthalten ist.

Dieser Faszination ergeben sich in ihrer Zuneigung immer wieder frustriert Kinga und Konstantin, die Abel wieder und wieder Unterkunft bzw. Zuflucht bieten; Frauen, die Abel flüchtig begegnen und die nachher noch lange sexuelle Phantasien mit ihm haben; dieser Faszination ergeben sich auch Tatjana und Erik, indem sie unermüdlich gegen sie kämpfen und mit einem wütigen Eifer nach Abels vermeintlichen Geheimnissen forschen. Mit der größten Beständigkeit ergibt sich dieser Faszination jedoch Mercedes, Abels (Schein)Ehefrau, die von sich behauptet, das Talent zu haben, das Unmögliche zu lieben. Durch sie wird die hoffnungslose Konstruktionsarbeit wie folgt reflektiert:

Jemand, eine Erbtante namens Vorsehung, hat mir ein gigantisches Ehemann-Puzzle geschenkt, Stück für Stück nähere ich mich von den Rändern an, Beobachtungsgabe und Ausdauer werden trainiert, mit einem Wort: Es ist Mühsal, aber man kann nicht aufhören damit, noch nicht, wenn auch das Ergebnis voraussehbar und, geben wir’s zu, meistens enttäuschend ist: ein zweidimensionales, von Rissen durchzogenes Bild. Oder – Wechsel der Metapher – als ob man in einem Traum unterwegs wäre, und das Etwas, das man sucht, ist immer hinter der nächsten Ecke. […] Was ich auch immer erfahre, ein Teil der Geschichte ist immer hinter der nächsten Ecke verborgen. Tolles Spiel. Oder mieses Spiel. Das weiß man noch nicht so richtig. (S. 302-303)

Die Metanarration, durch die Reflexion bewerkstelligt, macht den Leser auf mögliche Gefahren einer Lesart aufmerksam, die die „Wahrheit“ über Abel Nema stets hinter der nächsten Ecke erwartet bzw. auf die Enthüllung von Abel Nemas Geheimnis wartet. Die systematische Einnahme des point of view der Konstrukteure in der Erzählung verleiht Abel eine rätselhafte, beinahe mysteriöse Persönlichkeit, indem sie seine Gedanken und Gefühle bis zur Offenbarung am Schluss verborgen hält. Aber weder diese Offenbarung noch der „allwissende“ Erzähler schließen alle „Wissenslücken“. Der „allwissende“ Erzähler macht sogar immer wieder auf die Grenzen seines Wissens aufmerksam. Es bleiben endgültig dunkle Stellen vorhanden(4). Ein anschauliches Beispiel für die Enttäuschung der Informations- bzw. Geheimnis-Erwartungen der Abel-Nema-Konstrukteure liefert die Passage, die über Mercedes’ schockierende Entdeckung berichtet und damit die Vorahnung des Lesers endgültig bestätigt, dass Abel pädophile Neigungen hat. Der Puzzle-Teil der Pädophilie erklärt zwar manches Merkwürdige in Abels Verhalten, aber auch nach seinem Einfügen bleibt das Bild unvollständig, Mercedes und mit ihr der Leser werkeln immer noch nur am Rand des Puzzles, ohne dem Zentrum näher zu kommen.

Die Chance, dem Zentrum näher zu kommen, bekommt unter den Abel-Nema-Konstrukteuren eigentlich nur der Leser. Sein Weg zum Zentrum kann, besonders wenn er ein Ungarisch sprechender Leser ist, über Abel Nemas Namen führen. Die Nichtidentifizierbarkeit, die so wesentlich für Abels Identität ist, scheint nämlich in seinem Namen festgelegt, oder gar kodiert zu sein: Spricht man die Lautfolge N, E, M, A nach den Regeln der deutschen Phonetik aus, entsteht ein ungarisches Wort (mit deutschem Akzent), néma, das auf Deutsch soviel wie stumm bedeutet (nota bene der Name gibt seine Identität erst ausgesprochen frei). Darauf wird der Leser von Kinga, einer Landsfrau von Abel, die sich mit Vorliebe als seine Patin identifiziert, aufmerksam gemacht:

Immer etwas etepetete, so ein Rührmichnichtan, aber du täuschst mich nicht, dein Name verrät dich: Nema, der Stumme, verwandt mit dem slawischen Nemec, heute für: der Deutsche, früher für jeden nichtslawischer Zunge, für den Stummen also, oder anders ausgedrückt: den Barbaren. Abel, der Barbar […]. Das bist Du. (S. 14)

In einem zweiten Untersuchungsschritt verfolge ich somit das Ziel, die Identität des Haupthelden aus seinem sprechenden Namen heraus zu re-konstruieren.

Bei dieser Rekonstruktionsarbeit fange ich mit der Fokussierung einer Paradoxie an, die sich im oben zitierten Chor manifestiert: Abel Nema ist ein stummes Sprachgenie. Er beherrscht zehn Sprachen und ist als Übersetzer tätig, sprechen hört man ihn aber kaum. Wenn doch, dann mit einer sterilen Perfektion:

[…] das glaubt man einfach nicht, dass er den Großteil seiner Kenntnisse im Sprachlabor erworben hat, so wie ich es sage: von Tonbändern. Es würde mich nicht wundern, wenn er nie mit einem einzigen lebenden Portugiesen oder Finnen gesprochen hätte. Deswegen ist alles, was er sagt, […] so klar, wie man es noch nie gehört hat, kein Akzent, kein Dialekt, nichts […]. (S. 13)

Die sterile Perfektion stellt die Art und Weise der Entfaltung eines Talents dar, das Abel nach einer lebensgefährlichen Gasvergiftung zuteil wurde:

Er lernt Ton um Ton, analysiert Frequenzziehungen, wühlt sich durch die Codes der Lautschrift und färbt sich die Zunge schwarz, um die Abdrücke zu vergleichen. Auf die Dauer schmeckt das wie Strafe. (S. 101)

Durch seine Laborarbeiten nimmt er die konturlose Gestalt eines „idealen Sprechers“ der Kompetenz-Theorie chomskyscher Prägung an, dessen formalisierbare, universale Sprachkompetenz sich jenseits aktual realisierter Register befindet:

Als züchtete er des Nachts dort seinen Homonculus (sic!), nur dass dieser hier ganz aus Sprache besteht, der perfekte Klon einer Sprache zwischen Glottis und Labia. (S. 101)

Abels Rekonstruktionsarbeit wird von einer Stimme im Chor folgenderweise reflektiert:

Zu Beginn gibt es die Mathematik, das Spinnennetz der Konstruktion. Wie das aufklappbare Märchenschloss ersteht aus zwei Buchseiten ein gläserner Wald auf. Jeder seiner Bäume ist ein Satz, die Äste schließen mit dem Stamm den und den Winkel an, ebenso die kleineren Äste mit den größeren, an den Enden blinken zarte Syntagmen. Die Natur baut alles nach einem Muster. Hier kommt einem das Wissen um Fraktale zugute. Oder der simple und universelle Sprachinstinkt. Der Wald steht für sich allein, in tödlicher Schärfe und Schönheit, aber stumm. (S. 101)

Die Stummheit des Waldes, die Stummheit von Abels Sprach-Klonen besteht darin, dass sie keine identitätskonstitutive Rolle ausüben. Identität ist ein sprachlich ausgehandeltes Konstrukt, Sprache spielt folglich vor allem als Performanzphänomen eine identitätskonstitutive Rolle: Nicht die Sprache als abstraktes Gebilde fixierter und systematisierter Konstruktionen, sondern das konkrete Sprechen stellt Lebenspraxis und grundlegenden Modus von Welt- und Selbstkonstitution dar.(5) Abels Stummheit besteht darin, dass er, der sich im Labor als hervorragender Rekonstrukteur bewährt, sich weigert als Konstrukteur aufzutreten, zum Konstrukteur seiner Subjektivität zu werden: Obwohl er durchaus über die konstitutive Rolle der Sprache weiß – „wir sprechen, also sind wir“ (S. 404), stellt er fest, und „[…] in der Praxis sieht es so aus, dass ich offiziell zehn Sprachen beherrsche, in Wahrheit sind es unendlich viele. Allein schon meine Muttersprache befähigt mich dazu, zirka zwei Dutzend verschiedene Dialekte zu unterscheiden, manche davon definieren sich als eigenständige Sprache, weil oft schon eine einzige Nuance in einem einzigen Ausdruck eine gänzlich andere Welt ergibt.“ (S. 401) –, obwohl er sogar eine Dissertation über das Problem plant, macht er keinen Gebrauch von der ihm zehnfach (bzw. unendlich vielfach) zur Verfügung stehenden Möglichkeit, über das Medium der Sprache die Welt und sich selbst zu konstruieren, eine soziale und/oder personale Identität zu stiften, und an gemeinschaftlichen sozio-kulturellen Identitäten teilzuhaben. Abel Nema verwendet seine Sprachen nicht in Beziehungen(6), er tritt nicht in identitätskonstitutive Interaktionen ein: Die oben festgestellte Dissonanz des Chors liegt darin begründet, dass – wie erwähnt – obwohl alles auf ihn abgestimmt sein will, Abel den Ton nicht angibt, ja, er bringt kaum einen Ton hervor. Er pflegt keine sozialen Kontakte, er fristet sein Dasein in einem einsamen und sterilen sozialen Vakuum: „alles, was er sagt, [ist] […] ohne Ort, so klar, wie man es noch nie gehört hat, kein Akzent, kein Dialekt, nichts – er spricht wie einer, der nirgends herkommt“ (S. 13).

Wenn Abel stumm bleibt, wenn er nicht als Konstrukteur, d.h. als aktiver Zeichenbenutzer auftritt, imitiert er – wie es sich aus der Erzählung des heterodiegeteischen Erzählers rekonstruieren lässt – jedes Mal „Freund und Idol“ (S. 402) seiner Kindheit, Ilia, der sich damals, um seine Skepsis mit seinen Hoffnungen zu versöhnen, ein Spiel einfallen ließ: „Gottesurteile“, „gib mir ein Zeichen“ (S. 28). Das Spiel bestand für Ilia darin, ausschließlich als Empfänger von Zeichen, als Dekodierer zu fungieren, jede Verantwortungaber als Sender von Zeichen, als Kodierer abzulehnen(7): Fünf Jahre laufen die zwei Kinder durch die Straßen ihrer Heimatstadt, bleiben an jeder Kreuzung, Abzweigung stehen und gehen nicht eher weiter, als dass Ilia meint, ihm ist ein Zeichen gegeben worden. Ilia lehnt auch jegliche Verantwortung für die von ihm in Abel geweckten Gefühle ab, und zwar brutal. Abel tritt, nachdem Ilia jede Gemeinschaft mit ihm verweigert hat, d.h. sich geweigert hat, sein identitäts- und wirklichkeitswahrender Anderer zu sein, sein eigenes Spiegelbildin Ilias Fenster ein. Nach diesem acting out, das für den Leser als symbolische Zerstörung von Abels Identität (durch ihn selbst) erscheint, verbleibt Abel in einem Zustand der Dissoziation, er scheint nicht daran interessiert zu sein, die „Scherben“ seiner Identität zusammenzufügen. Im Moment, in dem er das Spiegelbild eingetreten hat, wird ihm „alles fremd“ (S. 55), und er verbleibt im Zustand der „Verfremdung“, fremd von sich, fremd von seiner jeweiligen Umwelt. Ich wiederhole, jedes Mal imitiert er (unbewusst) Ilia, wenn er im Labor eine Sprache, ein Zeichensystem rekonstruiert, wenn er keine Verantwortung für die von ihm in Anderen geweckten Gefühlen nimmt.(8) Wie Ilia Gott, seinem großen Konstrukteur folgt, folgt Abel Ilia als seinem Gott.(9) Das Sprachtalent, das ihm zuteil wurde, und das ihm ermöglichen würde, andere Wirklichkeits- und Identitätswahrende als Ilia zu suchen, missbraucht er in dem Sinne, dass er es dieser Gottheit opfert: Die bisher Gesagten lassen Abel Nemas Laborarbeit als permanentes Opfer an Ilias Altar interpretieren.

Eine Rechenschaft über dieses Talent sowie über die Stummheit wird an der Textstelle gegeben, die als „Zentrum, Delirium“ überschrieben ist. Das ist die einzige Stelle im Text, wo Abel längere Passagen hindurch spricht, und zwar von der Ich-Jetzt-Hier-Origo(10) aus, die, wie es sich nach Bühler(11) behaupten lässt, nun den Koordinatenausgangspunkt seiner gesamten Erkenntnis und Wirklichkeitskonstruktion abgibt. Das ist die einzige Stelle also, wo Abel als erzählendes und erlebendes Ich gestaltet wird. Er zeigt sich hier aus seiner lange praktizierten Dissoziationheraus als Re-Konstrukteur. Er re-konstruiert Konstrukteure seiner Identität (so seine Mutter, seine Großmutter, seinen Vater, seine Schwiegereltern, seinen Stiefsohn, Ilia usw.), spricht aus diesen Konstrukten heraus und re-konstruiert dadurch die Abel-Nema-Konstrukte von diesen (mit anderen Worten: er re-konstruiert sich selbst als Sohn seiner Mutter, als Sohn seines Vaters, als Ilias Freund usw.) und setzt diesen Konstrukten seine eigenen Abel-Nema-Konstrukte entgegen. Es wird ein Dialog zwischen Abel Nemas multiplen Teil-Identitäten, die in verschiedenen Kontexten entworfen sind, konstituiert. Zu einer Integration dieser Teil-Identitäten bzw. den entworfenen Wirklichkeits- und Selbstaspekten kommt es nicht, trotzdem erweist sich das Delirium als durchaus identitätskonstitutiv: Selbstreferenziell und rekursiv wird durch Abel ein Teil der Wirklichkeit erzeugt, der sich auf sein Selbst bezieht. Als identitätskonstitutiv erweist sich das Delirium aber auch dadurch, dass in ihm die Fremdsteuerung von Abel Nemas Subjektivität aufgehoben wird. Abel nimmt nämlich endgültig Abschied von Ilia, den er selbst in den Mittelpunkt seiner Subjektivitätsbildung gestellt hat. Der Abschied stellt zugleich Abels Rechenschaft über sein Sprachtalent dar: Die letzten Münzen, die er hat, und die – auch etymologisch – sein Talent repräsentieren, hinterlegt er für Ilia bzw. die eine legt er in Ilias ausgestreckte Hand, und dieser nimmt „die eiserne Hostie“ (S. 400) in den Mund. Das letzte Opfer ist zugleich Abschied von einem nun für immer Stummen, von einem Toten, auf dessen Zunge die eiserne Hostie nicht zergehen wird, von dem Abel keine Reaktion erwarten kann, die für seine Identität konstitutiv sein könnte. Die Rechenschaft verläuft aber in Abels Innerem; kein homodiegetischer Abel-Nema-Konstrukteur erfährt davon.

Die Information des Kapitels „Zentrum“, nämlich dass das Zentrum von Abel Nemas Subjektivität fremdgesteuert ist, stellt allerdings nicht das Geheimnis dar, das die Konstrukteure erfreuen könnte oder den Puzzle-Teil, der die Puzzler das Bild erfolgreich beenden ließe. Das Geheimnis, das das Zentrum gestaltet, manifestiert sich in der erzählerischen Vermittlung dieser Information: Die Information wird dem Leser durch den Fokalisierungsmodus vermittelt und den anderen, d.h. den erzählten Abel-Nema-Konstrukteuren ebenfalls durch den Fokalisierungsmodus vorenthalten. Das Geheimnis manifestiert sich in der Koexistenz zweier Fokalisierungsmodi, in der doppelten Fokalisierung: Die bildet den Gegensatz ab, der zwischen der Asozialität, der an Amoral grenzenden Gleichgültigkeit Abels und seiner Verletzlichkeit, der Zartheit seiner Gefühle besteht. Letzteres offenbart sich wahrscheinlich für den „allwissenden“ Erzähler und für den Leser in dem beschriebenen Kapitel, das einen Einblick ins Abels Innere gewährt, nicht aber für die hoffnungslos faszinierten Konstrukteure, deren Wahrnehmungstätigkeit stark eingeschränkt ist(12). Ihr Zugang zu diesem Gegensatz, der als das Zentrum betrachtet werden kann, bleibt verwehrt, der Gegensatz bleibt in der Erzählung unaufgelöst.

Auch wenn der Gegensatz in der Erzählung unaufgelöst bleibt, nehmen die „Wandlung“(13), die das autopoietische Delirium bewirkt, auch die Konstrukteure wahr: Abel hat, wie als erste seine (Schein)Ehefrau Mercedes feststellen muss, einen „kaum vorhandenen, kaum hörbaren, nur spürbaren: Akzent“ (S. 419), und nun ist er auch fähig, die Färbung von Mercedes’ Stimme, ihre Heiserkeit wahrzunehmen. Insofern sein „verspätete[r] Stimmbruch“ eine verspätete (männliche) Reife andeutet, kann man annehmen, dass Abel bereit ist, sich in dem ihn gestaltenden sozialen Gefüge zu positionieren. Zur Entfaltung bzw. zur Aktivierung seiner immer nur noch potenziell „europäischen“ Identität kann es aber nicht kommen: Bei dem ersten Versuch, sich in der Stadt (mithin in dem entörtlichten Netzwerk), in der (in dem) er sich früher immer wieder verlaufen hat, nun zu orientieren, wird seine Übersetzer-Identität radikal dekonstruiert. Straßenjungen, im Übrigen seine Landsleute, schlagen ihn zusammen, umwickeln seine Füße mit Klebeverband und hängen ihn an ein Klettergerüst. Durch das Hängen bzw. durch die Gehirnblutungen erleidet Abel Nema eine Zehn-Sprachen-Aphasie, er verliert alle seine Sprachen. Nur die Landessprache regeneriert sich später soweit, dass er einfache Sätze sprechen kann. Mit den Sprachen verliert er auch seine Erinnerungen, „wenn man ihm sagt, was man über ihn weiß, […] er […] habe einst ein Dutzend Sprachen gesprochen, übersetzt, gedolmetscht, schüttelt er höflich-verzeihend-ungläubig lächelnd den Kopf“ (S. 430).

Das Aufhängen Abels kann auf vielerlei Weise interpretiert werden. Es kann behauptet werden, dass ihn durch die brutalen Jungs seine Vergangenheit, seine amoralische Gleichgültigkeit einholt: Die Brutalität der Kinder ist nur die physische Aushandlung der Gefühllosigkeit und Rohheit, mit der er früher die ihn Liebenden behandelt hat. Es kann behauptet werden, dass das Aufhängen die Ausführung der Strafe ist, die das im Delirium visionierte Gericht über Abel verhängt. Wie es auch interpretiert wird, trägt das Aufhängen identitätskonstitutives Potenzial. Nicht nur, weil es Abel in seinem letzten lichten Moment als Vollendung identifiziert(14), und nicht nur, weil das mit dem Kopf nach unten Hängen nach dem visionierten Gericht zur Erleuchtung führt, sondern auch, weil die Dekonstruktion unter anderem eine Komplexitätsreduktion darstellt, wodurch Abel sozusagen die Konzentration auf eine Kernidentität somit eine identitätsverbürgende Lebenspraxis in der Landessprache ermöglicht wird. Abel verlässt den Raum des Dazwischen, übersetzt nicht mehr, nimmt nicht am Grenzverkehr verschiedener Kulturen teil, denkt nicht in kulturellen Differenzen, studiert nicht mehr distinktive Merkmale, auf deren Basis sich Sprachen konstituieren. Die relevanteste Differenz, die sein Denken bestimmt, die relevanteste Distinktion, die er praktiziert, besteht in der Ausdifferenzierung von „gut“: „Am liebsten sagt er immer noch: Das ist gut. Die Erleichterung, ja, das Glück, diesen Satz aussprechen zu können, ist ihm so deutlich anzusehen, dass ihm die, die ihn lieben, jede Gelegenheit dazu bieten. Er spricht es dankbar aus: Das ist gut.“ (S. 430). Somit kehrt Abel Nema heim. Er kehrt heim auch in eine Sprachgemeinschaft, aber noch mehr in eine Gefühlsgemeinschaft: Wie durch die Erzähler immer wieder betont wird, bedeutet der Name seines Stiefsohnes, Omar, Ausweg, Lösung, und Abel nimmt diesen Ausweg aus den sinnlosen Wiederholungen seines verfremdeten Lebens, aus den einsamen Kreisen, in denen er Ilia (Gott, den bzw. seinen Vater) zu finden hofft. Er bricht aus den Kreisen aus, die er um eine tote Mitte gezogen hat(15): Er zeugt mit Mercedes ein Kind, ein Mädchen und leidet nicht mehr an den Sprachen, die er erlernt, um über sie Ilia wieder zu finden, und die ihn von der erinnerten Welt seiner Kindheit genauso fernhalten wie von seiner aktualen sozialen Umwelt. Als Heimkehrer ist Abel Nema eindeutig als Verwandter von Ábel Szakállas, dem Helden von Tamási Áron in „Ábel in der Wildnis“ zu identifizieren – der intertextuelle Bezug, durch Kingas Namensgebung hergestellt, „Ich taufe dich hiermit feierlich auf den Namen Abel Ausdemdickicht“ (S. 136), ist nur für den ungarischen Leser erschließbar –, der für seine Feststellung bekannt ist: Man ist auf der Welt, um in ihr irgendwo zu Hause zu sein. Mit dieser Feststellung soll auch die Re-Konstruktion von Abel Nemas Identität aus seinem Namen abgeschlossen werden.

Durch Abels Heimkehrer-Identität, mit der er die Rückkehr aus der Einsamkeit in die Gemeinschaft, aus der Überreflexion ins Gefühl schafft, wird meines Erachtens ein kritischer Maßstab für die Möglichkeiten wie auch die Grenzen einer „europäischen“ Identität gesetzt.

 


Anmerkungen:

1 Mora, Terézia Alle Tage München, 2004.
2 Hamburger, Käte Die Logik der Dichtung Frankfurt am Main, 1980.
3 Genette, Gérard Die Erzählung München, 1998.
4 Man erfährt beispielsweise nicht, ob Abels Vision über Ilias zweiten, „endgültigen“ Tod im Kapitel „Zentrum, Delirium“ innerhalb dem Rahmen der Fiktion referenzialisierbar ist.
5 In den Zusammenhängen von Sprache und Identität orientiere ich mich hauptsächlich an Kresic, Marijana Sprache, Sprechen und Identität: Studien zu sprachlich-medialen Konstruktion des Selbst München, 2006.
6 Die einzige Ausnahme stellt Abels Beziehung zu seinem Stiefsohn, Omar, dar, die Intimität zwischen den beiden wird sogar durch erfundene Sprachen gestärkt.
7 Dass jedes Dekodieren zugleich Neukodieren ist, wird im Spiel überspielt.
8 Vgl. „ […] schien es mir der einzig gangbare Weg zu sein: sich auf nichts anderes als auf die Kultivierung und Ausweitung meines Talents zu konzentrieren und für den obskuren Rest nicht verantwortlich zu sein.“ (S. 403)
9 Ilias Bild verschmilzt in Abels Delirium mit dem Gottes.
10 In diesem Zusammenhang ist von Relevanz, dass die Erzählung zwar mit dem Satz anfängt, „Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier.“ (S. 9), welcher die Sprecherposition fokussiert und die Aufmerksamkeit des Lesers steuert, aber die Festlegbarkeit des Ich, des dritten Faktors der Positionierung immer wieder verunsichert. Da mit den Deiktika durchgehend gestalterisch gespielt wird, kann der Leser den Sprecher stets nur mit Mühe identifizieren. Es kommt vor, dass erst nach längeren Passagen ersichtlich wird, dass ein Wechsel in der Sprecherposition stattgefunden hat, dass z.B. das Zeigewort er nur scheinbar konstant gehalten wurde, es bezeichnet aber eine andere „Person“, als in den vorangehenden Passagen. Es kommt aber auch vor, dass die Sprecherposition definierende Deiktika redundant mit Personennamen ergänzt werden. Der Leser wird dadurch zu einer sehr aufmerksamen Lektüre gezwungen, die die Frage, wer spricht?, stets gegenwärtig hält.
11 Bühler, Karl Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache Stuttgart/New York, 1982.
12 Mercedes, die wir als einen Puzzler mit Ausdauer kennen gelernt haben, denkt sich zum Beispiel, als sie von der Polizei gefragt wird, wann sie ihren Mann das letzte mal gesehen hat: „Wenn ich’s mir recht überlege: noch nie.“ (S. 10).
13 Das letzte Kapitels ist als „Verwandlungen“ betitelt.
14 Vgl. „[…] jetzt wirst du vollendet.“ (S. 426)
15 Vgl. dazu auch die Urteilsbegründung des visionierten Gerichts: „[Sie] Entwickeln sich keinen Deut weiter. Laufen im Kreis, immer haarscharf am Wesentlichen vorbei. […] wie in einer Zentrifuge kleben Ihre Einzelteile an den Rändern, während Ihre Mitte leer bleibt.“ (S. 390)

1.1. Europäische Identitäten, Europäische Realitäten

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For quotation purposes:
Eszter Propszt: Die Dekonstruktion von „europäischer Identität“ in Terézia Moras Alle Tage - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-1/1-1_propszt17.htm

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