TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Mai 2010

Sektion 1.10. Amazonien – Weltregion und Welttheater
Sektionsleiter | Section Chair: Willi Bolle (Universidade de Sao Paulo, Brasilien)

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Sektionsbericht 1.10.

Amazonien – Weltregion und Welttheater

Sektionsleiter | Section chair: Willi Bolle (Universidade de Sao Paulo, Brasilien) [BIO]

Email: willibolle@yahoo.com

 

Von den zehn im Programm angekündigten Vorträgen wurden sechs von den ReferentInnen gehalten, dazu der Vortrag des Sektionsleiters. Günter Pressler und Mário Silva Leite konnten nicht kommen, da ihnen das Flugticket von den brasilianischen Forschungsagenturen nicht bezahlt wurde. Priscila Faulhaber hatte kurzfristig ein Stipendium in die USA erhalten und war deshalb nicht abkömmlich. Rosa Acevedo Marin und Alfredo Wagner hatten kurz zuvor eine Konferenzreise nach Europa unternommen und konnten keine zweite in demselben Semester beantragen; der Vortrag dieser beiden Kollegen zusammen mit dem Bild- und Kartenmaterial wurde trotzdem von Neusa Pressler - zusätzlich zu ihrem eigenen Vortrag - präsentiert.

Am ersten Tag fanden der Einführungsvortrag des Sektionsleiters und vier von den vorgesehenen fünf Präsentationen der ReferentInnen - alle in deutscher Sprache - statt. Die vom Sektionsleiter vorgeschlagene Perspektive, Amazonien als Weltregion - d.h. auf seine Relevanz in der Weltgeschichte - hin zu untersuchen, zog sich wie ein roter Faden durch alle Vorträge dieses Tages. Das ihnen Gemeinsame war eine Vorstellung Amazoniens in entscheidenden Momenten der Weltgeschichte: angefangen bei dem grundlegenden Faktum und Text, der ersten Entdeckungsreise von Francisco de Orellana im Jahre 1542, aufgezeichnet von Gaspar de Carvajal (Bolle). Es folgte der Bericht über eine für das späte 19. Jahrhundert typische ethnologische Erkundung, die von Paul Ehrenreich (Joachim Tiemann). Die beiden dazwischen liegenden Jahrhunderte konnten nur kurz gestreift werden, dafür aber kam die Zeit des Kautschukbooms Ende des 19., Beginn des 20. Jahrhunderts etwas eingehender zur Sprache (Bolle). Danach eine Darstellung Amazoniens in der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts - am Paradigma Robert Musil (Kutzenberger) -  und schließlich die Analyse eines sehr relevanten literarischen Amazonasbildes in der aktuellen, an der Schwelle des 20. zum 21. Jahrhundert verfassten Literatur -  im Werk von Karen Tei Yamashita (Vejmelka).  Abgerundet wurde das Ganze durch den Vortrag von Ulrike Tiemann, die einen Erfahrungsbericht über eine 2006 am Rio Negro durchgeführte kulturgeographische Feldforschung präsentierte, was auch eine Überleitung zum zweiten Tag bildete, an dem die Untersuchung der Weltregion Amazonien unter dem Aspekt des Territorialen in den Vordergrund trat.

Am zweiten Tag fanden zwei von den angekündigten fünf Vorträgen statt - beide in englischer Sprache. Die territoriale - schon am Vortag präsentierte Idee - wurde von Edna de Castro wieder aufgenommen und mit dem zentralen Kongressthema Wissen, Kreativität und Transformation von Gesellschaften verknüpft. Die Varietäten des Wissens und die in unserer Zeit in Amazonien stattfindenden Transformationsprozesse wurden konkret anhand einer Studie über die Typologie der Städte in der Region vorgestellt (entstanden aus verschiedenen historischen Kontexten und ökonomischen Zyklen - gelegen an Flüssen, Straßen bzw. Landesgrenzen). In demselben territorialen Rahmen untersuchte dann Neusa Pressler aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive die Diskurse, Bilder und Vorstellungswelten Amazoniens - dargestellt an prägnanten Beispielen des Öko-Business. Im Mittelpunkt stand dabei die problematische Art und Weise der Kontakte zwischen den einheimischen Produzenten und den internationalen Agenten und Akteuren - in letzter Instanz dem Weltmarkt. Ergänzend dazu wurde von Neusa Pressler abschließend das Projekt der neuen sozialen Kartographie (Wagner und Acevedo) vorgestellt. Dadurch konnte die Frage der Territorialität durch wichtige Neuansätze vervollständigt werden; in erster Linie durch Karten, in denen Arbeiter und Arbeiterinnen Amazoniens ihre eigene territoriale Erfahrung aufzeichnen, die sehr unterschiedlich ist im Vergleich zu der von Managern oder Intellektuellen.

Durch die Gesamtheit der an beiden Tagen gehaltenen Vorträge wurde - wie es auch unsere Zuhörer wahrnahmen - in kompakter, abwechslungsreicher und anregender Form ein Grundwissen über Amazonien als Weltregion und Welttheater vermittelt.

Die theatralische Dimension Amazoniens kam dabei in dreifacher Weise zum Ausdruck. Zunächst die Vision Amazoniens als „theater of war“, wie Willi Bolle es mit Blick auf die zahllosen Schlachtenszenen in Carvajals Bericht über die Konquistadoren eingeführt hatte. Das imposante Teatro Amazonas in Manaus als architektonisches Zeugnis der Zeit des Kautschukbooms und des Anspruchs, ein „Paris in den Tropen“ zu schaffen ist dazu nur auf den ersten Blick die kulturelle, „humanistische“ Replik: so in Werner Herzogs Film Fitzcarraldo als Gegenstück zu Aguirre. Es gibt jedoch, wie Walter Benjamin uns lehrt - und auch Robert Musil -, kein Dokument der Kultur, das nicht zugleich ein Dokument der Barbarei ist. Allgegenwärtig ist das Theatralische insbesondere in den verschiedenen sozialen Akteuren, die auf diesem Territorium ihre Rolle gespielt haben und weiter spielen - sowohl in lokalen als auch in weltgeschichtlichen Zusammenhängen.

Nach dieser Zusammenfassung nun ein Blick auf die Kategorien, die neben denen der Weltregion und des Welttheaters im Mittelpunkt des Dialogs zwischen den Teilnehmern standen.

Anfangs- und Endpunkt waren die Kartographie und Kartierung der Region. Von Gaspar de Carvajals erster europäischer Bestandaufnahme der Region bis zu den Karten der Gemeinden von Indigenen.

Grundlegend für das Verständnis Amazoniens ist auch die Mythologie: von den ersten Berichten der Indianer - aufgezeichnet von Carvajal über die Amazonen (die der Region ihren Namen gaben) – bis zu der Häufung von Mythologien verschiedenster Provenienz im Roman von Karen Tei Yamashita.

Amazonien als diskursive Konstruktion: die verschiedenen Diskurse über die Region,  angefangen bei den Chronisten der frühen Neuzeit, über die Ethnologen, über die Weltliteratur (Robert Musil), über gegenwärtige SchriftstellerInnen (Yamashita), bis zu den Diskursen der Vermarkter Amazoniens und nicht zuletzt den Stimmen der Indigenen.

Eine besondere Herausforderung an die Forscher wie an die Akteure gesellschaftlicher Veränderungen ist dabei die Fähigkeit zur Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Diskursen. Welche Möglichkeiten bestehen, die Stimmen der Amazonasbewohner zu hören und einzufangen, gerade auch im aktuellen Dialog mit europäischer Wahrnehmung? Konkret wurde das insbesondere auch durch den Bericht von Ulrike Tiemann vorgeführt, die zusammen mit anderen deutschen StudentInnen mit Interviews auf der Grundlage eines Fragebogens den direkten Kontakt zu den Bewohnern des Amazonasgebietes herstellte. Wie steht es mit der Nutzung der natürlichen Ressourcen wie Wald, Land und Wasser durch die indigenen Akteure? Und wie sind ihre Zukunftsperspektiven? Können sie in der Region bleiben oder werden sie eines Tages auswandern (müssen)? Landflucht und Vertreibung vom Lande kamen dann auch am zweiten Tag im Beitrag von Edna de Castro zur Sprache.

Ein zentrales Moment, das Amazonien zur Weltregion und zum Welttheater macht, sind die natürlichen Ressourcen: von dem Edelgewürz Zimt über Metalle wie Gold (Mythos des Eldorado) bis zu Kautschuk und Matacão (eigentlich „Geröllgestein“), das zum mythologischen Super-Plastik im Roman Yamashitas wird und darüber hinaus zum so genannten Bioschmuck als Reiz des „unberührten Urwalds“.

Immer wieder stellte sich auch mit den verschiedenen Blicken auf Amazonien „von außen“ die Frage der kulturellen Perspektive und der Notwendigkeit eines „Blickwechsels“. Der Eurozentrismus des imperialen 19. Jahrhunderts - so wie er in den Aufzeichnungen Paul Ehrenreichs zu Tage kommt - ist eindeutig datiert und war schon im frühen 20. Jahrhundert überholt. Einiges von der Skepsis dieses Brasilien-Reisenden in bezug auf die Zukunft des Landes ist aber durchaus noch aktuell. Der Blick von außen auf Amazonien ist nicht weniger wichtig für die Erkenntnis Amazoniens als der Blick von innen. Zu fördern ist der Blickwechsel zwischen beiden Perspektiven.

Die grundlegende Frage des Wissens wurde von Edna de Castro erläutert mit verschiedenen in bezug auf das akademische Wissen „anderen“ Epistemen und Wissenssystemen. Ein konkretes Beispiel dafür ist die Initiative einer „Universidade da Floresta / Urwalduniversität“, in der das Verhältnis zwischen indigenen und modernen urbanen „Lehrern“ und „Schülern“ sich umkehren würde.

Die Weltregion Amazoniens, so stellten wir fest, wirkt bis in weit entfernte Kulturen und manifestiert sich auch in dem so europäisch wirkenden modernen Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in dem Musil, vermittelt durch Lévy-Bruhl, das Denken der „Naturvölker“ bzw. der „sociétés inférieures“ (man beachte den Unterschied zwischen der deutschen Übersetzung und dem französischen Original) oder auch das „wilde Denken“ (Lévi-Strauss) aufnimmt und das Barbarische, das Menschenfressertum, das Mörderische im zivilisierten europäischen Menschen zwischen dem Ersten Weltkrieg und Auschwitz wiederentdeckt.

Das Medium der Literatur zur Beschreibung der Lebensverhältnisse der Bewohner Amazoniens schärft die Sensibilität für den Kontakt mit den realen Amazonasbewohnern und verschafft diesen größere gesellschaftliche Visibilität, auch außerhalb der Region. Dazu kommt als besondere Qualität der Literatur ihr selbstreflexives Potential, verbunden mit der Reflexion über Sprache als Medium der Verständigung.

Wie steht es um das Verhältnis des Urbanen und des Regionalen in Panamazonien? Edna de Castro berichtete von einer z. Z. laufenden Studie über dieses Problem und der Suche nach der dazu am besten geeigneten Methodologie. Die Erfassung der Spezifik dieser Städte gehört dazu ebenso wie ihre Einbindung in ihre Umwelt und ihre historische und zeitgeschichtliche Kontextualisierung. Der Begriff der Territorialität spielt eine wichtige Rolle für die Erfassung individueller und sozialer psychischer Prozesse im kulturellen Kontext. So kann die Bestimmung der sozialen Akteure und ihrer Räume vor allem in ihrer eigenen Wahrnehmung verbessert werden. Ein vorzügliches Beispiel dafür ist das Projekt der neuen sozialen Kartierung Amazoniens, durchgeführt von den Bewohnern selbst (siehe den Bericht von Wagner und Acevedo).

Der Gegensatz zwischen der Mentalität der lokalen Produktion und der Logik des Weltmarkts wurde an einem konkreten Beispiel von Neusa Pressler dargestellt. In der Vermarktung der Açaí-Frucht sollen die Palmblätterkörbe durch Plastiktransportbehälter ersetzt werden - angeblich „aus hygienischen Gründen“. Dadurch aber werden hunderte von Familien, die von der Herstellung dieser Körbe leben, aufs empfindlichste getroffen. Die Logik und Rationalität des Weltmarkts als die des Stärkeren prallt hier mit Good-will-Konzepten wie sustainable development zusammen. Ob sich als dritter, vermittelnder Faktor die Rationalität emanzipatorischer intellektueller Diskurse in der Realität effektiv durchsetzen kann, ist in jeder neuen Situation eine neu sich stellende Frage.

Als Fazit dieser zwei Tage Vorträge und Diskussion ließen sich eine beachtliche Qualität der präsentierten Texte, ein intensiver Gedankenaustausch und eine sehr gute Diskussionsatmosphäre in der Gruppe festhalten. Dies kam auch dadurch zum Ausdruck, dass in einer abschließenden Gemeinschaftsreflexion eine Skizze zu dem vorliegenden Bericht erstellt wurde. Ausgehend von dieser sehr positiven Erfahrung plant die Gruppe weitere Treffen. Als nächstes wurde eine Konferenz im Mai 2009 in Florianópolis (Brasilien) über die Beziehungen zwischen dem Urbanen und dem Regionalen vorgeschlagen.

Der Rahmen, den wir in Wien für die Arbeit in unserer Sektion vorfanden, war sehr förderlich: wichtige intellektuelle Anregungen, insbesondere der Plenarvortrag von Peter Horn über „Die Wissensgesellschaften und ihre Ungleichheiten“, Einbeziehung von führenden Politikern, internationalen Institutionen und der allgemein interessierten Öffentlichkeit, sowie vorzügliche Vorbereitung und Logistik durch Herbert Arlt und seinem Team vom INST. Dafür unseren herzlichen Dank.

Nicht zuletzt gilt unser Dank auch unserem Publikum. Es war zahlenmäßig klein, dafür aber weltumspannend, was Herkunft und Tätigkeitsfeld betrifft: von Alaska über Wien bis Sibirien und Korea. Weltumspannendes Interesse zu erwecken - wenn auch in einem ganz bescheidenen Rahmen –, das war ein schönes Feedback für die Teilnehmer und den Organisator der Sektion „Amazonien – Weltregion und Welttheater“.


1.10. Amazonien – Weltregion und Welttheater

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For quotation purposes:
Willi Bolle: Sektionsbericht 1.10: Amazonien – Weltregion und Welttheater - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-10/1-10_name17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-05-30