TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 1.8. Wissensvermittlung in Asien mittels der deutschen Sprache
Sektionsleiter | Section Chair:
Naoji Kimura (Tokyo / Japan)

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Der Weg zum Bau eines “Kulturstaates“

Die Rolle der „Kultur“ bei der Rezeption der „deutschen“ Kulturwissenschaften
in Japan von 1900 bis 1945

Masao Sugiyama (Osaka Prefectural University) [BIO]

Email: sugiyama@las.osakafu-u.ac.jp

 

1. Das Gottesreich Japan

 „Es ist festzulegen, die seit Generationen ununterbrochene kaiserliche Genealogie in einem völkischen Konsensus für hochheilig zu erklären und auf immerdar weiterzuführen, so dass die Monarchie prinzipiell weder von oben noch von unten her antastbar wird, welche politischen Umwälzungen auch immer eintreffen mögen.“ (1)

So etwa formulierte Itō Hirobumi, einer der Väter des modernen Japans, 1869 seine Idee von der Staatsgründung. Eine Vergöttlichung der kaiserlichen Thronfolge hielt er für den sichersten Garanten staatlicher Autorität und die Tatsache der ununtergebrochenen kaiserlichen Linie sollte ein Beweis für das Vertrauen des Volkes auf die heilige Tugend der Tenno-Familie sein, was wiederum die Unverletzbarkeit der hierarchischen Ordnung gewährleisten sollte.

Das Argument von der heiligen Kontinuität des Tenno-Systems diente fortan immer mal wieder zur Idealisierung der „Kokutai“, einer „archaischen“ totalitären Staatsauffassung. Diese mystische Vorstellung überlebte sogar die Niederlage des Zweiten Weltkriegs. Japans Ministerpräsident Mori erklärte 2000 vor der Versammlung einer überparteilichen Parlamentariergruppierung für Schinto-Politik:

„Auf Seiten der Regierung, der ich nun angehöre, lässt sich eine gewisse Verzagtheit nicht leugnen. Wir bemühen uns jedoch mit aller Kraft, unserm Volk eindringlich zu vermitteln, dass Japan ein Gottesreich ist, in dessen Mitte sich der Tenno befindet.“ (2)

Wieso kann jemand heute noch vom Gottesreich reden? Da es sich offenbar nicht um einen Scherz handelt, müssen wir uns fragen, wie es dazu kam, dass führende Politiker in einer „modernen“ Demokratie derartige Auffassungen beibehalten können.   

2. Die Anfänge der Auseinandersetzung mit Europa

Von außen her betrachtet nimmt sich Japans Kultur nicht besonders homogen aus. Einerseits ist Japan ein Kirschblütenland mit seinen Geishas und dem Fuji, anderseits ein gigantischer Wirtschaftskoloss mit seiner Hochtechnologie. Dies ist keineswegs eine bloße Projektion des Betrachters von außen, sondern auch Japaner spiegeln sich relativ genüßlich in einem Selbstverständnis voller Widersprüche. Seit seiner Öffnung in der Meiji-Restauration versucht sich Japan mit einem Bekenntnis zum Westen als moderner Staat zu profilieren, während es gleichzeitig seine nicht-europäische Eigenshaft zu betonen versuchte. Dieser Balanceakt führte zu eigentümlichen Wechselbeziehungen zwischen Kulturvorstellungen und Staatsideen in Japan, um die es im Folgenden geht.

Wissen aus Europa fand sich in Japan schon vor seiner Öffnung. Im 16. Jh. hatten die Jesuiten viel vermittelt aus Bereichen wie etwa Astronomie, Geographie oder Anatomie. Überdies wurden aus China Übersetzungen von europäischen wissenschaftlichen Werken importiert und noch erleichterte konfuzianische Begrifflichkeit und Gedankenführung den Japanern das Verständnis. Schon um 1800 waren der Globus oder Kopernikus bekannt, und das asienzentrische Weltbild wurde revidiert, den weitverbreiteten shitoistischen oder buddhistischen Weltbildern zutrotz.

Nach der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts lieferten zunächst Europas Wissenschaften Munition im Kampf gegen die Feudalmacht. Doch die dann folgende massenweise Übernahme europäischer Ideen und der darauf aufbauenden Technik war viel mehr eine Verteidigungsmaßnahme gegenüber der Bedrohung durch die Kolonialmächte. Sie führte zu einer ersten Industrialisierung, zur Etablierung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems und selbstverständlich auch zu einer Militarisierung. Immer standen europäische Gedanken Pate. „Bunmei kaika“, die Bezeichung für Japans „Aufklärung“ in dieser Epoche, bedeutet „Öffnung zur, bzw durch Zivilisation“, Zivilisation, das bedeutete Verwestlichung des Lebens, von Nahrung und Kleidung bis hin zur sozialen Ordnung, es war eine von oben her verordnete Reform in allen nur erdenklichen Bereichen. Es war ein Schlagwort, das die Ablösung eines feudalen Systems durch ein absolutistisches legitimieren sollte.

Das Japan der Meiji-Zeit war anfangs anglophil orientiert. 70% der 1876 - 83 ins Ausland entsandten Studenten (insgesamt waren es 586) kamen nach England oder in die USA. (3) Britische, aber auch französische Denker, etwa J.S. Mill, H. Spencer, J. Bentham und J.J. Rousseau beeinflussten die japanische Intelligenz. Fukuzawa Yukichi plädiert für die Gleichheit aller Menschen, für die Abschaffung des zentralen Machtmonopols und für die Herausbildung einer Leidenschaft für Freiheit und Unabhängigkeit. Es entsteht eine Bewegung für Bürgerrechte, für ein Parlament und für eine Verfassung, die „Jiyūminkenundō“ (1874-92). Sie organisierte Demonstrationen und Petitionen und erreichte schließlich 1890 die Verkündigung einer „Verfassung für das Kaiserreich Großjapan“.

 

3. Die Hinwendung zu Deutschland

Der absolutistisch organisierten Staatsmacht wurden diese liberale Tendenzen natürlich ziemlich gefährlich. Zwar gelang es ihr 1892, diese Bewegung mit Gewalt weitgehend zu eliminieren, doch die Quellen, aus denen sie sich speiste, waren ja damit nicht versiegt. Sie unter konstanter Kontrolle zu halten erforderte offensichtlich eine andere Kulturpolitik. Aber worauf aufbauen? Ein Zurück zur Vergangenheit gab es nicht mehr: man musste im Ausland nach Alternativen Umschau halten. Hier bot sich das Neue Deutschland an. Schon 1871-73, auf ihrer Erkundungsreise in westliche Staaten, hatten Protagonisten der ersten Meiji-Regierung wie Iwakura Tomomi, Kido Takayoshi, Ōkubo Toshimichi oder Itō Hirobumi den Eindruck gewonnen, dass Preussen, vor Jahrzehnten noch ein bitterarmes Land, von mächtigen Nachbarn umringt, und doch bereits eine Industriemacht geworden, ein Vorbild für Japan werden könnte. Zweierlei faszinierte an diesem Land. Es war eine straff organisierte monarchische Machtstrukturen mit einer von Europa abweichenden Staatsidentität, und es war doch eine europäische moderne Nation, so wie es jetzt auch Japan werden wollte. Die Situation hier war ja noch prekärer: Wie konnte ein Land ein europäisches werden, das gegraphisch am Rande der Welt lag und überdies nicht christlich geprägt war, sondern schintoistisch, konfuzianisch und buddhistisch?

Man begann mit der Institution. Inspiriert von Preussens Sieg über Frankreich ließ man 1878 das Militär, das anfangs nach französischem Vorbild geschaffen war, von dem preussischen Major J. Meckel reorganisieren. 1881 forderte Inoue Kawashi (1843-1895), der maßgeblich an der Militär- und Erziehungsgesetzgebung (dem Kaiserlichen Edikt für Soldaten [Gunjin-chokuyu 1882] oder „dem Kaiserlichen Erziehungsedikt“ [Kyōiku-chokugo 1890] beteiligt und für den preussischen Einschlag in der Verfassung mitverantwortlich war, die Abwendung vom angelsächsischen und französischen Denken und eine Hinwendung zum konfuzianischen und deutschen. Während die anderen westlichen Mächte revolutionäre, nämlich demokratische Gedanken propagierten, stünde Deutschland mit seinem autokratischen Staatsaufbau dem japanischen Kaiserreich näher, denn hier wie dort deckten sich Staatsgewalt und Thron. (4)

Der 1890 an die Kaiserliche Universität berufene erste Philosophieprofessor Inoue Tetsujiro gehörte zu der ersten Generation, welche die Meiji-Regierung zum Studium nach Deutschland geschickt hatte. Er sudierte bei Kuno Fischer und lehrte vornehmlich über Schopenhauer und Kant, aber auch asiatische Ethik. Ihn kennzeichnet ein bedingungsloses, begeisterndes Engagement für die moralische Absicherung des herrschenden Staatssystems. Sein berühmtes „Chokugo-engi“ (1891), ein Kommentar zum kaiserlichen Erziehungsedikt (eine Auftragsarbeit für die Regierung), macht der Bevölkerung ein Lernen zur Pflicht, das der Aufrechterhaltung der sakrosankten Ordnung zu dienen habe und daher Aufopferung für den Tenno gebiete.

Inoues Berufung brachte mit Einwirkung von anderen europäischen Philosophie-Lehrkräfte wie E. F. Fenollosa, L. Busse oder R. Koeber, wirklich die Wende, welche die Machthaber schon seit einem Jahrzehnt angestrebt hatten. Die deutsche Philosophie etablierte sich nach und nach als eine Art Staatswissenschaft, wie Inoue selbst aussagt.(5) Die neue Orientierung an deutscher Wissenschaft ging Hand in Hand mit einer imperialistischen Strategie, die Japan über eine Reihe von Kriegen verfolgte. Denn wollte man als ein asiatisches Land eine Koloniepolitik nach europäischem Muster betreiben, dann reichten zur Besänftigung der Großmächte die politischen Argumente nicht aus. Eine aggressive Expansionspolitik benötigte einen intellektuellen Unterbau: Japan durfte nicht als rückständiges Entwicklungsland erscheinen, sondern musste sich als aufgeklärten Staat geben, dessen Intelligenz mit den zeitgenössischen Diskursen nicht nur vertraut war, sondern auch daran teilnehmen konnte.

 

4. Ähnlichkeiten in den Unterschieden

Preussen und die von dort aus definierte deutsche Kultur erschienen besonders geeignet, diesen Anforderungen Genüge zu leisten. Seine in Hegel gipfelnde Staatstheorie  hatte durchaus autokratische Züge und ließ sich mit geringfügigen Modifikationen auch zur Legitimierung eines absolutistischen Systems heranziehen. Gleichzeitig hatte die komplexe Methodik der deutschen Philosophie sich den Ruf hoher Wissenschaftlichkeit verschaffen können. In Japan verfiel man immer stärker der Faszination dieses Denkens. Deutsche „Wissenschaftlichkeit“ wurde nach und nach auch zu einem japanischen Ideal, und in der akademischen Welt galt deutsche Methodik als das Gelungenste. Aber wie nahe stand man sich wirklich?

Preussen war soeben zu einem Nationalstaat expandiert, unter Anbindung an eine tausendjährige Tradition, das Deutsche Reich, das jetzt wiederaufstand, freilich in neumodischer Kleidung – war dies nicht auch Japans Situation? Der Westen sah in Preussen wie in Japan einen Emporkömmling, den Werten der Moderne abhold, der Demokratie etwa oder dem Menschenrecht. Was war dem entgegenzusetzen? In Preussen, meint  Helmuth Plessner, war dies eine „fragwürdige Obrigkeitsfrömmigkeit des Einzelnen und Staatsfremdheit im Ganzen“ (6), ein Produkt des Augsburger Reichs- und Religionsfriedens von 1555, „cuius regio eius religio“. Wenn Staaten so tief in die Intimsphäre ihrer Bürger eindringen, entsteht eine Hörigkeit gepaart mit innerer Entfremdung. Der Staat wird nicht mehr als organische Einheit erlebt, sondern nur noch mythisch vorgestellt wie in Herders oder Fichtes „Urvolk“, dessen Grenzen die der Staaten sprengen. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt in einen romantisierenden Nationalismus, in dem einerseits man keinen Krieg scheut, aber andrerseits eine Innerlichkeit zukommt, welche die profane Form der Frömmigkeit, die Philosophie, bedient, und die sich an sie anlehnenden Wissenschaften. Und die Kultur, Philosophie ist ja die Quintessenz der Kultur, gewann eine besondere Stellung unter den Deutschen.  Plessner beschreibt wie folgt:

„Kultur, der deutsche Inbegriff für geistige Tätigkeit und ihren Ertrag im weltlichen Felde, ist ein schwer zu übersetzendes Wort. Es deckt sich nicht mit Zivilisation, mit Kultiviertheit und Bildung oder gar Arbeit. Alle diese Begriffe sind zu nüchtern oder zu flach, zu formal bzw. «westlich» oder an eine andere Sphäre gebunden. Ihnen fehlt die Schwere, die trächtige Fülle, das seelenhafte Pathos, das sich im deutschen Bewußtsein des 19. und 20. Jahrhunderts mit diesem Wort verbindet und seine oft emphatische Verwendung verständlich macht.“(7)

Diese Enthusiasmus über deutsche Wissenschaften oder der Gedanke der Tiefe, die mit ihnen einhergeht, packte die japanische Intelligenz stark.

 

5. Kulturelle und politische Folgen

Um die Jahrhundertwende herum gehörte in der Tat in gebildeten Kreisen die Kenntnis deutscher Philosophie zum Wissensbestand, und es machte sich unter Japans Intellektuellen zunehmend ein Kulturverständnis bereit, das deutschen Vorstellungen von Bildung entsprossen war. Als Beispiel für die damalige Bildungseuphorie mag „Santaros Tagebuch“ von Abe Jiro dienen, das unter dem Goethe-Motto steht: „Es irrt der Mensch, solange er strebt“. Diese „Leiden eines jungen Akademikers“, der sich philosophisch und ästhetisch in sich selbst versenkt, entwickelten sich fast zu einer soziokulturellen Epidemie und blieben 30 Jahre lang ein Bestseller unter Ästheten. Zu einer Bedrohung für die Staatsmacht wurden sie niemals, da sie den Intellekt im Namen des jinkaku shugi (Persönlichkeitsverehren) in eine Passivität manövrierten, in der er sich selber den Eingriff in Ausbeutungsprozesse verbot. (8)

Ähnliche Denkströmungen blieben ähnlich harmlos. Japaner, die in Deutschland unter Neukantianern studiert hatten, etwa Kuwaki Genyoku oder Sōda Kiichiro, wurden zu „Kulturalisten“ (bunkashugi) oder „Bildungs-Verehrern“ (kyōyōshugi). Hier werden Persönlichkeit, Bildung und Kultur zu einer Art Trinität aufgemotzt: „Durch die Formung der Seele in ihrem kulturellen Umfeld erhebt sich das Individuum zur Allgemeinheit, indem es jetzt die kulturellen Werte begreift und sich so zu einer ganzheitlichen Persönlichkeit entwickelt, wodurch wiederum eine Harmonie entsteht zwischen Individualität und genereller Einheit“.(9)

Nicht alle Intellektuelle waren allerdings Wirklichkeits-Flüchtlinge in diesen von Krisen und Kriegen erschüttelten Zeiten. In den 20er Jahren, bekam revolutionäres und marxistisches Gedankengut auch in Japan Zulauf, und die Zahl der Arbeitskonflikte nahm zu. Selbst so konservativen Denkern wie den Philosophen der Kyoto-Schule blieben marxistische Ideen nicht ganz fremd. Mithin verschärfte sich die politische Kontrolle des Denkens stetig, und es gelang sogar, mit polizeilichen Maßnahmen liberales Denken weitgehend zu isolieren.

Doch das reichte nicht. Wollte das Tenno-System, ein nach außen hin sich modern gebender Staat, nicht von den Fluten neuerer Ideen hinweggespült werden, dann bedurfte es einer konkreten ideologischen Begründung seiner hierarchischen Strukturen. Diese Aufgabe musste natürlich Denker reizen, die sich mit Fragen der Kultur auseinandersetzten. Indem sie sich intensiv mit europäischem Gedankengut befassten, erfanden sie nach und nach jene japanische „Einzigartigkeit“, die immer noch als Japan-Bild projiziert wird und im Unterbewusstsein der meisten Japaner mitschwingt.

 

6.  Ideologie der Gemeinschaft: Watsuji Tetsuro

Der Kulturhistoriker und Ethiker Watsuji Tetsuro (1889–1960) war sehr erfolgreich in diesem Unternehmen. Wir beschränken uns hier auf seine Überlegungen zu Familie, Gemeinschaft und Staat, vor allem in seiner „Ethik“ (rinrigaku, 1937) expliziert. Er definiert die Ehe als eine Zweier-Gesellschaft, welche ein wechselseitiges Eindringen in die Tiefen der Existenz nicht bloß ermöglicht, sondern erfordert. (10) In Anlehnung an Hegels „Grundlinien einer Philosophie des Rechts“ gewinnt die Ehe eine Über-Individualität allein schon aus dieser Intimität.

Doch Watsuji geht es nicht um diese, sondern um die Gemeinschaftlichkeit, die sich ergibt, indem die Abgeschlossenheit des Systems – bedeutet die sexuelle Treue der Frau - egoistische Tendenzen stark unterdrückt. (11) Dies gilt auch für die Dreier-Gesellschaft nach der Geburt eines Kindes, denn in einer Eltern–Kinder–Beziehung wird stets eines durch das andere vermittelt. Je schärfer so die Privatsphäre eingeschränkt wird, desto intensiver wird das Gemeinschaftserleben.(12) Verstärkt wird dies durch eine zeitüberschreitende Dimension: Die Familie ist eine biologische Gemeinschaft, die schon vor einer Eheschließung besteht und die den Tod ihrer Mitglieder überlebt. Während Blutsverwandtschaft bei Hegel nur als natürliche und zeitweilige Gegebenheit erscheint, die keinerlei Sittlichkeit (Jinrin) zu begründen vermag(13), rückt sie bei Watsuji ins Zentrum der Ethik: Sie bildet einen hierarchischen Mikrokosmos heraus, der den staatlichen Makrokosmos fundiert, dessen Struktur mit der kaiserlichen Genealogie als Rückgrat den Proportionen der Familie verhaftet bleibt. (14)

Doch dieses Ethos läuft noch immer in die Gefahr, dass es sich von außen her zersetzt, falls es sich herumtreibt. Darum muss es an einen Ort gebunden werden, und dieser Ort ist für Watsuji Ie, das Haus. Haus und Familie bedeuten im Japanischen fast dasselbe, und zwar nach Watsuji die in einem Ort verankerte Gemeinschaft, die durch den gemeinsamen Besitz von Boden, Kultur und Geist gekennzeichnet ist. Dieses Konstrukt wird erweitert zu einer Kultur-Gemeinschaft (bunka kyōdōtai) mit einer Raum-Zeit-Struktur aus Boden und Kultur, die alle Aspekte menschlicher Existenz vorherbestimmt. Kultur bedeutet hier Sprache, Kunst, Wissenschaft und Religion, und ein Volk ist dann, abgesichert durch die Sprache, eine ideelle Gemeinschaft:

„Erst im Volk entsteht eine Dimension, in der ein Mensch eines Heiligen gewahr wird, wenn er sich ihm zu öffnen vermag. Und was er dann vom Bewusstsein her als Göttlichkeit auffasst, ist die lebendige Ganzheit des Volkes.“ (15)

In Verwendung von den Wörtern wie Blutverwandtschaft, Boden oder Volk lässt sich die Verwandtschaft mit der Nazi-Ideologie zweifellos erblicken.(16)

Je lauter so Japanizität herumgesprochen wird, desto stärker werden Anklänge an Ideologien, die das Dritte Reich festigen sollten. Was hier entfällt ist die bürgerliche Gesellschaft, die Hegel zwischen Staat und Familie schaltet, die der „Vorsorge gegen die in diesem System zurückgebliebene Zufälligkeit“ dient, und der „Besorgung des besonderen Interesses als eines gemeinsamen“(17). Watsuji bemängelt, dass Hegel die Perspektive der wirtschaftlichen Entwicklung so stark betont, dass der Verlust an Sittlichkeit schließlich nur durch bürgerliche Instrumente wie Polizei und Gerichte kompensiert werden kann. Erst recht zuwider sind ihm Marx’ Konsequenzen aus diesem Mißstand. Für ihn ist der moralische Verfall der Gesellschaft nur umkehrbar durch eine Überdenkung des Eigentumsbegriffs und durch eine machtvolle staatliche Kontrolle, die den Menschen so in die Glieder fährt, dass es der Polizei kaum noch bedarf. Er will die Menschen ethisch organisieren, nicht nach ökonomischen Maßstäben. (18)

Darum reduziert er Hegels Konzept der bürgerlichen Gesellschaft auf eine an ihren Wohnort gebundene Gemeinschaft, die ihrem Über-Begriff „Volk“ unterstellt ist. Während es bei Hegel die Arbeit ist, die zwischen den zu befriedigenden Bedürfnissen des Einzelnen und denen aller Übrigen vermittelt(19), verharmlost sich bei Watsuji dieser Vorgang: aus der Sicht einer Geistes-Gemeinschaft geht jedes Einzelbedürfnis völlig darin auf. Zwar lässt die Gesellschaft auch Persönlichkeit zu, allerdings nur innerhalb ihres Zusammenschlusses, welcher keinen egoistischen Ausbruchsversuch erlaubt.

„Es ist der Staat, der jeglicher Gemeinschaft, von der Familie bis zur Kulturgemeinschaft hin, in seiner Schichtstruktur den ihr angemessenen Platz bereithält und dabei ein Netzwerk entwickelt, das einerseits die Gemeinschaften absichern kann und ihnen andrerseits Einsichten vermittelt, und zwar in die Sittlichkeit dieses Systems. Der Staat ist ein sich seiner selbst bewusstes Ethos.“ (20)

 

7. Gedankenspiele im Dienst der Politik

Watsujis für damalige Verhältnisse ungewöhnlich „moderne“ Argumentation, die ihre Schulung an westlichem Denken ständig hervorkehrt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ein eklektizistisches Machwerk, denn Watsuji pickt sich überall nur solche Gedanken-splitter heraus, die seiner opportunistischen Behauptung passen. Die Struktur seiner Lehre ähnelt der Staatslehre des Konfuzius, die im Ta-hsüeh, einem neukonfuzianischen Text, ungleich klarer formuliert ist:

„Wenn das individuelle Leben kultiviert ist, dann ist die Familie in rechter Ordnung. Wenn die Familie in rechter Ordnung ist, dann sind die Länder richtig regiert; Wenn die Länder richtig regiert sind, dann ist das ganze Reich in Frieden.“ (21)

Vorausgesetzt wird eine unumstößliche Ordnung von der Person über Familie und Land bis hin zum Reich, die beherrscht wird von konfuzianischer Ethik. Bildung bedeutet hier In-sich-Gehen, denn würde sie sich nach außen wenden, könnte sie die Ordnung ja gefährden.

Als die 44-jährige Meiji-Ära 1912 mit dem Tod des Herrschers vorbei war, hatte Japan bereits zwei Kriege hinter sich und sein Gebiet um Korea und Taiwan und um Teile von China erweitert. Zu verdanken hatte es dies europäischem Wissen, und seine Intelligenz war immer noch bestrebt, zwar nicht in Europa aufzugehen, aber doch sich dort zu etablieren.

Doch die Beziehungen zu Europa kühlten sich in dem Maße ab, wie sich Japan in dessen Interessen in China einmischte. Nun verbreitete sich in Japan wachsende Skepsis seinem langjährigen Modernisierungsprojekt gegenüber, die auch durch westliche Interventionen gefördert wurde, welche das imperiale Gebaren eindämmen sollten. 1933 kam es zum Skandal, als die Lytton-Kommision die Errichtung Manchukuos nicht absegnen wollte, und Japan den Völkerbund verließ. Daraufhin spitzten sich auch die Gegensätze zu den Vereinigten Staaten zu, die sich anschickten, Japans Vorhaben in China mit allen Mittel zu entmutigen. In der Folge stieg nicht nur die militärische Spannung, sondern auch die Enttäuschung der Intelligenz, die ein westliches Wertesystem verinnerlicht hatte, nämlich europäisches, vor allem deutsches Denken und einen kolonialen Imperialismus. Dass dieser bald ungebräuchlich sein würde, kam ihr nicht in den Sinn.

Ganz im Gegenteil. 1943 verkündete die japanische militärische Regierung lauthals, eine Einrichtung schaffen zu wollen, die „Großostasiatische Wohlstandssphäre“ (Dai tōa kyōei ken), welche die Länder Ostasiens zu einer Einheit verschmelzen sollte, die unter japanischer Vormundschaft stand. Diese Erklärung sollte weniger die imperialistische Intention bemänteln als die zum Großteil von kolonialer Ausbeutung ausgezehrten Länder Asiens für sich gewinnen. Japan sollte nicht nur außenpolitisch, sondern auch ideologisch Europa ebenbürtig sein. Die Eroberung von den anderen asiatischen Ländern durch Japan benötigte irgendwelche berechtigt klingende Begründung:

 

8. Hegemoniale Dialektik: Nishida Kitarō

Nishida hingegen, war eher ein Bahnbrecher der Globalisierung der Philosophie in Japan. Ihm war die Welt bedrohlich nahe gerückt, gerade in ihrer Zersplitterung in Nationen und den daraus folgenden Konflikten: „Heute ist die Welt konkret geworden, sie ist nicht mehr ein Abstraktum oder Begriff, sondern Realität.“ (22) Wie Europa einst im Römischen Reich auf einer christlichen Grundlage entstand, so erstand jetzt aus dem Angelsächsischen Welthandelsreich auf einer wissenschaftlichen Basis „die Welt“. Diese verlange von Japan gewisslich Nationalismus, aber einen übernationalen: „Die japanische Kultur muss universal werden, sie ist nicht für den Eigengebrauch da. Die brennende Frage ist, ob wir dies schaffen.“ (23) Nishida wendet sich durchaus gegen Tendenzen zur Abschaffung von Individuum, Freiheit und Ratio, denn will man philosophisch auf Weltniveau kommen, darf man dessen Geschichtlichkeit nicht negieren. Es geht „weder um eine Verneinung der östlichen Kultur durch die westliche oder das Umgekehrte, noch um eine Integration der einen in die jeweils andere“, sondern es gelte, so tief in die Kulturen einzudringen, dass ihre universelle Substanz erkennbar wird. (24) Da sich der Westen  an der irren Idee von seiner eigenen Universalität berausche, ist er zu diesem Unternehmen nicht bereit: diese Aufgabe falle Japan zu.

Die Vorstellung von einer asiatischen Familiengemeinschaft unter der väterlichen Leitung von Japan, „hakkō ichiu“ ist Nishida also keineswegs fremd. Nicht jedes Volk hat ein Recht auf einen Staat: „Nur wer seine eigene, unverwechselbare Geschichte hervorbringen kann, hat auch Anspruch auf Souveränität.“(25) Japans Eidos müsse anderen Nationen zur Selbstfindung verhelfen, um in der Weltgeschichte einen Platz zu gewinnen. Doch darf Japan nicht Asien beherrschen wollen, denn dann würde ja aus dem Tenno ein Imperator.(26) Nishidas Japan-Prinzip, die Tenno-Herrschaft, bleibt in Ermangelung von jeder Macht stets eine im Verborgenen wirkende Kraft, die gleichwohl überall in Japans Geschichte zu spüren. Sie existiert also und existiert auch wieder nicht. Für Nishida ist dies ein ganz normaler Fall von „widersprüchlicher Selbstidentität (mujyunteki jikodōitsu)“. An Hegel geschult, beschäftigt er sich intensiv mit aller nur erdenklichen dialektischen Aufhebung von Begriffen. Zwar nützte seine Dialektik dazu,  unlösbare Gegensätzen durch seinen gedanklichen Mechanismus magisch zu beseitigen. Die akuten Probleme der Gesellschaft, etwa die Unverantwortlichkeit der herrschenden Macht oder die vielfältigen Formen der Exploitierung, werden jedoch in diesem Denken nirgends berührt.

Nicht wenige Ideen dieser Zeit entstanden in den Köpfen einer Schule, die sich um Nishida herum gebildet hatte. Obwohl nicht aktiv in die Kriegspolitik involviert, genoß er den Ruf eines „Überwinders“ der europäischen Philosophie, der seinen Adepten ziemlich freie Hand ließ, die „Neue Weltordnung“ philosophisch zu untermauern. Zur Illustration mag die Geschichts-philosophie von Nishitani Keiji dienen, die an das Geschichtsbild von Niebuhr und Ranke anknüpft, das letztlich natürlich auf Hegel zurückweist. Ihr zufolge hatte das moderne Europa seine Geltung über die ganze Welt ausdehnen können. Dadurch tritt es als einzig und allgemeingültig in der heutigen Welt auf. Es hatte dabei der Welt ein Geschichtsbewusstsein vermittelt, das durch den Auftritt Japans auf der Weltbühne freilich entlarvt wird, und zwar als Machwerk zu eigenem Nutzen. Japan durchschaut  europäische Färbung der gegenwärtigen Welt. Deshalb ist auch nur den Japanern jetzt bewußt, dass die Welt verändert werden muss: die Weltgeschichte hat sie dazu berufen.(27)

Tanabe Hajime studierte bei Heidegger und wurde von Nishida 1919 zum Associate Professor der Universität Kyoto berufen. Er kritisiert individualistischen Liberalismus und ethnischen Nationalismus und stellt Dialektik der Logik der Art auf, die behauptet, dass das Substrat der Art, nämlich Volk, und das individuelle Subjekt durch die negative Vermittelung zwischen den beiden an der Gattung des Staates eins wird.(28) Individuum wird Staat und Staat Individuum, was eine Philosophie des Todes für den Staat zur Folge hatte, machte doch die bedrohliche Kriegssituation die Hoffnung des Errichtens eines Kulturstaates aufgrund einer neuen Weltordnung zunichte. Man sollte nun für den Staat sterben. Tanabes Philosophie sollte den ins Feld ziehenden Leuten jedes Zögern nehmen, weil Tod nicht mehr eine persönliche Angelegenheit, sondern eine staatliche. ” Und sogar ein namenloser Mensch lässt sich durch den Tod für Volk zur Höhe des Staates menschlicher Bedeutung befördern.”(29)  Damit sollte der letzte Werdegang Japans zum Kulturstaat mit dem Aufgeben aller bisherigen intellektuellen Bestrebungen zum Zusammenbruch verdammt werden.

 


Anmerkungen:

1 Itō Hirobumi, Kokuze kōmoku.In:Kenryoku no sisō,Gendai Nihon Sisō Taikei 10, 1965,Chikumashobō Verlag, S.105.           
Die folgenden Übersetzungen ins Deutsche stammen alle von mir.
2  http://jinja.jp/jikyoku/kaminokuni/kaminokuni2.html
3 Tanaka, Akira: Iwakura-shisetsudan Ōbei-kairan jikki,. 2002, Iwanami -Verlag, S.107
4Furuta weist auf einen politischen Vorschlag über Manipulation des Volkes (Jinshin-iken-kyōdōan) hin, der 1881 von Inoue gemacht wurde. Sieh.”Kindai-nihon no tetsugaku”, hrsg.v.M.Furuta u. T.Suzuki, 1985, (Erstauflage) 1983, Kitaju-Shuppan, S.35.
5 Inoue, Tetsujiro: Meiji Tetsugakukaino kaiko In: Tetsugaku shisou Nihon gendai sisou taikei 24, 1965, Chikuma shobou, S. 56-57
6 Plessner,H., Die verspätete Nation In: Gesammelte SchriftenⅥ (Die Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes), 2003, (Erstauflage 1959, ursprünglich 1939) Suhrkamp, S. 51.
7 Plessner, ibid, S. 82.
8 Takeuchi, Yoshitomo(Hrsg.), Shōwa Shisōshi, Minerva Shobō Verl., 1958,  S.257
9 Nihon Kindai Tetsugakushi, hrsg.v.Arakawa, Ikuo u. Miyagawa, Tōru, 1976, Yūhikaku-Verl.,S.206.
10 Watsuji Tetsuro, Rinri-gaku (Bd. 1) In:Watsuji Tetsuro Zenshu, Bd. 10, 1937, (Erstauflage 1927) , Iwanami Verl., S.336.
11 Watsuji, Rinri-gaku (Bd. 1), S. 373.
12 ibid, S.392.
13 ibid, S. 420, Vergleich: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Paragraph 177,
14 Watsuji, Rinri-gaku (Bd. 1), S.431.
15 ibid, S. 588.
16 Die erste japanische Übersetzung von “Mein Kampf“ erschien 1940 und die von ”der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts" 1938.
17 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Paragraph 188.
18 Watsuji, Rinri-gaku, S. 503.
19 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Paragraph 188.
20 Watsuji, Rinri-gaku, S.595. In diesem Zusammenhang sagt Hegel: „Indem er (der Staat) objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen.“ Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Paragraph 258.
21 Übersetzt von Brüll, Lydia: Die japanische Philosophie  eine Einführung. 1989, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 78.
22 Nishida Kitorō, Nishida Kitarō Zenshū, Bd.14, Iwanami Verlag, 1966,S. 396.
23 Nishida Kitarō Zenshū , Bd. 14, S. 397.
24 Nishida Kitarō Zenshū , Bd.,12, S.391.
25 ibid, S.404.
26 ibid , S.341.
27 Mori, Tetsurō (Hrg): Sekaishi no ronri - Kyoto gakuha no rekisi tetsugaku ronkō, 2000, Tōeisha, S.17-19.
28 Tanabe, Hajime: Kokkateki sonzai no ronri, In: Tanabe Hajime Zenshū, 1963, Bd.8, S. 87-88. Sieh: Koyasu, Nobukuni: Nihon nashonarizumu no kaidoku, 2007, Hakutakusha Verl., S.187-206.
29 Tanabe, Hajime: Rekishiteki Genjitsu, In:Tanabe Hajime Zenshū, Bd.8.,S.155-156.

1.8. Wissensvermittlung in Asien mittels der deutschen Sprache

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Masao Sugiyama: Der Weg zum Bau eines “Kulturstaates“. Die Rolle der „Kultur“ bei der Rezeption der „deutschen“ Kulturwissenschaften in Japan von 1900 bis 1945 - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-8/1-8_sugiyama17.htm

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