Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 1.8. | Wissensvermittlung in Asien mittels der deutschen Sprache
Sektionsleiter | Section Chair: Naoji Kimura (Tokyo / Japan) |
Das Dreiecksnetz:
Gauß und die japanische Landvermessung in der Meiji-Zeit(1 )
Aeka Ishihara (Keio-Universität, Yokohama/Japan) [BIO]
1. Einleitung
1.1. Deutsch und die Globalisierung
Deutsch war früher in Japan die erste Fremdsprache für die Elite, und vor allem für Mediziner und Naturwissenschaftler obligatorisch. Heute ist die deutsche Sprache aber leider nicht mehr so populär wie damals, und die Studenten lernen lieber Chinesisch wegen vieler Gemeinsamkeiten in den Schriftzeichen. Auch die Musikstudenten, die früher fast obligatorisch Deutsch gelernt haben, wählen jetzt lieber Italienisch, weil dessen Aussprache für Japaner etwas leichter sein soll. Bei meinem Referat geht es allerdings um die Meiji-Zeit (1868-1912) direkt nach der Modernisierung in Japan, also Ende des 19. Jahrhunderts, als die deutsche Sprache im naturwissenschaftlichen Bereich noch eine dominante Rolle spielte.
Andererseits ist die Globalisierung der Welt allgegenwärtig: So verwundert es z.B. nicht, in einem großen Kaufhaus in Japan eine Außenstelle des berühmten Wiener Hofzuckerbäckers DEMEL vorzufinden, in der man leckere Pralinen und Torten genießen kann. Der Wiener Knabenchor besucht regelmäßig Japan. Man vergisst beinah, dass es zwischen Österreich und Japan eine nach Winterzeit achtstündige Zeitverschiebung gibt, und dass die Flugstrecke zwischen Tokio und Wien ca. 6 000 Meilen beträgt (umgerechnet ca. 9 656 000 Meter).
1.2. Das Meter als universale Längeneinheit
Die Meile und das Meter sind hier absichtlich nebeneinandergestellt. Beides sind jeweils Längeneinheiten, und jene ist älter als diese. Aus Anlass der Revolution von 1789 entschloss sich die französische Regierung, das bisher autorisierte, historisch gewachsene bzw. auf einem königlichen Erlass beruhende, alte Maß aufzugeben und stattdessen ein aus der Natur abzuleitendes Maß als gemeinsames Erbe der Menschheit festzulegen. So entstand das Meter, dessen Maß ursprünglich als der zehnmillionste Teil der Entfernung zwischen Nordpol und Äquator definiert wurde. Das war ein großes naturwissenschaftliches und staatliches Projekt des 18. Jahrhunderts.
Heute ermöglicht die moderne GPS-Technologie, die mehr oder weniger als Fortführung und bisheriger Höhepunkt der damaligen Entdeckungen anzusehen ist, mit Hilfe der Entfernung zu mehreren Satelliten eine präzise Ortsbestimmung. Software-Produkte wie Google Earth zeigen uns Satelliten- und Luftbilder unterschiedlicher Auflösung auf einem digitalen Höhenmodell der Erde. Am Computer sitzend kann man damit in Tokio jede winzige Gasse in Wien ansehen. Das funktioniert mit einfachem Maus-Klick, so dass wir uns jetzt nur schwer vorstellen, dass jemand früher Entfernungen tatsächlich abgeschritten und vermessen hat, um eine Grundkarte herzustellen.
1.3. Die heutige Tendenz und die Gliederung dieser Arbeit
Die Wissenschaft ist nicht nur eine revolutionäre Kraft, sie gehört auch zum Kulturerbe der Menschheit. So erscheinen gerade in der gegenwärtigen Globalisierungszeit im europäischen Sprachraum mit Erfolg nicht wenige Geschichtsromane über die Naturwissenschaften der Goethezeit. Über die Erdvermessung sind z. B. Denis Guedj: Le Méridienne. Le mètre(2)und Ken Alder: The Measure of All Things(3)zu nennen. Nicht zuletzt muss Daniel Kehlmanns deutscher Bestseller: Die Vermessung der Welt(4) genannt werden, in dem Carl Friedrich Gauß mit Alexander von Humboldt eine der Hauptrollen spielt.
Gauß ist berühmt als einer der größten Mathematiker, aber in der vorliegenden Arbeit wird die Aufmerksamkeit eher seinen geodätischen Arbeiten gewidmet, die sonst nicht so im Blickpunkt des Interesses stehen. Danach wird anhand eines japanischen „Vermessungsromans“ die mühsame, aber lange verkannte Arbeit des Vermessungsingenieurs Yoshitarō Shibasaki in der Meiji-Zeit vorgestellt.
2. Gauß als Geodät
2.1. Die Geschichte der Triangulation
Zunächst ist die Geschichte der Triangulation bis zum 19. Jahrhundert kurz zu skizzieren.(5) Die erste Triangulation soll 1615-1622 vom niederländischen Astronomieprofessor Willebroard Snellius (1591-1626) bei der Gradmessung in Holland angewendet worden sein. Im Jahre 1700 führte Jacques Cassini (auch Cassini II genannt; 1677-1756), mit seinem Vater, Giovanni Domenico Cassini (1625-1712), Gradmessungen in Frankreich durch. Im 18. Jahrhundert unternahm César François Cassini (Cassini III; 1714-1784) sehr genaue Landvermessungen und gab mit seinem Sohn Jean Dominique (Cassini IV; 1747-1845) die Carte géométrique de la France heraus. Dies war die erstmalige Anwendung der Triangulation als Grundlage einer großflächigen Kartenaufnahme. Nachdem Cassini III ganz Frankreich trianguliert hatte, regte er auch eine trigonometrische Verbindung der beiden wichtigsten Sternwarten Europas, Paris und Greenwich, an, um deren astronomisch ermittelten Längenunterschied geodätisch zu überprüfen. An diesem Projekt nahmen der Astronom Pierre François André Méchain (1744-1804) und der Mathematiker Adrien-Marie Legendre (1752-1833) teil. Darauf folgte die Breitengradmessung im Meridian von Paris durch die Astronomen Jean Baptiste Joseph Delambre (1749-1822) und Méchain, die Hauptprotagonisten der Romane von Guedj und Alder.
2.2. Vermessungsfehler und die „Methode der kleinsten Quadrate“
Wenden wir uns nun dem Geodäten Gauß zu.(6) Im 18. Jahrhundert gab es noch keinen deutlichen Unterschied zwischen Astronomie und Mathematik. Mathematiker beschäftigten sich darüber hinaus mit der Geodäsie. Dies zeigt sich z. B. darin, dass für die Erdvermessung die ursprünglich vor astronomischem Hintergrund entwickelte „Methode der kleinsten Quadrate“ angewendet wurde. Diese ist das mathematische Standardverfahren zur Ausgleichsrechnung, das die beiden Mathematiker Legendre und Gauß unabhängig voneinander entwickelt haben. Gauß ermöglichte dadurch dem Hofastronomen in Gotha, Franz Xaver von Zach (1754-1832)(7), den 1801 neu entdeckten aber bald darauf verlorenen Asteroiden „Ceres“ wieder zu finden.
Seit seiner Jugend interessiert sich Gauß für die Bestimmung der Erdfigur. 1799 schickt er an Zach in Gotha eine Notiz, als er von der Breitengradmessung im Meridian von Paris erfuhr.(8) Als Zach zwischen 1803 und 1809 die Leitung der trigonometrischen Vermessungen in Thüringen übernimmt, hilft Gauß ihm bei der Messung der Basislinie von der Seeberger Sternwarte in Gotha.(9) Im Jahre 1816 wird Gauß vom König von Dänemark beauftragt, mit einem seiner Schüler, Heinrich Christian Schumacher (1780-1850), die dänische Gradmessung und deren Fortsetzung nach Süden durch Hannover durchzuführen. Nach dieser Arbeit leitet Gauß anschließend die Messungen zur Bestimmung des rund zwei Breitengrade umfassenden Gradbogens von Göttingen nach Altona.
Nicht zu vergessen ist eine seiner praktische Erfindungen: das Heliotrop (1820). Dies ist ein Instrument, mit dem man mithilfe eines Spiegelsystems das Sonnenlicht an einen beliebigen sehr entfernten Punkt schicken kann.(10) Damit gelingt Gauß seine größte Dreiecksmessung zwischen Hohen Hagen, Inselsberg und Brocken.
Die praktischen Vermessungsarbeiten von Gauß dauerten bis 1825, und in dieser Zeit hat er nicht nur gemessen, sondern auch wohl mehr als eine Million Messdaten von 40 Dreieckspunkten nebst ca. 2 600 Ersatzpunkten allein, und zwar ohne Computer, ausgewertet.(11) Dabei berücksichtigte er auch stets den Einfluss von Vermessungsfehlern.
In diesem Sinne bedeutet die Geschichte der Erdvermessung zugleich eine Geschichte der Überwindung der Vermessungsfehler. Obwohl die Breitengradmessung im Meridian von Paris von Delambre und Méchain unter der Voraussetzung vorgenommen wurde, dass der von beiden zu vermessende Meridian für alle Meridiane dieser Erde steht und daher zu einem universellen Maß führen sollte, ist das Meter dennoch von einer durch die Krümmung der Erde notwendigerweise gekrümmten Linie abgeleitet. Méchain konnte trotz verzweifelter Bemühungen keine Erklärung für den Widerspruch zwischen dem astronomischen und geodätischen Breitenunterschied auf der Linie Barcelona-Montjouy finden, der durch die ellipsoidische Erdfigur verursacht ist. Gauß hingegen erkennt sehr wohl die Bedeutung der Lotabweichungen, die er auf sichtbare Massenunregelmäßigkeiten und auf Dichteunterschiede unterhalb der Erdoberfläche zurückführt.
Es bestätigt sich also: Gauß ist hervorragender Mathematiker und gleichermaßen ausgezeichneter Geodät und praktischer Feldvermesser. Sein Dreiecksnetz der Gradmessung gilt als eine seiner bahnbrechenden Arbeiten. Durch eine einfache Kombination von Theodoliten, Postament und Heliotrop erreicht Gauß mit relativ niedrigen Kosten unglaublich exakte Messungen.(12) Mittels der „Methode der kleinsten Quadrate“ gleicht er die noch vorhandenen inneren Widersprüche in den Messdaten aus. Seine darüber hinaus entwickelte konforme Abbildung der Ellipsoid-förmigen Erdoberfläche auf die Ebene wird noch heute als „Gauß-Krüger’sche Projektion“ weltweit am häufigsten verwendet. All dies führte letztlich dazu, dass die führende Position in der Geodäsie von Frankreich an Deutschland übergeht.
Selbstverständlich trägt aber die Triangulation nicht nur zur Entwicklung der Naturwissenschaften bei, sondern sie hat auch Auswirkungen auf die Politik. Außerdem bedürfen auch Wirtschaft und Militär topographischer Kartenwerke. Im letzten Teil wird vor allem die Beziehung zwischen Landesvermessung und Militärwesen um 1900 in Japan dargestellt.
3. Die erste Triangulation in Japan und der Berg Tsurugi
3.1. Der Übergang von der französischen zur deutschen Methode
Im Jahre 1868 wurde durch die so genannte Meiji-Restauration die Regierungsmacht des Kaisers wieder hergestellt. Damit beginnt die Geschichte der Triangulation in Japan. In diesem Zusammenhang sei an den Japan-Atlas von Tadataka Inou (1745-1818) erinnert. Dieser Inou interessierte sich für die Gestalt der Erde und die Gradmessung, und seit 1800 vermaß er zu Fuß das gesamte Japan, also insgesamt ca. 40 000 km. 17 Jahre danach vollendete der Siebzigjährige seine komplette Arbeit und stellte den präzisen, schön kolorierten Japan-Atlas her. Er führte zwar stets astronomische Beobachtungen durch, jedoch ohne Zuhilfenahme der Triangulation.(13)
Analog zum Wechsel der Führungsposition hinsichtlich der Geodäsie in Europa von Frankreich nach Deutschland ging man auch in Japan von der französischen zur deutschen Vermessungskunst über.(14) Bereits in der Edo-Zeit hatte das Shogunat den Militärrat aus Frankreich eingeladen. Zunächst übernahm die Meiji-Regierung die französische Heereseinrichtung. Im Jahre 1874 begannen unter der Leitung des französischen Offiziers Jordan (Lebensdaten unbekannt) praktische Landesvermessungen, und nach französischer Art entstand eine kolorierte Landkarte der Umgebung Tokios. Darüber hinaus sind am Rande der Karte Sehenswürdigkeiten sowie geographische Merkmale anmutig gezeichnet, so dass sie nicht nur praktischen Zwecken diente, sondern eine eigenständige künstlerische Bedeutung erlangte. Diese so genannte „Französische Karte“ besteht aus ca. 1 000 Blättern und wird als Höhepunkt der modernen Landesvermessung in Japan bezeichnet.(15)
Nach dem preußischen Sieg über Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg vollzog sich allerdings schnell und deutlich der Übergang von farbig anspruchsvollen Karten nach französischer Art zu monotonen, schwarz-weiß gedruckten, sehr nüchternen Karten nach preußischer Art. Gerade in diesem Zeitraum, im Jahre 1882, kam Toranosuke Tasaka (1850–1919) von Preußen zurück, wo er Kriegswissenschaft und Geodäsie studiert hatte. Direkt danach führte Tasaka statt der bisher in Japan dominierenden französischen die neue deutsche Methode ein und begründete das Dreiecksnetz in Japan.
3.2. Der „Tateyama“-Bergglaube und die Begründung des Japanischen Alpenclubs
Das Vermessungsamt gehörte damals zur Armee. Abgesehen von religiösen Bergbesteigungen wie z. B. am Berg Fuji wurden die meisten Gipfel in Japan in der Meiji-Zeit von diesen Vermessungstruppen zum ersten Mal erstiegen. Nun soll, wie vorher angedeutet, anhand des Romans von Jirō Nitta, Ten no Ki: Tsurugidake (=Der Bericht über den trigonometrischen Punkt: Berg Tsurugi, 1977) die mühsame, aber lange verkannte Arbeit des Vermessungsingenieurs Yoshitarō Shibasaki (1876-1938) vorgestellt werden. Übrigens war der Schriftsteller Nitta selbst lange parallel als Beamter an der meteorologischen Zentralstation tätig, war also gleichzeitig Naturwissenschaftler.
Gegen 1900 war das Dreiecksnetz in Japan weit gespannt. Aber die Tateyama-Bergkette, die so genannten „Nord-Japanischen Alpen“, blieb immer noch unerforscht. Die „Japanischen Alpen“ sind ein das ganze Jahr schneebedecktes Hochgebirge mitten auf der Hauptinsel. Der höchste Berg der Nordbergkette ist der 3 015 m hohe „Tateyama“. Die daneben stehende ebenfalls sehr hohe Bergspitze heißt „Tsurugidake“, wörtlich ins Deutsche übersetzt „Berg Schwert“. Sie ist der Schauplatz des Romans.
Zu diesem Berg Tsurugi gibt es eine Legende: „Selbst Kōbō-Daishi konnte niemals diesen Berg besteigen, obwohl er dafür 3 000 Strohsandalen strapaziert hatte.“ Kōbō-Daishi ist der Ehrenname des buddhistischen Mönches Kūkai (774-835). Dieser studiert Anfang des 9. Jahrhunderts in China und bringt von dort aus die Lehre des esoterischen Buddhismus mit. Entscheidend war, dass Kūkai sich für die Verschmelzung von Shintō und Buddhismus einsetzt. Zahlreiche Legenden ranken sich um seine heilbringenden Taten auf der Missionsreise durch Japan.
Darüber hinaus ist in den Tateyama-Bergen eine volkstümliche Berggläubigkeit(16) bis zur Meiji-Zeit immer noch lebendig; dort befindet sich sogar ein wichtiger Platz für die spirituelle Übung „Shugendō“.(17) Dorthin zogen sich männliche Gläubige zurück, um mittels körperlicher Anstrengungen religiöse Erleuchtung zu finden. Wenn die Asketen dann auf der Bergspitze den Sonnenaufgang als Inbegriff der Gottheit erleben konnten, brachten sie ein Schwert und ein Zepter aus Zinn als Weihgeschenk dar. Allerdings ist hier noch eine weitere Legende von Saeki no Ariyori (676?-759?) überliefert, der im Jahre 701 den Berg Tateyama erstiegen haben soll. Er betrachtet die Tateyama-Bergkette als andere, göttliche Welt und bezeichnet den Berg Tsurugi als eine Hölle für Bestrafte, eine unheimliche Bergnadel, die man nicht besteigen dürfe, während der Berg Tateyama ein Symbol für ein Paradies ist. Durch diese Legenden glaubten die Einheimischen fest daran, dass der Berg nicht zu bezwingen sei.
3.3. Die Begründung des Japanischen „Alpenclubs“
Im Oktober 1906 begründet der Bankbeamte Usui Kojima (1873-1948)(18) den Japanischen Alpenclub. Walter Weston (1861-1940), der in Yokohama als Missionar der Englischen Kirche tätig und gleichzeitig Mitglied des englischen Alpenclubs ist, vermittelt Kojima Freude am sportlichen Bergsteigen, das die Japaner vorher nicht kannten. Übrigens soll dieser Weston die Bezeichnung „Japanische Alpen“ verwendet und in Europa bekannt gemacht haben. Kojima erkennt aber bald, dass die Naturwahrnehmung von Europäern und Japanern unterschiedlich ist. Er schreibt einen interessanten Essay über die Japanischen Alpen („Sangaku-Sūhairon“, 1915), in dem er durch die Analyse alter Überlieferungen und Dichtungen darstellt, dass die Japaner sich keinesfalls vor den Bergen fürchten, sondern sie stets als sympathisch ansehen, sich eins mit ihnen fühlen. Im Gegensatz dazu hält der Europäer der Natur gegenüber einen gewissen Abstand, sie erweckt in den Menschen das Gefühl des „Erhabenen“. Aber dieses Erhabene, das ein wichtiger Begriff der Aufklärung ist, würde wohl kein Japaner richtig verstehen. Denn für ihn gibt es keine Entfernung zur Natur. Wie eine Mutter drückt sie ihn fest an den Busen, wo er sich immer sicher fühlen kann.
3.4. Der Ingenieur Shibasaki und seine Vermessungsarbeit
Japanische Alpinisten beabsichtigten nun, den noch unerforschten Berg Tsurugi zu besteigen. Das Vermessungsamt befahl dem begabten Ingenieur Shibasaki, seinerseits so schnell wie möglich auf den Berg Tsurugi zu steigen und dort die Fahne des Amts zu hissen.
Yoshitaro Shibasaki(19) wurde im Jahre 1876 in Yamagata geboren. Da seine Familie arm war, musste er schon als Kind hart arbeiten. Aber parallel dazu lernte er autodidaktisch und zeigte vor allem mathematische Begabung. Während seines Armeedienstes bestand er die schwierige Aufnahmeprüfung des Vermessungsamts und war seit 1904 als Vermessungsingenieur in der Abteilung der Triangulation tätig, dann übrigens nicht mehr als Soldat, sondern als Zivilbeamter.
Auch als Zivilbeamter untersteht Shibasaki den herrschenden Militärs des Amtes, für die es eine Niederlage wäre, wenn Hobby-Bergsteiger und Zivilisten früher als das Vermessungsamt die Bergspitze erreichten. Unter diesem psychischen Druck und mit nur beschränkten finanziellen Mitteln müssen sich Shibasaki und seine Assistenten und Gehilfen, insgesamt nur 6 Personen, auf den Weg machen. Dabei müssen sie sich sehr oft mit Widerständen auseinandersetzen, die in dem volkstümlichen Glauben der Einheimischen wurzeln. Letztlich ist ihr Ziel aber nicht die bloße Bezwingung des Berges, sondern die Errichtung eines trigonometrischen Punktes auf dessen Gipfel. Also nehmen sie außer den notwendigen Lebensmitteln noch eine Reihe Messgeräte mit, darunter einen Theodoliten der deutschen Firma „Carl Bamberg“ (jetzt „Askania Werke“ in Berlin). Dieses wichtigste und kostbarste Gerät wiegt mit Gehäuse insgesamt ca. 60 Kilogramm, die ein Gehilfe auf dem Rücken tragen muss. Mit unglaublichen Mühen und oft unter Lebensgefahr erreichen sie am 13. Juli 1907 endlich den Gipfel. Aber dort finden sie etwas Unerwartetes: uralte Reliquien aus dem Mittelalter, nämlich ein völlig verrostetes Schwert aus Eisen und ein mit Grünspan bedecktes Zepter aus Zinn. Das bedeutet, dass ein unbekannter Asket vor ca. 1 000 Jahren tatsächlich auf der Spitze des Tsurugi gestanden haben musste.
Die Vermessungstruppe hat damit zwar den Berg Tsurugi entmythologisiert, aber das war natürlich nicht ihr eigentliches Ziel. Mittels Triangulation berechnet Shibasaki präzise die Höhe des Berges und gibt sie mit 2 998,02 m an, ein Ergebnis, das sich von heutiger modernster GPS-Vermessung mit 2 999,00 m kaum unterscheidet. Das Hauptziel, auf der Bergspitze einen richtigen trigonometrischen Punkt zu errichten, musste Shibasaki jedoch schweren Herzens aufgeben. Markierungen für einen trigonometrischen Punkt der ersten Klasse wiegen über 135 kg (Pfeiler 90 kg, Grundstein 45 kg). Im Hochgebirge über 2 000 m Höhe war eine solche Last ohne moderne technische Hilfsmittel nicht zu bewältigen. Shibasaki konnte somit nur ein Provisorium hinterlassen.
Das Vermessungsamt erlegt Shibasaki und seinen Kollegen strengstes Stillschweigen auf, an das sich Shibasaki zeitlebens gehalten hat. Mit seinem Tode 1938 schien all sein persönliches Wissen mit ins Grab genommen worden zu sein. Beamte des Vermessungsamtes und Mitglieder des japanischen Alpenclubs überlieferten aber die Geschichte der Triangulation von Shibasaki weiter. Der Schriftsteller Nitta äußert sich selbst im Nachwort(20) zur Entstehung des Romans: Sein Herausgeber, der selber Mitglied eines Alpenclubs ist, habe ihm spontan alle notwendigen Materialien zur Verfügung gestellt und ihn angeregt, einen Roman über Shibasaki und seine Vermessung auf dem Berg Tsurugi zu schreiben. Auch ehemalige Kollegen sowie Kinder der Assistenten standen Nitta zur Verfügung. So entsteht im Jahre 1977 sein Vermessungsroman. 30 Jahre später, also im Sommer 2007, ist vom jetzigen Vermessungsamt, dem Geographical Survey Institute in Japan, das Jubiläum des hundertsten Jahrestags der trigonometrischen Messungen auf dem Berg Tsurugi begangen worden.(21) Der Vermessungspfeiler für den trigonometrischen Punkt „Berg Tsurugi“ wurde per Hubschrauber auf den Gipfel transportiert und der Name Shibasaki als zuständiger Vermessungsingenieur offiziell festgehalten. Gleichzeitig wurde der Plan für eine Verfilmung dieses Romans gefasst. Der Film wird voraussichtlich im Jahre 2009 ins Kino kommen.
4. Schluss
Ich habe versucht, anhand der Geschichte der Triangulation ein Beispiel der Wissenschaftsvermittlung zu zeigen. Unser Sektionsleiter Herr Prof. Naoji Kimura schreibt im Abstrakt unsrer Sektion: „Die heutige Wissensgesellschaft, die durch neue Medien, vor allem durch das Internet, zustande gekommen ist, erweist sich in der Tat als Ergebnis einer vernetzten Sozialstruktur und bringt eine neue Aufklärung hervor.“(22) Bereits im 19. Jahrhundert bauten Naturwissenschaftler ein universales Dreiecksnetz auf, und dieses gilt heute noch als wichtiges Fundament für die heutige Naturwissenschaft. Und Anfang des 20. Jahrhunderts vollendeten japanische Vermessungsingenieure mittels der deutschen Sprache und Technik die erste Dreiecksvermessung in Japan.
Es ist interessant, dass man gerade diese spannende Wissenschaftsgeschichte der Goethezeit wieder entdeckt und in literarischer Form erneut erzählt. Zwar tauchen interessante naturwissenschaftliche Figuren bereits in der Literatur der Goethezeit auf: Der Hauptmann in Goethes Wahlverwandtschaften führt trigonometrische Messungen durch und fertigt eine topographische Karte an. Im Roman von Jean Paul Dr. Katzenbergers Badereise, der im gleichen Jahr 1809 entstandenen ist, gibt es ebenfalls einen Mathematiker und Landvermesser namens Theudobach. In jener Zeit ist die Landesvermessung Zeichen eines rationalen Umgangs mit der Natur und Ausdruck zielgerichteter und damit vernunftgeleiteter Einteilung der Welt. Jetzt versucht man, anstelle fiktiver Figuren reale Porträts der bisher verkannten Naturwissenschaftler im historischen Kontext darzustellen. Das ist bemerkenswert, denn wie Goethe in seiner Farbenlehre schreibt, ist tatsächlich die Geschichte der Wissenschaften „eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen.“(23)
Anmerkungen:
1.8. Wissensvermittlung in Asien mittels der deutschen Sprache
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-02