Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Mai 2008 |
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Sektion 1.1. |
Europäische Identitäten, Europäische Realitäten Sektionsleiter | Section Chair: Christoph Parry (University of Vaasa) |
Christoph Parry (University of Vaasa) [BIO]
Email: christoph.parry@uwasa.fi
Mit der Frage nach dem heutigen Identitätsempfinden der Bürger Europas griff die Sektion eine der zentralen Fragestellungen der Konferenz auf, nämlich der nach der Transformation von Gesellschaften. Das Problem der Diskrepanz zwischen bereits geschaffenen Realitäten europäischer Integration und einer allgemein sehr ambivalent empfundenen europäischen Identität sprach bereits EU-Kommissar Ján Figl’ in seiner Rede bei der Eröffnung der Tagung an. Die greifbaren Fortschritte der letzten 50 Jahre seien beachtlich, aber um das Bewusstsein eines europäischen Bürgertums zu fördern, müsse die Integration auch in symbolischen, immateriellen Bereichen spürbar werden. Dabei nannte er neben Kunst und Kino die Literatur als Bereich, wo mit dem Stoff einer europäischen Identitätsbildung naturgemäß und in der Praxis schon seit Jahrhunderten gearbeitet wird. Die Sektion nahm sich vor, das Verhältnis des gemeinsamen Erbes zum heutigen Identitätsempfinden, wie es in der Literatur zum Ausdruck gebracht wird, genauer ins Blickfeld zu bekommen.
Die Schwierigkeiten, sogar in einem friedlichen Bereich wie der Literatur zu einem gemeinsamen Identitätsverständnis zu finden, zeugen von einem weiterhin unbewältigten Konfliktpotential, das Europa als Schicksalsgemeinschaft trotz oder wegen des gemeinsamen Kulturerbes kennzeichnet. Sie zeigen auch, dass die Literatur gar nicht so ‚immateriell’ ist, sondern sich eher mit Schillers Begriff der „materiellen Idee“, den Teresa Cadete (Lissabon) gleich im ersten Vortrag einführte, erfassen ließe, da sie nicht nur registriert wie das Ideelle in das Materielle hineinwirkt, sondern durch die Gestaltung gesellschaftlicher Werte die Realität mitprägt. An drei beispielhaften literarischen Figuren, dem Gegensatzpaar Herr/Knecht, dem „Verbrecher aus verlorener Ehre“ und felicitas aut dignitas, dem Versuch, Glück und Würde zu vereinbaren, zeigte Frau Cadete einen Prozess auf, bei dem Gegensätze allmählich kulturell gezähmt und zu kommunikativ verhandelbaren Spielarten gemacht werden können.
Probleme ethnischer und sprachlicher Diversität
Das gemeinsame kulturelle Erbe und die gemeinsame Geschichte werden in den verschiedenen Regionen durchaus unterschiedlich wahrgenommen. Die Probleme, die sich daraus ergeben, wurden exemplarisch von Raluca Radalescu (Bukarest) aufgegriffen. Wie das oben erwähnte Paar Herr/Knecht, so ist die Empfindung des Eigenen unabdingbar mit der Wahrnehmung eines jeweils Anderen verknüpft. Für Europäer kann der Andere ebenso gut der europäische Nachbar wie der Nichteuropäer sein. Besonders hervorgehoben wurde die Relativität von Begriffen wie West und Ost oder gefühlsgeladene geographische Begriffe wie dem Balkan, dessen Bezug sich immer mehr erweitert, je mehr man sich von ihm entfernt.
Die Probleme, die durch den plötzlichen Wegfall des eisernen Vorhangs besonders akut wurden, haben zum Teil historische Gründe, die älter sind, als die Teilung des Kontinents. Ein Grund dafür liegt in der traditionellen Vielfalt der Region, die sich nur schwer und spät in eine nationalstaatliche Ordnung einzwängen ließ, und die in den Kriegen des 20. Jahrhunderts gewaltsam, aber nicht ohne Spuren zu hinterlassen, vernichtet wurde. Den kulturellen Gegensatz zwischen den klaren Identitätsvorstellungen und fest etablierten Narrativen des Westens und der Stimmenvielfalt des Ostens behandelt David Edgar in seinem vom Balkankonflikt überschatteten Drama Pentecost, das von Eman El Attar (Kuwait) vorgestellt wurde. Während internationale Experten in einer romanischen Kirche in einem abgelegenen südosteuropäischen Staat über den Verlauf europäischer Kulturgeschichte verhandeln, wird die Kirche von einer Gruppe Flüchtlinge besetzt. Diese, zu Terroristen gestempelt, werden kurzerhand erschossen. In diesem Raum ist der Identitätsdiskurs den Realitäten nicht gewachsen.
Die Stimmenvielfalt des europäischen Ostens wird, wie Eszter Probszt in ihrem Beitrag zeigt, auch in Terézia Moras Roman Alle Tage zum Schweigen gebracht. Der aus dem Osten in eine westliche Metropole übergesiedelte Übersetzer Abel Nema beherrscht zwar akzentfrei zehn Sprachen, kann aber seine eigene Identität in keiner der Sprachen zum Ausdruck bringen.
Zwei Referenten, Bernhard Kruse (Potenza) und Hermann Korte (Siegen), befassten sich mit dem Südtiroler Autor Joseph Zoderer, dessen Werke die Relativität von Identitätszuschreibungen erneut verdeutlichen. Herr Kruse erinnerte gleich zu Beginn seines Beitrags daran, wie wenig eine Minderheitensituation, wie die in Südtirol, vom schwelenden Konflikt in Bosnien trennt. Zoderers Romane zeigen, wie die Empfindlichkeit für ethnische Fragen nicht nur Schwankungen der kollektiven Konjunktur ausgesetzt ist, sondern auch von individueller Befindlichkeit abhängen kann.
Das Öffentlichkeitsdefizit
Mit dem Problem ethnischer Diversität, das im Europa der Nationen zugunsten jeweiliger Majoritäten nur scheinbar verdeckt wurde, müsste auch ein neues integriertes Europa zurechtkommen. Daraus ergibt sich nun die Frage, ob sich ein Gemeinwesen denken lässt, das ohne jede (ohnehin immer nur fiktive) ethnische Homogenität der nationalen Gemeinschaft entsprechen würde? Immerhin spricht, wie bereits Renan in seiner bahnbrechenden Rede vor der Sorbonne im Jahre 1882 feststellte und wie das Beispiel der Schweiz zeigt, nichts für die Annahme, dass zur gelungenen Nation unbedingt ethnische Homogenität gehören muss. Was Renan als wirklich konstitutiv für die Nation ansah, könnte im Prinzip auch auf ein übernationales integriertes Europa übertragen werden: ein gemeinsames Erbe und der beständige Wille, dieses hochzuhalten und als Gemeinschaft fortzubestehen. Zur Artikulation eines solchen Willens bedarf es jedoch einer wirksamen Öffentlichkeit.
Dass Europa bislang kaum über eine gemeinschaftsbildende und politisch wirksame Öffentlichkeit im Habermas’schen Sinne verfügt, dürfte ein Grund sein, weswegen trotz institutioneller Integration auf vielen Gebieten, die europäische Identität im Vergleich zu den herkömmlichen nationalen Identitäten noch heute eine recht schwammige Vorstellung bleibt. Zwar fehlt es nicht an Versuchen, eine solche Öffentlichkeit herzustellen. Doch zu einer echten transnationalen Wirkung kommt es eher selten. Das zeigte der Beitrag von Tessa Hauswedell (St. Andrews), in welchem sie drei europäisch gesinnte Journale untersuchte. Auch wenn die Blätter jeweils europäische Themen behandelten und auf den eigenen Seiten auch eine Art Europa-Diskussion betrieben, blieb der Dialog in der Regel auf die jeweilige Zeitschrift selbst und somit auf den traditionellen nationalen Öffentlichkeitsraum begrenzt.
Die narrative Konstruktion gemeinsamer Vergangenheit
Während der publizistische Diskurs demnach noch weitgehend im nationalen Rahmen geführt wird, weist die auf längerfristige Wirkung angelegte Belletristik allmählich den Keim eines grenzüberschreitenden Diskurses auf. Grundsätzlich kann sie im postnationalen Kontext auf ähnliche Weise Identitätsmuster herstellen, wie sie es im neunzehnten Jahrhundert für die sich befestigenden Nationen tat. Auch gibt es Beispiele dafür, wie schon im neunzehnten Jahrhundert auf dem Höhepunkt der nationalromantischen Mode, dieselben schriftstellerischen Mittel, die den nationalen Diskurs vorantrieben, auch in den Dienst eines übernationalen Narrativs gestellt wurden. Das konnte Daniela Puplinkhuizen (Ghent) am Beispiel von Conrad Ferdinand Meyers Novelle Der Heilige mit seinem zeittypischen historistischen Diskurs überzeugend demonstrieren.
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein romantischer Historismus in der Art des 19. Jahrhunderts, obwohl in der Unterhaltungsliteratur nach wie vor äußerst produktiv, als Vehikel für Identitätsmuster kaum noch brauchbar. Nach den Erfahrungen von zwei Weltkriegen und dem Trauma der Teilung durch den Eisernen Vorhang bedarf es eines differenzierteren Umgangs mit Vergangenheit. Weder die heldenhafte Nation selbst noch ihre einzelnen Vertreter können mehr eine echte Subjektposition einnehmen. Dennoch fällt der Literatur nach wie vor die Aufgabe zu, die narrative Konstruktion der gemeinsamen Vergangenheit aktiv mitzugestalten. Christian Rink (Oulu) stellte diese Problematik am Beispiel der literarischen Darstellung des Luftkriegs dar. Durch eine aufschlussreiche Gegenüberstellung historischer und literarischer Diskurse konnte gezeigt werden, dass der literarische Diskurs mit dem Leiden differenzierter umgehen kann.
Christoph Parry (Vaasa) zog eine Parallele zwischen dem augenscheinlichen Verlust nationaler Autonomie in der Nachkriegszeit und dem Aufkommen poststrukturalistischer Positionen, die sowohl in der Theorie als auch in der literarischen Praxis auf eine Infragestellung der Subjektposition hinauslaufen. Am Beispiel von W.G. Sebalds Austerlitz mit seinem synthetischen Helden, der als Brennpunkt gesammelter Erfahrungen des 20. Jahrhunderts dient, und Paavo Rintalas die Grenzen von Zeit und Raum auflösender Hommage an Johannes Bobrowski, Sarmatian Orfeus wurde gezeigt, wie durch Anhäufung von Intertextualität ein europäischer literarischer Raum geschaffen oder fortgesetzt wird.
Dass es sich dabei mehr um eine Fortsetzung als um die Schaffung von neuem handelt, ging aus dem Beitrag Liisa Saariluomas (Turku) zu Milan Kundera hervor. Kundera beklagt den Kulturverlust Europas und sieht die europäische Identität vor allem in seiner literarischen Tradition, insbesondere in der Tradition der paradigmatischen europäischen Gattung des Romans gegeben.
Europa und die Welt
Ist denn, wie es aus dieser Perspektive scheint, die europäische Identität als kulturelle Identität nur noch selbstbezogen, vergangenheitsorientiert und vom eigenen Untergang überzeugt? Das wäre eine zu negative Schlussfolgerung. Was das europäische Erbe vor dem endgültigen Untergang wohl bewahren wird, ist die Tatsache, dass dieses Erbe weltweite Verbreitung gefunden hat und, angereichert durch Impulse von außen, immer wieder zurückfließt nach Europa. Obwohl der zentralen Bedeutung der Kolonien für die Strukturierung der europäischen Identität kein eigener Beitrag gewidmet war, rückte der Kolonialismus – offensichtlich unvermeidlich – immer wieder in den Mittelpunkt der Diskussion.
Die Identität Europas als kohärente Einheit wird offenbar schon seit Jahrhunderten stärker in anderen Erdteilen wahrgenommen als in Europa selbst. Das gilt sowohl für die vormals von verschiedenen europäischen Kolonialherren beherrschten Völker als auch für die von Europäern besiedelten Erdteile. Aufschlussreich waren in dieser Beziehung die auf statistischen Erhebungen basierenden Einsichten Peter Pabischs (Albuquerque), wonach sich die überwältigende Mehrheit amerikanischer Staatsbürger europäischer Abstammung kulturell zur europäischen Herkunft bekennt. Ob das wirklich ein Indiz ist für einen gemeinsamen transatlantischen Kulturraum oder ob nicht vielmehr der nostalgische Blick auf Europa Wunschvorstellungen an die Stelle von Identitäten setzt, konnte nicht entschieden werden. Wie dem auch sei, das häufige amerikanische Bekenntnis zu den europäischen Wurzeln zeigt, dass kulturelle Identitäten und politische Loyalitäten nicht unbedingt identisch sein müssen. Daraus eröffnet sich auch für ein künftig vereintes Europa die Perspektive, dass sich die politische Identität als Europäer mit regionalen und lokalen Identitäten vereinbaren lässt.
Was die Melancholie eines Sebald oder auch Kundera mit der Nostalgie amerikanischer Staatsbürger verbindet, ist der Bezug auf ein Europa der Vergangenheit. Auch jenes Europa war multikulturell. Auf den Ruinen des in zwei Weltkriegen zerstörten Europas ist inzwischen mit der Zuwanderung aus anderen Erdteilen eine neue Multikulturalität entstanden. Das bringt neben neuem Konfliktpotential auch Chancen mit sich. Diesem sich verjüngenden Europa war der abschließende Beitrag von Marja-Leena Hakkarainen (Turku) gewidmet. Er registrierte beispielhaft am Werk Emine Sevgi Özdamars und Yoko Tawadas die immer lauter werdende Stimme der Migrantinnen und Migranten innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Es ist eine Stimme, die eine noch durch die Außenperspektive mitbestimmte wohltuende ironische Distanz zum heutigen deutschen und europäischen Alltag mit einem selbstbewussten Anspruch, dazu gehören zu wollen, kombiniert.
In drei Tagen intensiver Arbeit und lebhaftester Diskussion gelang es der Sektion, verschiedenste Facetten der Problematik europäischer Identität zu beleuchten und vielleicht auch einen kleinen Schritt auf dem Weg zur europäischen Identitätsfindung zu tun.
1.1. Europäische Identitäten, Europäische Realitäten
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