TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Oktober 2010

Sektion 1.1. Europäische Identitäten, Europäische Realitäten
Sektionsleiter | Section Chair: Christoph Parry (University of Vaasa)

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Zur Diskussion um den Bombenkrieg im Kontext der Holocaust-Erinnerung.
Europäische Geschichte, nationales Gedächtnis

Christian Rink (Vaasa)

 

Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen:
darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.

Primo Levi

 

1. Vorbemerkung

Die Modalitäten des Erinnerns an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg insgesamt stehen gegenwärtig in besonderem Maß auf dem Prüfstand.(1) Die Erinnerung an den und das Beschweigen des Bombenkriegs sind dabei nur im Kontext der Holocaust-Erinnerung zu beurteilen. Daher soll im Folgenden die zur Zeit in der deutschen Gegenwartsgesellschaft zu beobachtende Bestrebung, vermehrt die deutschen Opfer des Bombenkriegs, aber auch der Vertreibung, der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, der ererbten Schuldgefühle ins Zentrum der öffentlichen Betrachtung zu rücken, kontextualisiert und näher beleuchtet werden. Dies vor dem Hintergrund, dass wir uns gegenwärtig, wie unten weiter ausgeführt, am Ende der Zeitgenossenschaft befinden.

 

2. „Negative Identität und neue Opferrollen"

Wie der Zeithistoriker Hans-Georg Thamer jüngst in einem Artikel herausarbeitete(2), hat mit der Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Berlin und dessen offizieller Einweihung am 10. Mai 2005 die Erinnerung an den Holocaust „eine neue Etappe erreicht" (Thamer, 81). Zweifellos ist die Errichtung des Mahnmals eine große moralische Leistung, ob jedoch die intensiv geführte Diskussion um den Bau des Mahnmals tatsächlich eine politische und gesellschaftliche Bewusstseinsänderung herbeigeführt habe, wie es Thamer ausführt sei an dieser Stelle bezweifelt. Dennoch weist er auf einen faszinierenden Umstand hin: Erinnerung und Gedächtnis sind niemals vollständig und es existieren große Lücken im vorrangig negativen geprägten öffentlichen Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland: Mit 

der Einweihung des Stelenfeldes von Peter Eisenman in der Berliner Mitte [ist] ein bemerkenswerter und diskussionsbedürftiger Vorgang für jedermann sichtbar geworden: Dass nämlich im Land der Täter für alle ersichtlich, der Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gedacht wird – ohne dass damit eine Lösung impliziert ist, wie die Täterschaft und ihre Tat in die Erinnerung einbezogen und nicht nur die Opfer als solche und allein erinnert werden. (Thamer 81)

Zur Verdeutlichung: Die Errichtung des Holocaust-Mahnmals ist insofern eine große moralische Leistung, als die Einzigartigkeit des Verbrechens anerkannt und die Verantwortung auch der Nachgeborenen akzeptiert wird. Unbestreitbar ist wohl, dass die Bestrebungen seit den 1960er Jahren, den Massenmord an den europäischen Juden ins Zentrum des öffentlichen Gedenkens zu heben, zu einem vorläufigen Abschluss gekommen sind und dennoch niemals zum Abschluss kommen kann und darf: Das oben wiedergegebene Zitat Primo Levis erinnert uns an das zentrale Verbrechen und die Verantwortung und Aufgabe, die wir haben: Nicht die „Bewältigung" oder „Musealisierung", sondern die Erkenntnis, die wir aus der Geschichte ziehen können. Wer verhindern will, dass eine solche Tat wie der Holocaust sich wiederholt, der muss sich auch einem Tätergedächtnis widmen, sich der deutschen Opfernarrative annehmen und sie im Kontext des Massenmords an den europäischen Juden sehen.

 

3. Generationen – Zeitzeugeninteresse

Erinnerung ist einerseits immer eine generationsspezifische Angelegenheit – Ulrike Jureit zeigt in ihrem sehr kritischen Beitrag aus dem Jahr 2005 wie sehr die „kollektive Verständigung über das Erinnern an den Holocaust" bei Gegnern und Befürwortern durch „generationsspezifische Erinnerungsfiguren dominiert wurde."(3) – Nicht zuletzt habe sich die sog. 68er Generation selbst ein Denkmal der Vergangenheitsbewältigung gesetzt. Sinn des Holocaust-Mahnmals könne es gerade nicht sein, dass sich eine Generation anhand der Durchsetzung des Holocaust-Mahnmals „in bemerkenswerter Konsequenz ihrer kohortenspezifischen Deutungsmuster als »moralische Elite« [inszeniert]" (Jureit 257). Andererseits haben Denkmäler die Aufgabe, eine intergenerationelle Verständigung überhaupt erst zu ermöglichen. Jede Generation hat die Modalitäten des Erinnerns an den Holocaust zu überprüfen, damit das Interesse an der historischen Sache selbst bestehen bleibt.  Das Holocaust-Mahnmal ist hierbei ebenso gelungen wie herausfordernd, weil es trotz Generationsspezifik ein Denkmal ist, das – wie es der Architekt Peter Eisenman immer wieder hervorgehoben hat – selbst keinen Sinn und keine eindeutige Botschaft hat. Es ist eine Gedenkstätte, die offen ist für vielerlei Deutungen und uns auffordert, Aufklärungsarbeit zu leisten, die Form mit Sinn zu füllen. Dies vor allem deswegen, weil, wie der Historiker Norbert Frei ausführt, sich parallel zur beschriebenen „öffentlichen Reflexion der eigenen Schuld“, die in der Errichtung des Holocaust-Denkmals ihren vorläufigen Höhepunkt fand, nach der Wiedervereinigung ein neues Selbstbewusstsein und ein neuer Ton in Deutschland feststellen lasse(4). Frei spricht gar davon, dass eine Umcodierung der Vergangenheit stattgefunden habe, in deren Mittelpunkt sich in letzter Zeit verstärkt die Deutschen als Opfer schöben. Und wer die zahlreichen Spiegel-Serien, Fernsehreportagen, Spielfilme, etc. zu Flucht und Vertreibung der Deutschen untersucht, wird Frei kaum widersprechen können. Im Unterschied zur Zeitgenossenschaft, die nun ihren Abschluss findet – lediglich 18% der heutigen Bevölkerung in Deutschland gehören zur Generation der Zeitzeugen, 45% sind dagegen nach 1972 geboren(5) – scheint die „Arena der Erinnerungen“(6) gerade erst eröffnet.

Dabei sieht es keineswegs danach aus, als ob in absehbarer Zeit das öffentliche Interesse an der NS-Vergangenheit nachließe, vielmehr scheint dessen mediale Präsenz immer neue Höhepunkte zu erreichen. Norbert Frei fasst dies angesichts der „Flut der fiktionalen Bilder und der forcierten Erinnerungsbücher, die uns derzeit” überschwemme, in der pointierten Formel: „Soviel Hitler war nie“ zusammen. Unter dem Motto: ‚Bevor es zu spät ist’, gehe es den Nachkriegsgenerationen nicht mehr nur um Gespräche mit Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung, sondern ganz unterschiedslos – um Begegnungen mit der Kriegsgeneration(7). Den daraus resultierenden neueren Formen des Erinnerns ist durchaus berechtigt Skepsis entgegen zu bringen, werde doch vielfach unreflektiert medial konstruierte Authentizität mit „historischem Wahrheitsgehalt“ gleichgesetzt – und nur bei oberflächlichster Betrachtung lassen sie sich als Ausdruck jener „Kultur der selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit" begreifen, „die sich seit Anfang der sechziger Jahre herausbildete und die Gesellschaft der Bundesrepublik jahrzehntelang prägte” (Frei 7).

Der (selbst-)aufklärerische Wert ist mehr als zweifelhaft, bieten doch Filme wie etwa „Der Untergang" und „Speer und Er" aus den Jahren 2004 und 2005 nach dem Urteil Inge Stephans und Alexandra Tackes „Verschleierungsstrategien" dar, die durch „Identifizierungsmechanismen dem deutschen Publikum Entschuldungs- und Entlastungsangebote machen"(8). Als ein wesentlicher Grund für die Popularität solcher Trivialwerke in der Gegenwartsgesellschaft erscheint mir das Phänomen, dass in der Bundesrepublik die offizielle Gedenkkultur, die sich wie eingangs beschrieben unter der Formel der „negativen Identität“ zusammenfassen lässt, und das private Erinnern, welches sich schon immer auf das eigene Leiden beschränkte, extrem unterschiedlich ausfallen.

 

4. Opa war kein Nazi (9)

Die 2002 von der Forschungsgruppe „Erinnerung und Gedächtnis" am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen durchgeführte Studie „Tradierung von Geschichtsbewusstsein“ kommt bei der Frage nach den möglichen Folgen und Problematiken dieser Differenz zwischen öffentlichem und privatem Gedächtnis für die dritte und mittlerweile vierte Nachkriegsgeneration zu interessanten Ergebnissen: Um die familiale Kommunikation über die Nazi-Zeit zu untersuchen, wurden Gespräche mit west- und ostdeutschen Familien geführt. Diese fanden in Form eines gemeinsamen Familiengesprächs und von Einzelinterviews mit mindestens jeweils einem Angehörigen der Zeitzeugen-, der Kinder- und der Enkelgeneration der Familie statt. Dabei wurden die Angehörigen der Zeitzeugengeneration nach ihrem biographischen Erleben der Zeit seit 1933 befragt; ihre Kinder und Enkel danach, was sie von ihren Eltern bzw. Großeltern über die Zeit seit 1933 gehört hatten.(10) Wie der Leiter der Studie Harald Welzer feststellt, haben die Ergebnisse der Untersuchung „eine gewisse Unruhe bei denjenigen hervorgerufen, die in der Bundesrepublik professionell mit Aufklären, Erinnern und Gedenken befasst sind“(11). So hat die Studie gezeigt, dass in zwei Dritteln der befragten Familien eine ausgeprägte Tendenz bei den Angehörigen der jüngeren Generationen zu beobachten ist, über ihre Großeltern „gute Geschichten aus böser Zeit“ zu erzählen: Geschichten über das Dagegen sein, das Mundaufmachen, über Zivilcourage, Geschichten aber auch über alltägliches Heldentum, das bis zum Erschießen sadistischer Offiziere und Verstecken jüdischer Häftlinge reicht. Ist das schon bemerkenswert genug, erscheint es noch weitaus interessanter, dass derlei „gute Geschichten" gar nicht aus den Erzählungen der Zeitzeugen selbst kamen, sondern eine eigenständige Leistung der Enkel und z.T. schon der Kinder darstellten, die die Geschichten in Richtung ihrer eigenen Sinnbedürfnisse umkonstruieren. Welzer nennt diesen Vorgang „kumulative Heroisierung“. Für das Geschichtsbild vom Nationalsozialismus und vom Holocaust in der deutschen  Gegenwartsgesellschaft bedeute das Phänomen der kumulativen Heroisierung für Welzer schlimmstenfalls die Restaurierung der tradierten, eigentlich längst abgelöst scheinenden Alltagstheorie, dass „die Nazis“ und „die Deutschen“ zwei verschiedene Personengruppen gewesen seien, dass „die Deutschen“ als Verführte, Missbrauchte, ihrer Jugend beraubte Gruppe zu betrachten seien, die selbst Opfer des Nationalsozialismus war. Dieses Geschichtsmodell werde gegenwärtig bedient durch die Renaissance der Sicht des deutschen Landsers und der deutschen Flakhelferin an der Heimatfront in Geschichtsfeatures – Infotainment – vom Format der ZDF-Serien „Hitlers Helfer“, „Hitlers Kinder“ etc. Es bestehe die Gefahr, dass aus einem Teil des deutschen Geschichtsbewusstseins über den Nationalsozialismus das historische und politische Moment verschwinde (Welzer 2002, S. 55ff).

Nüchtern betrachtet, sind Filme wie „Dresden – Das Inferno“ eine Reaktion auf die in Harald Welzers Worten „aus psychologischer Sicht nahezu unmögliche“ Aufgabe der Enkelgeneration, positive Identitätsbildungsprozesse und Identifikationen mit der Gesellschaft, in der man lebt, auf der Basis negativer historischer 'masternarratives' hervorzubringen. Für Welzer ist es notwendig, vor allem Schülern und Schülerinnen positive Identifikationsangebote zu machen, weil sie, wie die Essener Studie zeigt, ohnehin solche Identifikationen eigenständig suchen, gerade in einem thematischen Zusammenhang, in dem sie „mit normativ eindeutigen Vermittlungsangeboten“ überschüttet werden. Die populärkulturellen Identifikationsangebote in den Massenmedien Film und Fernsehen sind dabei oft alles andere als förderlich – gerade durch die unterschwelligen Ressentiments und der Gefahr einer Reetablierung veralteter Geschichtsmodelle. Zudem sind die neuesten Ausformungen der Populärkultur sowohl gegenüber den Opfern des Holocaust als auch gegenüber den mehr als 500 000 deutschen Todesopfern, den Millionen Vertriebenen und vielfach traumatisierten Zeitzeugen des Bombenkriegs als Affront anzusehen – „Warum wünscht man sich“, dass der mit einem Budget von 10 Millionen Euro bisher teuerste deutsche Fernsehfilm „Dresden – Das Inferno“ aus dem Jahr 2006 – „niemals gedreht worden wäre?“ fragt die Chefkritikerin des Berliner Tagesspiegel Kerstin Decker – und gibt die meines Erachtens das Dilemma nicht nur dieses Films beschreibende Begründung: „Weil es aus dem Leid der Opfer eine Farce macht“. Die Konzentration des Films auf die Liebesgeschichte eines englischen Piloten mit einer deutschen Krankenschwester übertrifft in seinem Kitschgehalt selbst die klebrigsten Produktionen Hollywoods. Oder wie es ein britischer Diplomat im Londoner Guardian trocken festhält:  „I didn't realize there was so much beautiful lingerie in Dresden in February 1945. They must have been able to do some wonderful things with parachutes" und abschließend „It's a bit melodramatic”, was in seinem Urteil ein wundervolles Beispiel für britisches Understatement ist.  

 

5 Sebald – Forte – Grass – Friedrich

Doch sind diese neuesten Ausformungen der Populärkultur nicht auch eine Reaktion auf das von Sebald in den Raum gestellte Versagen der deutschen Nachkriegsliteratur vor der Beschreibung der extremen, kollektiven Erfahrungen des Bombenkriegs? Ende der neunziger Jahre tauchte erstmals die Frage in der deutschen Öffentlichkeit auf, ob sich die deutsche Literatur des Themas Luftkrieg – und Luftkrieg meint hier eben das 'moral bombing' – gebührend und ausreichend angenommen habe. W. G. Sebald stellte die Frage, wie die Deutschen mit der Traumatisierung umgegangen seien, die die Zerstörung doch bewirkt haben müsse, und konstatiert das weitgehende Fehlen literarischer Darstellungen. Der Bombenkrieg scheine kaum eine „Schmerzensspur hinterlassen zu haben im kollektiven Bewusstsein der Deutschen"(12), die Zerstörung, die der Bombenkrieg bewirkt hat, verbleibe ein „schandbares, mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis"(13)

Dass der Bombenkrieg bisher keinen Platz im öffentlichen Bewusstsein gefunden hat, verneinen die wenigsten. Jede Beschäftigung mit diesem schmerzlichen Kapitel deutscher Geschichte „außerhalb der Umfriedung einer Stadtchronik stand unter Generalverdacht“(14). Und dass dies für ein ausgewogenes Geschichtsbild und für die Aufarbeitung des Geschehens nicht förderlich ist, zeigen die skizzierten Entwicklungen. Dieter Forte, selbst ein Überlebender des Bombenkriegs, weist in einem Gespräch mit Volker Hage vom Februar 2000 auf das Verschweigen des Bombenkriegs in der Gesellschaft und v.a. in der erzählenden Literatur hin: Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, dass sich in Zukunft eine neue Generation von Autoren in leichtfertiger Art und Weise der Thematik des Bombenkriegs annehmen könne, problematisiert er die gegenwärtige Behandlung des Themas in den Massenmedien:

Das wäre dann aber eine Folge davon, dass es jetzt keine Literatur darüber gibt. Da kann später jeder sagen, das wäre ein schönes Thema. Es entstehen ja auch schon Filme, in denen das alles sehr heiter gezeigt wird. Wenn ich nichts weiss über eine Zeit, und sie ist nicht wirklich gültig beschrieben, dann kann ich nachher sehr beliebig damit umgehen, Versatzstücke eines Frankenstein-Kinos. Das kann passieren, die üblichen Schnittmuster gibt es ja dafür. Aber nur, weil wir versagt haben, in aller Breite zu erzählen, was geschah.(15)

Volker Hage, gegenwärtig Redakteur im Kulturressort des Spiegels, trägt in seinem 2003 erschienenen Band Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg, eine überraschend hohe Anzahl an Werken der deutschen Literatur zusammen, die sich seit dem Ende des 2. Weltkrieges mit dem Luftkrieg auseinandersetzen. Mich überzeugt die Schlussfolgerung Hages, dass „die Lücke, die nicht nur von Sebald empfunden worden ist, […] weniger eine der Produktion als der Rezeption ist"(16). Zur Porträtierung der Stimmung einer Gesellschaft, die scheinbar nicht an den Luftkrieg erinnert werden wollte – in Deutschland wie offensichtlich auch in Österreich – habe ich ein Zitat von Thomas Bernhard ausgewählt:

Und kein Mensch weiß, wovon ich rede, wenn ich davon rede, wie überhaupt alle, wie es scheint, ihr Gedächtnis verloren haben, die vielen zerstörten Häuser und getöteten Menschen von damals betreffend, alles vergessen haben oder nichts mehr davon wissen wollen, wenn man sie darauf anspricht, und komme ich heute in die Stadt, rede ich doch immer wieder die Leute nach dieser fürchterlichen Zeit an, aber sie reagieren kopfschüttelnd. […] [E]s ist als redete ich mit einer einzigen verletzenden, und zwar geistesverletzenden Ignoration.(17)

Dieter Forte spricht davon, dass es „von Anfang an“ in der Gesellschaft „eine stille Übereinkunft des Vergessens“ gegeben habe und noch im Jahr 2000 beklagt er: „Eigentlich möchten die Leute nichts davon wissen. Man möchte doch lieber auf die Königsallee gehen und etwas Schönes einkaufen“ (Forte 53).

Seit der Jahrtausendwende gibt es nun eine ganze Reihe von literarischen und wissenschaftlichen Annäherungen, welche nicht nur auf das bisher in der Öffentlichkeit verdrängte Thema der eigenen Opfer des Bombenkriegs und der Vertreibung, sondern auch auf die Gründe der Vermeidung öffentlich über das Thema zu reden, ein neues Licht werfen. Als wirkungsmächtiger Beitrag zur Debatte wird nahezu allerorts Günter Grass’ 2002 erschienene Novelle Im Krebsgang angesehen, die den Untergang der Wilhelm Gustloff mit mehr als neuntausend ostdeutschen Flüchtlingen an Bord beschreibt. Der Nobelpreisträger Grass wandte sich als Erzähler dem Thema der Flucht und Vertreibung zu. Freilich könnte sich das, was in dem Buch über die nicht erfüllte „Aufgabe seiner Generation“ zu lesen ist (formuliert von einem „Alten“, der Grass stark ähnelt), sich genauso gut auf den Bombenkrieg beziehen:

Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos …(18)

Das „gemiedene Thema“, das Gefühl, es „dürfte nur jener und nicht dieser Toten gedacht werden“ – die Zitate sind ebenfalls aus Grass’ Novelle – bezeichnen genau das von Sebald in den Raum gestellte „schandbare Familiengeheimnis", das Verschweigen der eigenen Leiderfahrungen. – Es ergibt sich das Bild einer vielfach traumatisierten Gesellschaft, die vielleicht mit Hinblick auf das Ausmaß der Zerstörung auch gar nicht offen über das Erlebte sprechen konnte. Der bereits zitierte Dieter Forte, 1935 geboren und selbst Zeuge der Luftangriffe auf Düsseldorf, weist in Bezugnahme auf die Traumaforschung auf die „fast körperliche Vernichtung der eigenen Identität“ als Folge des erlittenen „Zivilisationsterrors“ hin: „Vielleicht braucht man ein lebenslanges Schweigen, um sich zu erinnern“, schreibt er in seiner Besprechung von Sebalds Essay. „Vielleicht ist die Amnesie die Voraussetzung, um sich dem fernen Land Apokalypse noch einmal zu nähern und seinen verdrängten und gerade deshalb so nachtschweren und übergenauen Bildern standzuhalten“ (Forte 31–35).

Forte selbst beschreibt in seiner Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern(19), dem wohl eindrucksvollsten und ausgewogensten literarischen Text über den Bombenkrieg, das in der Kindheit erlebte und erlittene Bombeninferno mit enormer Sprachgewalt. Eingebettet werden die Schreckensbilder der eigenen Kindheit in die multiperspektivische, weit ausgreifende Erzählung der eigenen Familiengeschichte, die nichts anderes ist als eine achthundertjährige Abfolge ständiger europäischer Katastrophen und Neuanfänge. „Zuflucht“ findet Forte im Erzählen, in der „sinnstiftenden Kraft von Geschichten“, die ihn zu einem Teil vergangenen Lebens mache – Gleichzeitig verwandele sich erlebte Gegenwart in Geschichten, die „erzählend der Zukunft anvertraut“ werden. 

Eine neue Dimension erreicht die ohnehin schon emotional geführte Debatte um das „Familiengeheimnis Bombenkrieg“ im Anschluss an die Veröffentlichung von „Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945“(20), der – so vom Ullstein-Verlag fälschlicherweise angepriesen – rsten umfassenden zeitgeschichtlichen Darstellung zum Bombenkrieg aus dem Jahr 2002. Sachlich bietet das Buch des nach eigener Auskunft Historikers und Geschichtenerzählers Jörg Friedrich nichts Neues. Wie schon die Werbung mit Hilfe der Bild  zeigt, will Friedrich stattdessen lediglich breite Leserkreise erreichen, indem er die Leser das Leiden der Zivilbevölkerung unter dem alliierten Bombardement im 2. Weltkrieg „hautnah und einprägsam miterleben lässt“. Die pathetische Bildersprache trug sicherlich zum enormen Verkaufserfolg des Buches bei – ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung waren nach Angaben des Verlags bereits 120 000 Exemplare verkauft. Völlig indiskutabel sind – so auch der Grundtenor der deutschen Besprechung – die zahlreichen sprachlichen Entgleisungen Friedrichs, die offensichtlich aus einer mangelnden Distanz zum Gegenstand herrühren. Als hätte Friedrich die Walsersche Methode der Andeutungen und doppeldeutigen Beschuldigung genauestens studiert, überführt er nicht nur semantische Umdeutungen aus dem Holocaust-Diskurs in den Bombenkriegsdiskurs wie der aus dem SS-Jargon stammende Ausdruck „Einsatzgruppe" für die 5. Bomber Group der Royal Air Force oder Krematorien für die Luftschutzbunker – nein, solche Umdeutungen bleiben unbestimmt und werden nicht weiter erläutert: Das Gegenteil von Aufklärungsarbeit ist festzustellen. Wer Churchill als „Schlächter" bezeichnet, provoziert geradezu unsachliche Reaktionen und behindert notwendige Diskussionen und Dialoge.

Es ist daher nicht überraschend, dass das Buch und die Provokation Friedrichs in England nicht auf taube Ohren stieß und scharf rezensiert wurde: Aus englischer Sicht wurde der Nationalheld Winston Churchill von einem deutschen Historiker, der die Deutschen als eigentliche Opfer des 2. Weltkriegs präsentiert, als „Brandstifter“ an den Pranger gestellt. Wie Lothar Kettenacker, stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London, in einer hervorragenden Aufarbeitung der Debatte in England feststellt(21), wurde vor allem die Bezeichnung Churchills als Kriegsverbrecher und die emotionale Sprache des Buches kritisiert:  Man nahm „vor allem an dem Teilabdruck in der Bild-Zeitung [Anstoß]" (Kettenacker 2003, S. 9). In England gewann man den Eindruck, Deutschland falle zurück in Deutungsmuster der unmittelbaren Nachkriegszeit und sehe sich selbst als eigentliches Opfer des Zweiten Weltkriegs. Doch die Emotionalität der Debatte in England legt nahe, dass die Provokation Friedrichs auch an ureigene englische Nationalmythen rührte: Wie Lothar Kettenacker feststellt, habe die Erinnerung an den Bombenkrieg, vor allem an die Art wie er geführt wurde:

in England wieder alte Wunden aufgerissen. Bisher dient die Beschäftigung der britischen Medien mit dem Zweiten Weltkrieg […]vor allem der Rückversicherung: Die Besinnung auf die Heldentaten der Kriegsgeneration soll über die triste Gegenwart hinweghelfen und die Nation mit Stolz erfüllen. Es ist ein Schwarzweißgemälde aus längst getrockneten Farben: Schwarze Kleckser auf der weißen Seite können da nur eine Geschichtsfälschung sein. (Kettenacker 12)

 

6. Fazit

Unbestritten ist wohl, dass die Aufarbeitung des Bombenkriegs in Deutschland – wie wahrscheinlich auch in England – enormer Anstrengungen und Energien bedarf, nicht zuletzt aufgrund der langjährigen Tabuisierung des Themas in Deutschland, die, wie ich zu zeigen versuchte, mitverantwortlich ist für die emotional aufgeladene Debatte, die deutsch-englischen Spannungen im Anschluss an Jörg Friedrichs Buch – und allgemein die oftmals inadäquate, unreflektierte Behandlung der Thematik. Wie eingangs bemerkt befinden wir uns gegenwärtig am Ende der Zeitgenossenschaft und damit einhergehend in einer lebhaften Diskussion um die Formen und Ausprägungen der Erinnerungskultur in Deutschland. Jeder Generationswechsel bietet die Chance, Verdrängtes hervorzuholen, Lücken im öffentlichen Gedächtnis zu füllen, die Form mit Inhalt zu füllen, um dabei der Vergegenwärtigung geschichtlicher Ereignisse möglichst gerecht werden zu können. Nicht vergessen werden darf, dass die Durchsetzung der Erinnerung an den Holocaust in Deutschland anfangs eine Sache einiger weniger war, wie etwa Rolf Hochhuths und des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer. Die öffentliche Erinnerung an den Holocaust ist ein ebenso fragiles Bild, die Singularität der Tat muss immer wieder herausgestrichen werden.

Bei aller Skepsis gegenüber den neuesten massenmedialen Ausformungen des Interesses an der Zeitzeugenschaft – vor allem seitens einer dritten und mittlerweile vierten Generation – legt dieses Interesse doch nahe, dass zukünftige Generationen nicht in historische Indifferenz und einseitige Heroisierungen flüchten, sondern die etwa von Forte „der Zukunft anvertrauten“ Erzählungen in ihrem historischen Kontext, in dessen Zentrum der Massenmord an den europäischen Juden steht, wahrnehmen, um eine aufrichtige Aufarbeitung des Bombenkriegs zu leisten. Zudem ist der Bombenkrieg ein Teil gemeinsamer europäischer Geschichte, dessen Aufarbeitung letztlich nur aus europäischer Perspektive angestrebt werden kann. Dies setzt jedoch zunächst den Abbau kollektiver und nationaler Mythen voraus, die sowohl in Deutschland wie auch in England den interkulturellen Dialog behindern.

 


Anmerkungen:

1 Vgl. hierzu: Christian Meier (2010): Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. München; Ulrike Jureit/Christian Schneider (2010): Gefühlte Opfer: Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart.
2 Hans-Ulrich Thamer (2006): Der Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur vor und nach 1989. In: Jens Birkmeyer/Cornelia Blasberg (Hgg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Bielefeld, S. 81-94.
3 Ulrike Jureit (2005): Generationen als Erinnerungsgemeinschaften. Das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« als Generationsobjekt. In: Dies. und Michael Wildt (Hgg.): Generationen. Zur Relevanz eines  wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburg, S. 244-265 [hier: S. 264f].
4 Norbert Frei (2005): 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. München.
5 Die Zahlen stammen aus: Jens Birkmeyer/Cornelia Blasberg (2006): Vorwort. In: Dies. (Hgg.): Erinnern des Holocaust?, S. 7-16 [hier: S. 8].
6 So der Titel einer Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 2. Oktober 2004 bis zum 27. Februar 2005. Vgl. hierzu die beiden hervorragenden Begleitbände: Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen (2004). Hrsg. von Monika Flacke. Berlin.  
7 Vgl. hierzu: Norbert Frei: Gefühlte Geschichte. DIE ZEIT  vom 21.10.2004, Nr.44, S. 3.
8 Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hgg.) (2007): NachBilder des Holocaust. Köln. 
9 Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall (2002): »Opa war kein Nazi« Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M.  
10 Vgl. hierzu: Ebd. S. 7-17.
11 Harald Welzer (2006): „Ach Opa!" Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Tradierung und Aufklärung. In: Birkmeyer/Blasberg (2006), S. 47-62 [hier: S. 50].
12 Zitiert nach der Gedruckten Fassung: W. G. Sebald (2005): Luftkrieg und Literatur. 5. Auflage [1. Auflage: 1999]. Frankfurt am Main, S. 12.
13 Ebd. S. 17
14 Lothar Kettenacker (Hg.) (2003): Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940- 1945. Berlin, S. 10.
15 Dieter Forte (2002): „Alles Vorherige war nur ein Umweg”. Gespräch über Luftkrieg und Literatur mit Volker Hage. In: Ders.: Schweigen oder Sprechen. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Volker Hage. Frankfurt a. M., S. 45-68 [hier: S. 68].
16 Volker Hage (2003): Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Frankfurt a.M., S. 119.
17 Thomas Bernhard (1988): Die Ursache. Eine Andeutung. München, S. 33. Erstauflage: 1975.
18 Günter Grass (2002): Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen.
19 Die einzelnen Teile: Das Muster, Frankfurt a. M. (Fischer): 1992. Der Junge mit den blutigen Schuhen, Frankfurt a. M. (Fischer): 1995. In der Erinnerung, Frankfurt a. M. (Fischer): 1998.
20 Jörg Friedrich (2002): Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945. Berlin.
21 Kettenacker (2003), siehe Anmerkung 14.

1.1. Europäische Identitäten, Europäische Realitäten

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For quotation purposes:
Christian Rink: Zur Diskussion um den Bombenkrieg im Kontext der Holocaust-Erinnerung. Europäische Geschichte, nationales Gedächtnisl – In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-1/1-1_rink17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-10-28