Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 1.4. | New Multi-society and Cultural Integration in Asia and Europe | Die neue multikulturelle Gesellschaften und die kulturelle Integration in Asien und Europa Sektionsleiterin | Section Chair: Rhie Hae Za (Kunsan National University, Korea) |
Plurale politische Identität als Norm der Europäischen Union
Helmut Wagner (Berlin) [BIO]
Email: helwag00@yahoo.de
Inhalt
I. Plurale politische Identität als Norm der Europäischen Union
Unlängst ist in einer Berliner Tageszeitung die angeblich aufsehenerregende Nachricht zu lesen gewesen, dass gegenwärtig so gut wie keine Franzose bereit wäre, sein Leben für Frankreich hinzugeben.(1) Ich habe diese Auskunft eher als überaus verständlich empfunden, wenn auch als hinterfragungsbedürftig. Offensichtlich fühlen sich die Franzosen derzeit von niemand bedroht, weshalb sie auf die Fragestellung eher verständnislos als positiv reagiert haben. Ähnlich dürfte es den Bürgern der Provence, von Bayern oder auch dem ungarischen Komitat Hajdú-Bihar ergehen, wenn sie gefragt würden, ob sie bereit wären, für ihre jeweilige Region zu sterben. Die Frage ist unsinnig geworden, erübrigt sich, weil sie sich zwar früher einmal gestellt hat, heute aber im Ernst so nicht mehr aktuell ist. Die erwähnte Reaktion bestätigt vielmehr die Vermutung, dass alte Identitäten und Loyalitäten heute durch die Integration Europas wie seinerzeit durch die nationale Einigung zurücktreten, verblassen und durch neue ersetzt werden.
Was ich indes für hinterfragungsbedürftig halte, ist, ob die erwähnte Einstellung denn nun ein Zeichen dafür ist, dass es mit der Identität der Franzosen und Bayern wie der Bewohner der Regionen Provence und Jütland wirklich schlecht bestellt sei, ob sie tatsächlich in die Mottenkiste gehört. Es könnte ja doch sein, dass mit der Identitätsveränderung insofern eine Rückkehr zur Normalität zum Ausdruck kommt, als die nationale Identität nicht mehr die ausschließliche ist, sondern dass sie mit anderen, mit lokalen, regionalen und supranational-europäischen Identitäten nicht nur rivalisiert, sondern durchaus zu vereinbaren, ja, sogar gleichwertig ist. Dieser Frage werde ich im Folgenden nachgehen.
Ich werde zunächst einmal darlegen, was ich – nicht ganz im Einklang – mit Rainer M. Lepsius, Thomas Meyer und Heinrich Schneider unter nationaler und europäischer Identität im politischen Sinne verstehe. Ich werde sodann auf die existentiellen und historischen Gründe eingehen, die meiner Ansicht nach überhaupt zur Ausbildung nationaler und dann europäischer Identität geführt haben. Und ich werde schließlich argumentieren, dass in der Gegenwart und Zukunft ein pluralistisches Verständnis von politischen Identitäten nicht nur sinnvoll, sondern nachgerade geboten ist.
II. Was ist unter politischer Identität zu verstehen?
Wenn wir Rainer M. Lepsius folgen, dann liegt eine kollektive Identität dann vor, „wenn eine Gruppe von Individuen sich mit den gleichen Objekten identifiziert und sie sich dieser Gemeinsamkeit außerdem auch bewusst ist.“(2) Bei den “Objekten“ handelt es sich sowohl um Institutionen und Persönlichkeiten wie um Traditionen und Zukunftsvisionen, die den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft aus welchen Gründen auch immer lieb und teuer sind, sie jedenfalls nicht voneinander trennen, sondern sie einen. Dem hat Thomas Meyer hinzugefügt, dass politische Gemeinwesen, insbesondere demokratische, seiner Ansicht nach nur Bestand haben, also “Legitimität und Stabilität gewinnen“ könnten, wenn sie eine ihre Bürger “verbindende politische Identität ausbilden“ würden.(3)
Thomas Meyer ist, was die kulturelle Identität der EU angeht, sehr skeptisch. Er schreibt: „Es ist nicht die Kultur, sondern die Politik, die sich als Grundlage der Identitätsbildung erweist, auch wenn diese nüchterne Bilanz der Identität ihren Glanz nehmen mag. Kulturelle Identität ist ein schlechter Berater bei der Suche nach Antworten auf die Frage, was politisch zusammengehören kann und will.“(4) Damit mag er sogar Recht haben, jedenfalls was die EU betrifft. Er hat im Hinblick auf die politische Identität einzelner Bürger drei Charakteristika ausgemacht, die für sie konstitutiv seien. Es handelt sich dabei in meinen Worten:
stehenden politischen Organisationsform;
Im Schlusskommentar seiner Abhandlung kommt zum Ausdruck, was Thomas Meyer, wenn ich ihn richtig verstanden habe, für die Aufgabe der Identitätsstifter ansieht: „Die Suche nach einer kulturellen Identität des Kontinents kann . . . guten Gewissens eingestellt werden. Es wird sich kein Mangel als Folge dessen zeigen. Die Hervorbringung einer politischen Identität der Europäer aber . . . ist zur Lebensnotwendigkeit für Europa in einer globalisierten Welt geworden. Sie zu erzeugen, ist eine der großen Zukunftsaufgaben Europas.“(6) Ich bin geneigt, den Spieß umzudrehen und zu sagen: Nicht die Schaffung einer noch so einleuchtenden politischen Identität ist die Ursache für eine geglückte Gemeinschaftsbildung, sondern eine geglückte Gemeinschaftsbildung bringt unter der Hand, d.h. nahezu automatisch und von selbst, eine weithin geteilte politische Identität zustande, über die es, wenn sie einmal da ist, gar keinen Grund gibt, sich zu streiten. Sie versteht sich nämlich von selbst.
Mit anderen Worten: Durch keine noch so gut inszenierte Identitätsstiftung kann eine verunglückte Gemeinschaftsbildung gerettet werden. Da mutet Thomas Meyer den Identitätsstiftern, nämlich den Intellektuellen, bei weitem zu viel zu. Sie können bestenfalls das kommentieren, was ist und was doch nur durch Zwang zusammenzuhalten ist, nicht aber retten, was doch nicht zu retten ist – wie am Beispiel der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei zu ersehen. Deren künstliche Identitäten haben trotz allen intellektuellen und politischen Aufwandes, sie zu schaffen und zu bewahren, nicht geleistet, was ihre Erfinder sich von ihnen erwartet haben. Was dafür spricht, dass nur Identitäten, welche von der Mehrheit der Bürger als existentiell empfunden werden, auch von Dauer sind. Das heißt, die Identitäten müssen mit den Erfahrungen und Erwartungen der Bürger im Einklang sein. Anderenfalls sind sie flüchtig.
Anders, weitaus kritischer ist Heinrich Schneider an das Problem der Identitätsbeschaffung herangegangen. Wie Lepsius sagt auch er, dass eine politische Gemeinschaft im vollen Sinne des Wortes einer politischen Identität bedürfe, die sich auf mehr als auf „Nutzenerwartungen und Interessenkonstellationen“ beruft.(7) Wie Meyer sagt auch Schneider, dass die politische Identität der EU nicht „einfach aus der kulturellen Tradition abgeleitet“ werden kann, sondern dass sie vielmehr politisch gewollt, „bestimmt und verantwortet“ werden muss.(8) Nach ihm sind es jedoch drei präzisiere Faktoren, die allein imstande sind, politische Identität zu begründen:
Erstens, die Solidarität von Menschen, die aus sachlich-materiellen und theoretisch-ideellen Gründen zusammenleben und zusammenwirken wollen;
zweitens, die Abgrenzung zu anderen Kollektiven. Im Sinne von Niklas Luhmann konstituiert sich jede Identität über Negationen(9); und
drittens, die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft. Soll heißen, dass diese als “kollektiver Akteur“ Erfolg gehabt hat oder zu haben verspricht.(10)
Weiterhin aber stellt sich Schneider mit Jürgen Habermass die Frage, ob moderne „komplexe Gesellschaften“ überhaupt fähig sind, eine „vernünftige Identität“ auszubilden.(11) Habermasens Antwort darauf ist eindeutig: „Die Indienstnahme kultureller Identitätsvergewisserungen und öffentlicher politischer Diskussionen“ dient lediglich der „Legitimationsbeschaffung für das, was auf Grund von Interessenkalkulationen und machtgestütztem Bargaining ohnehin geschieht.“(12) Es handele sich bei dergleichen Bemühungen also um die „Vorspielung kommunikativer Beziehungen“, wobei das konkrete politische System „als Lebenswelt drapiert“ werde.(13) Aber selbst eine so fundamentalkritische Sicht aller Identitätsbeschaffung kommt nach Schneider nicht umhin, die politische Identität, sie in ihrem Wahrheitsgehalt relativierend, als notwendiges Mittel konkreter, sich wandelnder Gemeinschaftsbildungen ins wissenschaftliche Kalkül einzubeziehen.
In diesem Sine werde ich mich denn auch im Folgenden jeder Bewertung der politischen Identität, sowohl ihrer Kritik wie ihrer Schönfärberei, enthalten, sondern werde lediglich untersuchen, inwieweit sie historisch bedingt ist, und konstatieren, inwiefern sie sich nachweisbar wandeln kann – ja, wandeln muss.
III. Die Erfindung des Nationalstaates
Es ist wohl in der Tat ratsam, eingangs zunächst einmal zu klären, wie und wodurch es überhaupt dazu gekommen ist, dass die Nation unter vielen anderen Institutionen in der jüngeren Geschichte Europas eine so herausragende Rolle gespielt hat; dass sie in einer bestimmten Zeitperiode unter ganz bestimmten Umständen zum höchsten politischen Bezugspunkt avanciert ist; dass sie mit nachgerade religiöser Inbrunst verehrt worden ist; ja, dass so viele Menschen gerade für sie, verstanden als Vaterland, freiwillig ihr Leben hingegeben haben. Dies alles, obwohl es sich bei der Nation doch, wie uns höchst angesehene Gelehrte, wie etwa Ernest Gellner(14), mit guten Gründen versichern, nur um ein reines “Konstrukt“, ein Phantasiegebilde also, gehandelt habe, das sich einige wenige ausgedacht und das doch Millionen so ernst genommen haben, dass sie bereit gewesen sind, ihr Leben für ihr Vaterland zu opfern. Wie das möglich gewesen ist, das wird von den Nationen-Verächtern freilich nicht verraten.
Die Antwort auf die Frage, wieso die Nation so hohe Opferbereitschaft ausgelöst hat, ist, denke ich mir, relativ einfach. Menschen sind allenfalls bereit, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, wenn es um ihre eigene oder ihrer Angehörigen Existenz geht; wenn ihre Sprache, ihre Eigenart und ihre Sitten in Gefahr sind; wenn ihr Grund und Boden, ihr Hab und Gut bedroht ist oder bedroht zu sein scheint. Nur dann, wenn sie davon überzeugt sind, dass alles das oder doch einiges davon auf dem Spiele steht, sind sie bereit, dem Appell, die heiligen Güter der Nation zu verteidigen, freiwillig und unter Einsatz ihres Lebens zu folgen. Eben das ist für viele Menschen mit dem Begriff der Nation verbunden gewesen. Anders ist gar nicht zu verstehen, was sich seit der großen Französischen Revolution von 1789 in vielerlei Gestalt in Europa abgespielt hat: trotz aller Schwierigkeiten eine Nation nach der anderen zu erschaffen, den Tod fürs Vaterland als Heldentum, als Ehre und Verdienst zu begreifen und zu glauben und zu singen, dass es „keinen schöneren Tod“ gäbe, als fürs Vaterland zu sterben.
Sie, die anderen, wollen uns nicht gestatten, so zu leben, wie wir wollen! Das scheint mir, vereinfacht ausgedrückt, das verinnerlichte Leitmotiv dieser nationalen Gesinnung zu sein. Was zum Teufel soll daran schlecht sein, kann man sich auch heute noch fragen?
Weitaus schwieriger als es ist, dieses exzeptionell existentielle Verhalten von Menschen zu begreifen, ist es, die historischen Gründe für die Hochschätzung der Nation zu ermitteln. Dabei spielen nämlich, wenn ich recht sehe, mindestens vier gewichtige Faktoren eine entscheidende Rolle: erstens der Anspruch einer jeden Volkes, etwas Einmaliges zu sein und zugleich das Recht auf einen eigenen Staat zu haben; zweitens die Überzeugung, dass eben dieses Besondere in der Ethnie, der Sprache und Kultur der Nation, begründet sei; drittens, dass der jeweilige einheitliche nationale Rechts- und Machtraum eine der Voraussetzungen gewesen ist, um dem modernen Handel und der Industrialisierung wie der Wissenschaft und Forschung Raum zur Entfaltung zu geben und damit zunächst dem Bürgertum und dann dem Proletariat Tor und Tür zu öffnen; und viertens, dass die Nation durch die Säkularisierung der universellen christlichen Religion zur Ersatzreligion breiter Bevölkerungsschichten in Europa geworden ist.
Was der Nation ihre Dynamik und Unwiderstehlichkeit verliehen hat, war, wie Alexis de Tocqueville (1805-1859) schon frühzeitig erkannt hatte, dass sie geradezu prädestiniert gewesen ist, ein Bündnis mit der Demokratie einzugehen, was sie dann ja auch getan hat, und wodurch sie zu einer Machtbasis geworden ist, die in Europa und Amerika ihresgleichen nicht hatte und noch hat. Die Nation wurde dadurch zu dem, was der einzelne Mensch zu Johann Wolfgang Goethes Zeiten (1749 – 1832) gemäß seiner Parole, das “höchste Glück der Erdenkinder sei doch die Persönlichkeit“ für sich anstrebte, in den Rang einer kollektiven majestätischen Persönlichkeit erhoben. – Dass die nationale Sprache und nationale Kultur zum Signum der Nationen gemacht wurde, passte wie die Faust aufs Auge in eine Zeit, in der historische Studien im Stile von Leopold von Ranke (1795-1886) und Heinrich von Treitschke (1834-1896) sich der Herkunft der Nationen annahmen und sie vergoldeten, wie sie auch den politischen Raum schufen, in dem sich dank der durch sie ermöglichten Kommunikation die Industrialisierung und Verwissenschaftlichung der Welt im Sinne von Adam Smith (1723-1790) und von Max Weber (1864-1920) vollziehen konnte. Der Nationalstaat war dafür ein unentbehrliches Vehikel.
Kommt hinzu, dass die Nation, übrigens genauso wie der Sozialismus, im gewissen Sinne die traditionelle christliche Religion beerbt hat, weil sie für viele Europäer direkt oder indirekt das zu bieten schien, was ansonsten zu vermitteln, nur Religionen in der Lage sind: dem Leben Sinn zu geben, dem Einzelnen Trost zu spenden und individuelles Heil zu verkünden. – Es ist bei diesen aus der Zeit geborenen mächtigen Hilfestellungen – denen der Säkularisierung und Demokratisierung, der Sprach- und Kulturforschung, der Industrialisierung und Verwissenschaftlichung wie auch der Heilsuche des modernen Menschen – eigentlich gar nicht so verwunderlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, dass die Nation und mit ihm der Nationalismus das Leben der europäischen Völker in ihren Bann gezogen und ihre Interessen bestimmt haben. Sie, die Völker, waren ihnen weitgehend ausgeliefert, sie bestärkten sich gegenseitig in ihrer nationalen Existenz. Es gab vor ihm, dem Nationalismus, kaum ein Entrinnen. Jedenfalls haben äußere Umstände kräftig mitgeholfen, dass in der Blütezeit der Nationen im europäischen Selbstverständnis der Sprach- und Kulturraum mit dem des Rechts- und Gewaltmonopols, der Wirtschaft und Währung, ja, auch der Wissenschaft weitgehend zusammengefallen ist. Dadurch und durch nichts weniger ist die Nation zum zentralen Bezugspunkt der Europäer geworden und hat ihr Dasein mehr als andere Faktoren bestimmt. Ihre politische Identität ist demzufolge durch nichts mehr als durch den Nationalstaat geprägt worden. Wie und wodurch können sich die Europäer seinem Einfluss entziehen, ihm entrinnen?
IV. Die Erfindung der Europäischen Union
Es sind, wenn ich recht sehe, wiederum äußere Umstände, die bewirken, dass der europäische Nationalstaat einen Teil seiner bisherigen Attraktivität und Exklusivität eingebüßt hat. In meinen Augen sind es vor allem zwei Faktoren gewesen, die sein Bild verdunkelt haben: sein schwer auf ihm lastendes historisches Erbe und sein offensichtliches Unvermögen, die Zukunft zu gestalten. Beides hat dem “Architekten“ der EU, Jean Monnet (1888-1979), und ihren Erbauern, angefangen von Robert Schuman (1886-1963), Konrad Adenauer (1876-1967), Alcide de Gasperi (1881-1954) und Paul-Henri Spaak (1899-1972), in die Hände gespielt und eine neue, veränderte Rangfolge in der Identitäts-Skala zur Folge gehabt.
Der europäische Nationalstaat, diese angeblich logische Folge und gefeierte Krone moderner Staatlichkeit, ist durch zwei Ereignisse in Verruf geraten: durch die beiden von Europa ausgegangenen Weltkriege und durch die im Zeitalter des Nationalismus massenhaften Verbrechen der Diskriminierung, Vertreibung und Vernichtung von ethnischen Minderheiten. Sie sind die Kehrseiten der nationalen Gloriole. Auch wenn beide Erscheinungen bis heute durchaus verschieden interpretiert werden, von den Siegern anders als von den Besiegten, von den Vertriebenen anders als von den Vertreibern, ja, auch von den Mördern anders als von den Überlebenden, so sind sie doch Anlass gewesen, auf die Schattenseiten des nationalen Zeitalters in Europa hinzuweisen, Zweifel an seinem Glanz zu wecken und sich von ihm, wenn sich auch nicht zu verabschieden, so doch auf Distanz zu gehen.
Was die beiden Weltkriege angeht, so sind es ausgerechnet ein us-amerikanischer Diplomat und Historiker, George F. Kennan, und ein französischer Bankier und Amateurpolitiker, Jean Monnet, gewesen, welche die Organisation Europas in Nationalstaaten für die Kriege in Europas verantwortlich gemacht haben. Von Kennan stammt die Erkenntnis, dass das europäische Staatensystem, das im 20. Jahrhundert zumeist aus Nationalstaaten bestanden hat, deshalb die tiefste Ursache für den europäischen Unfrieden gewesen sei, weil sich einer von ihnen, nämlich der deutsche, auch beim besten Willen nicht in dieses System hat einbauen lassen, sondern es nolens volens sprengte. Dies deshalb, weil Deutschland als vereinigter Nationalstaat allein schon kraft seiner Größe, seiner Mittellage und seiner Energie von allen anderen europäischen Staaten als potentieller Hegemon wahrgenommen worden ist.
Nach Kennan, war dieser Gefahr nur dadurch zu begegnen, dass Deutschland entweder geteilt oder aber in eine europäische Föderation integriert werden würde, was in jedem Fall einen Bruch mit dem Prinzip des souveränen Nationalstaates bedeutete. Das hat ihn, im Gegensatz zu vielen anderen, indes nicht abgehalten, diesen Bruch zu vollziehen und über den souveränen Nationalstaat hinaus zu denken und zu argumentieren. Er hat dem bereits im Jahre 1959 hinzugefügt, dass er persönlich einer dauerhaften Teilung Deutschlands keine Chance gebe, sondern dass eine Lösung der in einem Europa souveräner Nationalstaaten unlösbaren “deutschen Frage“ nur im Rahmen ihrer Integration, also dem gemeinsamen Verzicht auf einzelstaatliche Souveränität, möglich sei.(15)
Zu einem ähnlichen Schluss ist auch Jean Monnet von ganz und gar anderen Ausgangspunkten gelangt. Der Friede sei nach 1945 in Europa nur zu sichern gewesen, hat er seinen Memoiren anvertraut, wenn es gelingen werde, zwischen den europäischen Nationalstaaten, er dachte dabei insbesondere an Frankreich und Deutschland, ein “gemeinsames Band“ zu knüpfen. Dies wiederum sei nur möglich, wenn den Europäern eine gemeinsames Interesse “eingepflanzt“ werde.(16) Um diese gegenseitige Abhängigkeit auf Dauer zu stellen, musste sie institutionell gesichert werden, was in einem ersten Schritt durch die Schaffung der Montan-Union im Jahre 1952 erreicht worden sei.
Auf diese Weise ist in der Tat etwas ins Werk gesetzt worden, was sich als das bis heute best gehütete, noch gar nicht ins allgemeine Bewusstsein gerückte Geheimnis der europäischen Integration herausgestellt hat: die “begrenzte Einzelermächtigung“ der Union durch ihre Mitglieder, wie es in Art. I-11 des Brüsseler Verfassungsentwurfs für Europa heißt. Sie besagt, kurz gesagt, dass die EU-Mitgliedstaaten der Union jeweils bestimmte Kompetenzen übertragen, welche die Union in eigener Regie und Verantwortung als Auftragsverwaltung wahrzunehmen hat. Ob diese “Kompetenzteilung“ von Monnet und anderen ursprünglich intendiert gewesen sei oder aber ob sie sich im Verlaufe der Entwicklung zufällig von selbst ergeben habe, darüber lässt sich heute trefflich streiten. Jedenfalls steht fest, dass dieses Verfahren mehr als alles andere zum Markenzeichen der nicht-staatlichen EU geworden ist – und sie von anderen Unionen unterscheidet.
Wenn die europäische Integration die eine Fessel ist, die den souveränen europäischen Nationalstaaten nach 1945 angelegt worden ist, so gehört zu dem sie alle mehr oder minder belastenden Erbe, neben den von ihnen ausgelösten Kriegen, die Diskriminierung insbesondere von ethnischen Minderheiten. Dieser Tatbestand hat besonders in der jüngeren europäischen Geschichte vielfältige Formen angenommen: von der französischen Manier und Manie, die Existenz von Minderheiten schlichtweg zu leugnen, sie als solche gar nicht anzuerkennen und schon gar nicht, ihre kulturelle Eigenart gesetzlich zu schützen und zu pflegen, bis hin zu ihrer massenhaften Vertreibung und Ausrottung. Wie das insbesondere bei der Gründung neuer Nationalstaaten oft die Regel gewesen ist und wie es am Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa nicht weniger als ca. 18 Millionen Menschen betroffen hat.
Dieser Umstand hat einige Autoren, darunter auch Peter Glotz(17), dazu gebracht, dem modernen Nationalstaat massenhaften Mord und Todschlag anzuhängen, an ihm und an seinen Verkündern, wozu er u.a. auch Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Ernst Moritz Arndt (1769-1860) gezählt hat, kein gutes Haar zu lassen. Auch wer diesen Anklagen nicht zu folgen vermag, sie zumindest für äußerst einseitig hält, wird anerkennen müssen, dass sie ein dunkles Kapitel in der Geschichte des europäischen Nationalstaates sind. Dass sie in der Tat etwas mit dem Nationalstaat als solchem zu tun habe, geht schon allein daraus hervor, dass mehr oder minder alle europäischen Nationalstaaten sich an ethnischen Diskriminierungen und Säuberungen beteiligt haben, entweder dadurch, dass sie ihre Minderheiten selbst schmählich behandelt oder aber die Untaten anderer gutgeheißen haben. Dies ist übrigens, unabhängig von der jeweiligen Regierungsform, sowohl von demokratischen, wie autoritären und totalitären Regimen praktiziert worden. Diese Vorgehensweisen, die stets wegen ihrer harmonisierenden, stabilisierenden und der Verteidigung dienenden Funktion als im nationalen Interesse liegend ausgegeben worden sind, haben Nationalstaaten zu recht den Makel der Inhumanität eingebracht.
Der Gedanke liegt jedenfalls nicht zu fern, um ihn nicht auch ins Kalkül einzubeziehen, dass die “Einhegung“ des Nationalstaates nicht nur um des “lieben Friedens“ zwischen den Völkern willen, sondern auch um der “Existenz und des Schutzes von Minderheiten“ willen geboten ist. Wie die politische Integration der einzige Weg zu sein scheint, Europas inneren Frieden zu befördern, nein, mehr noch, ihn zu garantieren, so scheint die Integration auch das einzige probate Mittel zu sein, mit dessen Hilfe die Existenz und Wohlfahrt von ethnischen Minderheiten in Europa zu gewährleisten ist. Dies vor allem aus dem einen Grund, weil alle EU-Mitglieder, für sich genommen, Minderheiten sind und schon deshalb ein nationales Interesse daran haben, sich selbst und ihre Minderheiten zu schützen, was aber neuerdings nur in der Gemeinschaft mit anderen Nationalstaaten erfolgversprechend ist. Dadurch nämlich, dass sie auch fremden Minderheiten gleichermaßen Lebensrecht und Entwicklungsmöglichkeiten einräumen. Als ein weiteres starkes Argument, das für die Integration der europäischen Staaten spricht, kommt aber noch das Unvermögen der EU-Mitgliedstaaten hinzu, bestimmte ihrer traditionellen Funktionen selbst wahrzunehmen, weil das ganz offensichtlich über die individuellen Kräfte der Einzelstaaten geht – selbst wenn sie zu den einstmals großen Mächten der Welt gehört haben.
Das ist denn auch, neben der Kriegsächtung, der Hauptansatzpunkt der europäischen Integration gewesen und bis heute geblieben: Probleme, die einzelstaatlich nicht mehr zu meistern sind, gemeinsam anzugehen und deren Lösung durch die erwähnte “begrenzte Einzelermächtigung“ der Union zu übertragen, weil ihre gemeinsame Regelung im nationalen Interesse liegt. Das hat bisher dazu geführt, dass Angelegenheiten des Außenhandels und Binnenmarktes, der Agrar- und der Fischereipolitik sowie der Währung ganz oder teilweise “vergemeinschaftet“ worden sind; dass über andere Bereiche, wie eine gemeinsame Energieversorgung und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, gerade gestritten wird, ob sie nicht auch vergemeinschaftet werden müssten; und dass andere Kompetenzen, wie die Sozial-, die Kultur- und Bildungspolitik sowie die vielleicht wichtigste von allen, die Steuerpolitik, auf absehbare Zeit oder gar dauerhaft in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleiben werden.
Es ist diese Verfahrensweise, die “Kompetenzteilung“, die es ermöglicht hat bzw. ermöglichen kann, Dreierlei auf einen Schlag zu verwirklichen: eine entscheidungs- und handlungsfähige Union zu schaffen, die Mitgliedstaaten zu den “Herren der EU-Verfassung“ zu machen und auf diese Weise zugleich die Bildung eines “Monsterstaates“ auszuschließen, der nach und nach alle Kompetenzen an sich zieht. Damit jedoch, durch diese Umstrukturierung der politischen Gemeinschaft Europas, steht nicht mehr der alle Kompetenzen monopolisiert habende Nationalstaat im Zentrum des Interesses und der Macht, sondern er teilt sich die Kompetenzen wie die Macht mit anderen Institutionen: einerseits mit der supranationalen Union wie andererseits mit den aus diesem Transformationsprozess ebenfalls gestärkt hervorgehenden Regionen. Das schafft und stärkt zwangsläufig nach und nach andere, vielfältige, mehrfache Identitäten der EU-Bürger. Welche sind das?
V. Die Europäisierung nationaler Identitäten
Wenn es zutrifft, dass in der EU – im Gegensatz zum Nationalstaat, der über die Kompetenz-Kompetenz verfügt, was ihm erlaubt, alle Zuständigkeiten, die er für seine Existenz als notwendig hält, an sich zu ziehen – die politischen Kompetenzen nicht monopolisiert, sondern verteilt sind, dann ergibt sich daraus zwangsläufig, dass auch die politische Identität gespalten ist. Eine solche Teilung bzw. Spaltung der Identität ist zugegebenermaßen für alle auf den Nationalstaat fixierten Bürger ungewöhnlich, für alle nationalgesinnten Politiker gar ein Ärgernis. So hat der französische Präsidentschaftskandidat, Nicolas Sarkozy während des Wahlkampfes, im März 2007, angekündigt, dass er daran denke, wenn er gewählt werde, ein “Ministerium für Integration und nationale Identität“ zu schaffen, um dem bröckelnden Nationalbewusstsein seiner Mitbürger wieder auf die Sprünge zu helfen.(18) Damit, nicht mit der Errichtung eines solchen Ministeriums, wohl aber mit den an es geknüpften Erwartungen, dürfte er gewiss scheitern; denn in der EU ist eine Ablösung der nationalen Monopol-Identität gar nicht aufzuhalten. Es ist nämlich in der Union bereits ganz normal, dass die Bürger mehr als nur eine politische Identität haben.
In dieser Hinsicht bilden auch die Franzosen keine Ausnahme. Wie eine im Frühjahr 2002 erfolgte Umfrage des Eurobarometers in Frankreich zeigt, bekannten sich seinerzeit bereits 63% zu einer Doppel-Identität als Franzosen und Europäer, lediglich ein Drittel der Befragten, nämlich 33%, haben angegeben, dass sie sich nur als Franzosen und ganze 4% nur als Europäer verstehen würden.(19) Sie lagen damit sogar 8 Punkte über dem Durchschnitt der sich in den damals 15 EU-Ländern zu einer Doppel-Identität bekannt habenden Bürger. In ihrem Bekenntnis zu einer Doppel-Identität wurden die Franzosen nur von drei Ländern, darunter von Italien, das mit 74% eine Spitzenposition einnahm, übertroffen, während ganz am Ende die Briten lagen, von den sich für eine Doppel-Identität nur 32% erwärmen konnten, 62% sich dagegen ausschließlich nur mit dem Vereinigten Königreich identifizierten.(20)
Tabelle 1:
Mir hat außerdem noch eine andere Auswertung der Umfrageergebnisse über die nationale und europäische Doppel-Identität in der EU vorgelegen. Bei dieser Untersuchung, die im Oktober 2006 vom Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veröffentlicht worden ist, haben die Analysten pikanter Weise zwei Trends miteinander verglichen: die Einstellung der befragten Bevölkerung von 15 EU-Ländern im Zeitraum zwischen 1996 und 2004, hochgerechnet auch für 2030, und der Altersjahrgänge von 15 bis 79-jährigen Bürgern zur Frage der Doppel-Identität. Das Ergebnis bestätigt viele Vermutungen: Erstens ist der Anteil derjenigen, die von sich sagen, dass sie eine Doppel-Identität haben, im Laufe von acht Jahren, von 1996 bis 2004, von rund 55 auf rund 58% angestiegen und wird aller Voraussicht nach bis 2033 auf nahezu 80% steigen. Und zweitens beträgt der Unterschied zwischen den jüngsten und ältesten zur Doppel-Identität befragten Jahrgängen jeweils zwischen 63 und 18%. Das hat die Analysten zu der freilich recht hypothetischen Schlussfolgerung veranlasst, dass die „Legitimität und Akzeptanz der EU“ durch die Internalisierung von Identitätsgefühlen gegenüber der EU „langsam aber sicher“ gestärkt werden wird.(21)
Tabelle 2:
Diese Information wird durch eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin vom Juni 2001 ergänzt.(22) Danach haben sich in den 15 EU-Staaten, wobei für Deutschland in Ost und West geteilte Angaben gemacht worden sind, seinerzeit im Durchschnitt 45% eine nationale und 55% eine europäische Identität “selbst zugeschrieben“.(23) Wobei sich erwiesen hat, dass, nicht ganz unerwartet, Großbritannien mit 66 und Schweden mit 58% am stärksten national-orientiert und, Großbritannien mit 66 und Schweden mit 58% am stärksten national-orientiert und, weniger erwartet, Italien mit 75 und Spanien mit 73% am europa-orientiertesten sind.
Tabelle 3:
Länder | Europäische Identität |
|||
starke Identifikation mit der eigenen Nation |
Selbstbeschreibung nur über die eigene Nation |
Selbstbeschreibung auch als Europäer |
Wahrnehmung einer europäischen kulturellen Identität |
|
Großbritannien Irland |
64 79 |
66 53 |
34 47 |
35 49 |
Dänemark Finnland Schweden |
42 62 54 |
48 53 58 |
52 47 42 |
37 33 44 |
Belgien Deutschland (West) Deutschland (Ost) Frankreich Italien Luxemburg Niederlande Österreich |
28 21 19 35 38 55 34 50 |
40 45 49 28 25 28 40 53 |
60 55 51 72 75 72 60 47 |
41 42 49 40 48 45 47 47 |
Griechenland Portugal Spanien |
82 41 48 |
53 48 27 |
47 52 73 |
51 55 45 |
Durchschnitt | 47 |
45 |
55 |
45 |
Quelle: Eurobarometer 52 (1999), Eurobarometer 53 (2000)
(Die Länder sind nach geographischen Regionen geordnet)
Tabelle 1 Bewußtsein einer nationalen und europäischen Identität (in Prozent)
Wenn es sich bei den soeben angeführten und den von der Zeitung “Saar-Echo“ kommentierten Werten auch um die gleiche Zahlenbasis, nämlich die des Eurobarometers handelt, dass sie aber offenbar gänzlich anders berechnet worden sind, wird deutlich, wenn man lernt, dass im ersten Falle die Deutschen sich mit 47% pro-national und 53% pro-europäisch geoutet, sich im anderen Falle aber zu 37% zu ihrem Deutschtum, mit 58% zu ihrer Doppel-Identität und mit 5% zu ihrem Europäertum bekannt hätten. Insgesamt aber kommt auch diese zweite Studie, wenn es um die Durchschnittswerte geht, zu ganz ähnlichen Ergebnissen, obwohl es sich dabei um Berechnungen in sehr verschiedenen Zeitperioden handelt. Die jeweiligen Anteile belaufen sich nämlich auf rund 40%ige nationale, rund 45%ige gemischte und 5%ige europäische Identifikationen.(24)
VI. Die plurale Identität als Norm
Gibt es in der EU indes nicht auch Tripple-Identitäten? Sie scheinen, wenn man den Veröffentlichungen trauen darf, noch wenig erforscht zu sein. Aber dass es zumal in Schottland, in Bayern und in Jütland, abgesehen von der nationalen und der europäischen Identität, noch eine weitere gibt, weil die Bürger dort zusätzlich noch ein besonders intensives Verhältnis zu ihrer engeren Region entwickelt haben, liegt auf der Hand. Als Beleg dafür kann ich nur mit einer statistischen Angabe dienen. In Ost- wie in Westdeutschland angestellte Umfragen haben ergeben, dass die Bürger sich hierzulande sogar vier Loyalitäten leisten. Sie fühlen sich:
eng verbunden, wobei die unterschiedlichen Prozentzahlen sich jeweils auf Ost- und Westdeutschland beziehen.(25) Das sind Zahlen, die aufhorchen lassen. Zeigen sie doch, dass es durchaus möglich ist, die Loyalitäten gleichmäßig oder doch annähernd gleichmäßig zu verteilen und gleichzeitig auch mehrere gleich stark ausgeprägte Identitäten zu besitzen! Und der Gedanke lässt einen fortan nicht mehr los, dass eine europäische Identität möglicher Weise ohne die anderen Identitäten gar nicht zu haben ist, dass sie vielmehr im Prinzip gleichwertig sind, nur von Fall zu Fall, d.h. vom jeweiligen Bezugspunkt abhängig, in ihrem Wert variieren.
Bei einer solchen Überlegung fällt es dann auch gar nicht schwer, kühn vorauszusagen, dass sich das Verhältnis zwischen der nationalen und der europäischen Identität einpendeln, d.h. entsprechend der Kompetenzverteilung neu austariert werden wird. Vor allem dann, wenn, wie anzunehmen ist, eines schönen Tages auch die Kompetenz der Außen- und Sicherheitspolitik von den EU-Mitgliedern zur Union verlagert werden wird. Das eine wie das andere, nämlich das Einpendeln der verschiedenen Identitäten wie der Anstieg der europäischen Identität, scheint mir, so sicher wie das Amen in der Kirche zu sein. Das aber heißt, dass die Plural-Identität in der EU höchst wahrscheinlich alsbald das Normale sein wird, wenn das auch gegenwärtig noch nicht überall im gleichen Maße der Fall ist. Es kann, bei Licht betrachtet, auch gar nicht anders sein, ansonsten würde die politische Identität in einen unauflösbaren Widerspruch zur politischen Realität geraten.
VII. Ausblick
Wenn ich zum Abschluss noch einmal auf das zu Beginn angesprochene Verhältnis von politischer und kultureller Identität eingehe, dann lediglich um meine persönliche Überzeugung zu bekräftigen und zur Diskussion zu stellen. Ich halte dafür, dass die hier für die EU diagnostizierte Plural-Identität keiner gemeinsamen kulturellen Identität bedarf, sondern durchaus mit kultureller Heterogenität vereinbar ist. Das heißt aber natürlich nicht, dass die politische Identität allein von Interessen, Persönlichkeiten und Institutionen bestimmt wird, dass Werte keine Rolle spielen. Ich würde sagen, ein Minimum gemeinsamer politischer Interessen ist genauso wie ein Minimum von übereinstimmenden politischen Werten erforderlich, um eine multi-kulturelle Gemeinschaft wie die EU zusammenzuhalten und ihr Energie und Dynamik zu verleihen. Sie allerdings im Einzelnen bestimmen, sie zu quantifizieren und zu qualifizieren zu wollen, halte ich für müßig. Jedenfalls scheinen mir alle Versuche, das zu tun, zum Scheitern verurteilt zu sein. Warum?
Weil der Versuch einer metapolitischen Identitätsbestimmung der EU nur zu der Erkenntnis führt, dass das, was Europa gemeinsam ist, seine antagonistische Vielfalt ist.(26) Diese Vielfalt ist nicht zu harmonisieren. Sie kann allenfalls, wie von Edgar Morin geschehen, als “permanenter Dialog“ begriffen werden.(27) Das aber verbietet jede definitive Festlegung auf Einzelwerte, die entweder universellen Charakter haben oder aber willkürlich bzw. zeitbezogen sind und deshalb zur Identitätsbestimmung der EU wenig taugen. Was daher in meinen Augen bleibt, ist, die Aufmerksamkeit auf politische Identitätsmerkmale zu richten, die der EU, wie etwa das Prinzip der “Subsidiarität“ und das der “Kompetenzteilung“ eigen sind, die anderen vergleichbaren politischen Systemen aber abgehen. Wenn es denn stimmt, wie ich anzunehmen geneigt bin, dass politische Identitäten auf gemeinsamen historischen Erfahrungen, gemeinsamen Errungenschaften und gemeinsamen Zukunftsvisionen beruhen, die von den betroffenen Bürgern für wesentlich erachtet werden und ihnen kommunikativ vermittelt worden sind, dann gilt für die EU, dass ihre Bürger erklärter Maßen sehr verschiedene Identitäten haben, unter denen die europäische nur eine unter anderen und nicht notwendiger Weise die dominante ist – das hängt von den Kompetenzen ab, welche der EU eingeräumt werden. Von nichts anderem.
Es ist nicht erforderlich, meine ich, der EU eine gemeinsame Geschichte anzudichten, obwohl es auch dahin, wohl oder übel, kommen wird. Wichtig ist indes, dass sich die Bürger der Union über das Ziel ihrer politischen Gemeinschaft mehrheitlich einig werden: Ist das anzustrebende Ziel ein Staatenbund, in dem die Mitgliedstaaten souverän sind? Ist es eine Union, in der die Mitgliedstaaten der Union einzelne Kompetenzen übertragen, die sie in eigener Regie und Verantwortung wahrnimmt, aber in der die Mitgliedstaaten und ihre Völker doch die “Herren des Verfahrens“ bleiben? Oder aber ist das Ziel die Schaffung eines föderalen Staate, in dem die Mitgliedstaaten über kurz oder lang ihre Eigenstaatlichkeit verlieren werden?
Diese Entscheidung ist lange Zeit aus guten Gründen, nämlich um die Integration nicht durch unnötige Streitereien zu behindern, aufgeschoben worden -- sie kann aber nicht ewig unbeantwortet bleiben, weil das Offenlassen dieser Frage langsam aber sicher zur Belastung der Integration wird, ihre Vollendung verhindert. Die EU-Bürger wollen und sollen wissen, wohin ihre Reise mit der EU geht. Was im Europäischen Verfassungsentwurf bereits schwarz auf weiß steht, dass die EU kein Staat ist und es auch nicht werden will, das muss erst noch in die Köpfe der EU-Bürger hinein, damit sie wissen, woran sie mit der EU sind, was von ihr zu erwarten oder auch nicht zu erwarten ist.
Das aber erfordert nolens volens ein Abschiednehmen von der exzeptionellen nationalstaatlichen Identität, die allen EU-Bürgern ans Herz gewachsen und von ihnen internalisiert worden ist. Weshalb es vielen von ihnen schwerfällt, sich mit der so anders gearteten, mehrere Identitäten erlaubenden, ja gebietenden EU zu befreunden. Doch haben sie keine andere Wahl, wenn ihnen ihre Nation wirklich am Herzen liegt, nicht historisch disqualifiziert werden, sondern auch weiterhin eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen soll.
Anmerkungen:
1.4. New Multi-society and Cultural Integration in Asia and Europe | Die neue multikulturelle Gesellschaften und die kulturelle Integration in Asien und Europa
Sektionsgruppen | Section Groups| Groupes de sections
Inhalt | Table of Contents | Contenu 17 Nr. |
Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-24