Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Januar 2010 |
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Lachen und Ernst |
Integraler Humor -
Lachen und Weinen im Spannungsfeld menschlicher Bewusstseinstendenzen
Jan Dirks (Seoul National University, Korea)
Email: jhdirks@yahoo.de
In Wirklichkeit gibt es niemals Widersprüche,
weder scheinbare noch reale,
sondern lediglich Stufen des Humors.(1)
Abstrakt
Das Phänomen Humor hat unendlich viele Dimensionen. Immer bewegt es sich im Spannungsfeld grundlegender menschlicher Bewusstseinstendenzen: zwischen Distanzierung und Einfühlung, zwischen Objektivierung und Subjektivierung, zwischen Degradierung und Aufwertung, zwischen scharfsinniger Weisheit und warmherzigem Mitgefühl, aber auch zwischen Repression und Regression.
Lachen und Weinen können als körperliche Symptome, als unmittelbare Ausdrucksformen dieser jeweils polar entgegengesetzten Bewusstseinsbewegungen verstanden werden. Sie sind zum einen Ausdruck des Verhältnisses zwischen Individuum und Welt, denn sie spiegeln die Tendenzen der Selbstbehauptung (Streben nach Abgrenzung und Individualität) und der Selbstanpassung (Streben nach Integration und Verbundenheit mit der Welt) wieder. Zum anderen verweisen sie als extreme, nonverbal geprägte „Katastrophenreaktionen“ immer auch auf Bewusstseinsebenen außerhalb des logisch-rationalen Alltagsbewusstseins, nämlich auf das Transrational-Überbewusste oder aber das Prärational-Unbewusste, und stehen somit im Zusammenhang mit den grenzüberschreitenden, bewusstseinserweiternden Tendenzen der Selbsttranszendenz und der Selbstimmanenz.
Auf Grundlage gängiger Humortheorien (z. B. Koestler, Plessner, Bachtin) sowie verschiedener Konzepte zur Bewusstseinstransformation (vor allem Ken Wilber) versuche ich in diesem Beitrag, das psychische Spannungsfeld, in dem sich das Phänomen Humor entfaltet, neu zu beleuchten und ein integrales Modell zu entwerfen, in welchem sich die grundlegenden Bewusstseinstendenzen des menschlichen Humors verorten lassen – wenn man so will, eine Art „Koordinatensystem“ des Humors.
1. Vorbemerkung
Humor wird oftmals definiert als die Fähigkeit, über etwas zu lachen oder jemanden zum Lachen zu bringen. Und so sind das Lachen und die Bedingungen, unter denen es zustande kommt, naturgemäß Hauptgegenstand der meisten Humortheorien. Wenn ich nun in diesem Aufsatz von „integralem“ Humor spreche, dann geht es mir vor allem darum, bei der Betrachtung des Humors auch den Gegenpol des Lachens, das Weinen, wieder verstärkt in die Überlegungen mit einzubeziehen.
In allen Kulturen werden Lachen und Weinen als komplementäre Gegensätze verstanden, die sich ineinander spiegeln und auseinander hervorgehen. „Lachen, Weinen, Lust und Schmerz sind Geschwisterkinder“ schreibt Goethe.(2) „Wer nicht weinen kann, kann auch nicht lachen“ hebt der indische Guru Osho in seinen Werken wiederholt hervor.(3) Lachen und Weinen ähneln sich auch in ihrem physiognomischen Ausdruck, wie unter anderem Darwin genauer untersucht hat.(4) Und der japanische Philosoph und Schriftsteller Makato Ozaki, ein Schüler von Roland Barthes, weist im Rahmen seiner Betrachtungen zur Figur des Clowns darauf hin, dass die kindliche Wahrnehmung zwischen Lachen und Weinen noch nicht klar unterscheidet.(5) Ein umfassendes Verständnis des menschlichen Humors erfordert ein vertieftes Bewusstsein für die kreisende Polarität und wechselseitige Bedingtheit des Lachens und Weinens, die beide als universale menschliche Verhaltensweisen und als physisch-psychische Extremreaktionen jenseits sprachlich-rationaler Ausdrucksmittel den Menschen aus seiner gefassten Haltung werfen und in den Bereich intensivster seelischer Erfahrungen führen können.
Unter den moderneren humortheoretischen Ansätzen, welche Lachen und Weinen in einem Zusammenhang untersuchen, spielen vor allem die Arbeiten von Helmuth Plessner (1941: Lachen und Weinen) und Arthur Koestler (1966: Der göttliche Funke. Im Original: The Act of Creation) eine wichtige Rolle. Sie sollen daher im Rahmen dieses Aufsatzes verstärkt Berücksichtigung finden.
Mit dem Begriff eines „integralen“ Humors stelle ich meine Betrachtungen außerdem in einen Zusammenhang mit der sogenannten „Integralen Bewusstseinsforschung“. Dieser Ansatz befasst sich besonders mit Fragen der menschlichen Bewusstseinsevolution und wird vor allem durch den amerikanischen Philosophen und Psychologen Ken Wilber vertreten. Wilber – wenngleich in seinem kühnen Anspruch, ein allumfassendes, eben „integrales“ Modell der gesamten Wirklichkeit zu entwerfen, gewiss nicht unumstritten – liefert meines Erachtens sehr hilfreiche theoretische Ansätze zu einer systematischen Darstellung der vielschichtigen Dimensionen des menschlichen Bewusstseins.(6)
Ich werde in meinen Ausführungen wie folgt vorgehen. Zunächst werde ich die Grundzüge von Wilbers Holontheorie und die damit zusammenhängende Konzeption der vier psychischen Grundtendenzen (Selbstbehauptung, Selbstanpassung, Selbsttranszendenz und Selbstimmanenz) darstellen (Abschnitt 2).
Auf der Grundlage der Theorien Koestlers und Plessners sollen dann die Phänomene des Lachens und Weinens in ihrer Polarität betrachtet und mit den Tendenzen der Selbstbehauptung und Selbstanpassung in Verbindung gebracht werden, welche in Wilbers Modell die horizontale Achse der Translation (Beziehung zwischen Individuum und Welt) bilden (Abschnitt 3).
Anschließend werde ich Lachen und Weinen in Bezug setzen zur vertikalen Achse in Wilbers Modell, nämlich zur Dimension der Bewusstseinstransformation (Bewusstseinserweiterung und -vertiefung) und den Tendenzen der Selbsttranszendenz und der Selbstimmanenz (Abschnitt 4).
Zum Schluss werde ich dann versuchen, die grundlegenden Aspekte meiner Betrachtung in einem Modell zusammenzufassen und dabei (unter anderem mit Bezug auf Bachtin) den integralen Aspekt des Humors noch einmal verstärkt hervorheben (Abschnitt 5).
2. Das menschliche Selbst als Holon und die vier Grundtendenzen menschlichen Bewusstseins
2.1. Holontheorie
Der amerikanische Philosoph Ken Wilber geht in seinem Hauptwerk „Eros, Kosmos, Logos“ unter anderem der von Naturwissenschaft und Philosophie Jahrhunderte lang diskutierten Frage nach, welches die grundlegenden Entitäten sind, aus denen die Wirklichkeit besteht. Der Atomismus sucht nach winzigen Bausteinen, welche die nicht reduzierbare Grundlage der Realität bilden. Dem gegenüber steht die Sichtweise des Holismus, der diese einzelnen Teile als unvollkommen, und stattdessen das große Ganze als letzte Wirklichkeit betrachtet. Für den Atomismus sind nur die Teile, für den Holismus nur das Ganze die eigentliche, die ultimative Realität. Wilber versucht, diesen Antagonismus zu überwinden, indem er den von Arthur Koestler geprägten Begriff des Holons aufgreift (Wilber 2001, 54-57). Ein Holon ist Ganzes und Teil zugleich, nämlich ein eigenständiges Ganzes, das immer auch Teil eines größeren Ganzen ist.(7) Wilber stellt die These auf, dass jede Wirklichkeit nicht aus Ganzen oder Teilen, nicht aus Dingen und auch nicht aus Prozessen besteht, sondern stets aus Holons, also aus Ganzen/Teilen. So setzt sich beispielsweise ein Atom aus Teilen (Protonen, Elektronen, Neutronen) zusammen und ist für sich genommen ein Ganzes, aber zugleich der Teil eines Moleküls, welches somit selbst wiederum ein Ganzes bildet, aber nur der Teil einer Zelle ist. Und so weiter. Eine solche Verschachtelung oder „Holarchie“ ist nach oben hin (immer umfassendere Ganze) und nach unten hin (immer kleinere Teile) unendlich.
Alle nur vorstellbaren Entitäten lassen sich also stets sowohl als eigenständiges Ganzes abgrenzen als auch als eingebundener Teil auffassen. Dies gilt auch für immaterielle und prozesshafte Phänomene. Ein einzelnes Wort bildet eine in sich abgeschlossene Einheit, erhält seine Bedeutung aber erst durch Gegenüberstellung mit anderen Wörtern und durch seine Einbindung in ein größeres Ganzes, ein Sprachsystem. Ein einzelner Gedanke blitzt als autonomes Ganzes im Geiste auf, erhält seinen Sinn aber nur in seiner Beziehung zu anderen Gedanken, als Teil eines größeren geistigen Zusammenhangs. Die Zeit des gegenwärtigen Augenblicks schließt alle Aspekte der Vergangenheit als Teile in sich ein, wird aber selbst schon im nächsten Moment zum Teilaspekt eines größeren Ganzen, der Zukunft.
Während Wilber versucht, alle Dimensionen des Kosmos unter dem Aspekt der Holontheorie zu betrachten, und vor allem Beispiele aus dem naturwissenschaftlichen Bereich anführt, werde ich den Holonbegriff in dieser Arbeit in erster Linie auf das menschliche Individuum und seine psychischen Bewusstseinsdimensionen anwenden. Der Holonaspekt des menschlichen Selbst besteht vor allem darin, dass sich jeder Mensch einerseits in seinem Ich-Bewusstsein als autonome Persönlichkeit erlebt und andererseits in seiner sozialen Existenz gleichzeitig immer auch als Teil eines größeren Ganzen, z. B. einer Familie, Gruppe oder kulturellen Gemeinschaft. Betonung des Eigenen und Hinwendung zum Anderen, Abgrenzung und Anteilnahme, Freiheit und Gebundenheit bilden wichtige Spannungspole jeden menschlichen Daseins. Zum anderen bildet das menschliche Selbst aber auch insofern ein Holon, als es sich im Laufe seiner psychisch-seelischen Entwicklung zu einem immer umfassenderen Ganzen entfaltet und dabei alle bisherigen Bewusstseinsstadien (z. B. in Form von Erinnerungen) als partielle Persönlichkeitsanteile einschließt.
2.2. Grundtendenzen menschlichen Bewusstseins
Im Rahmen dieser Polarität zwischen Teilhaftigkeit und Ganzhaftigkeit lassen sich auch die vier Triebe oder Zugkräfte verstehen, die Wilber jedem Holon zuschreibt, und die man als Grundtendenzen des menschlichen Bewusstseins verstehen kann (Wilber 2001, 64-71):
Selbstbehauptung (Agenz)
Selbstbehauptung ist diejenige Tendenz des Holons, welche ihm seinen Status als eigenständiges Ganzes garantiert. Jeder Mensch hat so etwas wie ein „Ich-Bewusstsein“, ein Bewusstsein um das eigene Selbst, das ihn von anderen Individuen unterscheidet und ihn als Einzelwesen aus seiner Umwelt heraushebt. Und so hat jedes Individuum immer auch das Bedürfnis, seine eigene Identität und individuelle Autonomie zu wahren, sich aktiv gegenüber der Umwelt abzugrenzen, zu schützen und zu verteidigen. Die Tendenz der Selbstbehauptung kann daher auch als separative Tendenz, aggressiv-defensive Tendenz oder einfach als „Agenz“ (agency) bezeichnet werden (Koestler, 44).
Selbstanpassung (Kommunion)
Die komplementäre Triebkraft zur Selbstbehauptung ist die Tendenz der Selbstanpassung, für die Wilber und vor ihm Koestler auch den Begriff „Kommunion“ (communion) verwenden. Jedes Individuum trägt nicht nur das Bedürfnis nach Abgrenzung in sich, sondern auch das Bedürfnis, an der Welt teilzuhaben, sich mit ihr zu verbinden, sich in ihr zu integrieren und in ihr aufzugehen. Die Tendenz der Selbstanpassung bezieht sich auf den Teilheitsaspekt des Holons, das immer auch darauf angewiesen ist, mit anderen Holons zu korrespondieren, interaktive Kontakte einzugehen und sich in größere Zusammenhänge einzufügen. Menschliche Individuen erleben sich nicht nur als Ganzes, also als autonome Einzelpersonen, sondern immer auch als Teil eines größeren oder tieferen Ganzen, z. B. auf körperlicher Ebene als Teil einer materiellen Umwelt, auf emotional-geistiger Ebene als Teil einer Familie, einer sprachlichen, kulturellen oder religiösen Gemeinschaft, eines bestimmten Wertesystems und so weiter.(9)
Translation
Diese fundamentale Spannungsebene zwischen Selbstbehauptung und Selbstanpassung bildet in Wilbers Modell eine horizontale Achse, die er als Translation bezeichnet. Translation bedeutet ein ständiges Verhandeln, Vermitteln, Übertragen, Ein- und Austauschen, Hin- und Herschieben von Bedeutungen zwischen Individuum und Welt, zwischen dem Teil und dem größerem Ganzen, zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Nur durch Translation, d.h. durch Interaktion mit anderen Holons, werden sich Individuen ihrer Ganzhaftigkeit und ihrer Teilhaftigkeit, also ihres Daseins als Holon bewusst. Erst durch die Begegnung mit dem Anderen erfährt das Individuum nicht nur seine Eingebundenheit in größere Zusammenhänge (Kommunion), sondern auch sein autonomes Selbst (Agenz).
Translation führt zum Aufbau und zur Festigung ganz bestimmter Bewusstseinsrahmen. Denn durch seine Beziehungen zur Welt, durch Kommunikation mit der Welt auf sensomotorischer, emotionaler, rationaler, seelischer usw. Ebene entstehen für das Individuum Bedeutungen. Hieraus bilden allmählich sich Bedeutungssysteme, Weltbilder, Glaubensprinzipien, Gesellschaftsstrukturen und kulturelle Rahmen in Form von Kompromissen, Übereinkünften und Konventionen. Der Einzelne entwickelt gegenüber der Gemeinschaft und gegenüber der Umwelt Vorstellungen von Rechten (Selbstbehauptung) und Pflichten (Selbstanpassung). Dieser Bedeutungs- oder Bewusstseinsrahmen wird verinnerlicht und bildet dann den Bewusstseinshorizont des Selbst.
Pathologien der Translation: Hyperagenz und Hyperkommunion
Ein Holon und sein Bewusstseinsrahmen können als solche nur dann einigermaßen stabilen Bestand haben, wenn sich die beiden komplementären Tendenzen der Selbstbehauptung und der Selbstanpassung miteinander im Gleichgewicht befinden. Werden sie jedoch voneinander dissoziiert und wird eine von beiden verabsolutiert, treten Pathologien auf. Überbetonung der Selbstbehauptung führt zu Hyperagenz, also zu Entfremdung, Beziehungsangst und Aggression gegenüber der Umwelt. Überbetonung und Verabsolutierung der Selbstanpassung bedeutet Hyperkommunion, also Unselbständigkeit, Herdenmentalität, Indissoziation, Fusion bis hin zur Selbstauflösung.(10) Einfach ausgedrückt, das Selbst und sein Bewusstseinsrahmen können an übermäßigem Egoismus oder Altruismus zerbrechen und in ihrer Entwicklung zurückgeworfen werden.
Transformation
Eine gesunde Entwicklung erfolgt dann, wenn der bestehende Bewusstseinsrahmen nicht durch Hyperagenz oder Hyperkommunion zerrissen wird, sondern durch Bewusstseinserweiterung transzendiert und durch Bewusstseinsvertiefung von höherer Ebene aus integriert wird. Dies entspricht in Wilbers Modell der vertikalen Achse der Transformation. Hier geht es nicht wie bei der Translation um den Austausch und die Vermittlung von Bedeutungen auf derselben Bewusstseinsebene oder im selben Wertesystem, sondern es findet ganz im Gegenteil ein radikaler Bruch mit dem bestehenden translativen Bedeutungssystem statt, der zu einer neuen inneren Entfaltung, einer Bewusstseinsevolution führt.
Der Gedanke der Bewusstseinsevolution bildet mit Sicherheit den zentralen Aspekt in Wilbers philosophischem System, soll hier aber nur kurz angerissen werden. Unter Bezugnahme auf zahlreiche entwicklungspsychologische Modelle (z. B. Mahler, Piaget, Kohlberg u. a.) entwirft Wilber ein differenziertes, neun Stufen umfassendes Modell der Bewusstseinsevolution, welches sich vereinfacht in drei Stufen darstellen lässt.(11)
Während die Stufen der Bewusstseinsentwicklung als solche eine feste, unveränderliche Struktur bilden, bewegt sich das Selbst gewissermaßen wie ein Kletterer auf einer Leiter über diese Stufen und nimmt auf jeder jeweils neu erreichten Sprosse eine neue, höhere Perspektive gegenüber den bereits durchlaufenen und transzendierten Bewusstseinsebenen ein. Die liminalen Übergänge zwischen den einzelnen Stufen sind jeweils geprägt durch den Doppelaspekt der Negierung und des Einschließens, bzw. der Differenzierung und der Integration, oder der Selbsttranszendenz und der Selbstimmanenz, die wie Selbstbehauptung und Selbstanpassung ebenfalls ein komplementäres Paar bilden.
Selbsttranszendenz (Eros)
Jede Bewusstseinstransformation beginnt damit, dass sich das bewusste Selbst von seiner bisherigen Bewusstseinsebene differenziert. Differenzierung bedeutet, dass das Selbst nicht länger mit seiner bisherigen Stufe verschmolzen ist, sondern einen Abstand zu ihr entwickelt, sie zum Objekt des eigenen Bewusstseins macht und sie von außen und von oben betrachten kann. Durch diese Distanzierung werden die Bewusstseinsanteile, mit denen sich das Selbst bisher identifiziert hat und derer es sich aufgrund seiner Verschmolzenheit nicht bewusst war, nun plötzlich bewusst. Genau dieses Bewusstwerden, diese Bewusstseinserweiterung ist die Bedeutung von Selbsttranszendenz. Ein solcher innerer Wachstumsprozess kann zu jeder Zeit und auf vielen Ebenen stattfinden. Ein Beispiel wäre die Entwicklungsphase der Pubertät, in welcher der heranwachsende Mensch sich verstärkt seiner Identität bewusst wird und die Fähigkeit entwickelt, über sich selbst nachdenken und bestimmte Ich-Anteile zu reflektieren, d.h. diese Ich-Anteile zu transzendieren. Diese aufsteigende Tendenz des Bewusstseins zum alles sehenden Betrachter, zum wahren Selbst, zum Einen, zum Allumfassenden bezeichnet Wilber (einen Freudschen Kernbegriff aufgreifend) als „Eros“, also als nach oben hin orientierte Liebe, als Liebe des Niederen zum Höheren.
Selbstimmanenz (Agape)
Aber Differenzierung, Objektivierung und Transzendierung sind nur ein Aspekt von Bewusstseinstransformation. Der zweite Aspekt besteht darin, dass die transzendierten Bewusstseinsanteile (Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Wünsche usw.) von der neu erreichten Bewusstseinsebene aus aufgenommen und eingeschlossen, also in die Gesamtpersönlichkeit integriert werden müssen. Was im Prozess der Transzendierung negiert wird, wird im Prozess der Integration wieder bejahend angenommen, in einem erweiterten Bewusstseinsrahmen eingebunden und bewahrt. Genau dies ist die Richtung der Selbstimmanenz. Immanenz bedeutet, sich mit etwas zu identifizieren, zu erkennen, dass das Bewusstseinsobjekt ein innewohnender Teil des eigenen Selbst ist. Immanenz zu erleben heißt, in das Objekt des Bewusstseins einzutauchen, es zu verkörpern, eins mit ihm zu werden.
Dieser Abstieg zu den transzendierten, niederen Bewusstseinsanteilen des Selbst, zu den vielen Seiten des Ich, das Umarmen des Niederen, die Subjektivierung des inneren Anderen, das Mitleid und Einswerden mit dem vorherigen, dem überwundenen Selbst bezeichnet Wilber auch als „Agape“, also als absteigende Liebe, als barmherzige Liebe des Höheren zum Niederen.
Pathologien: Phobos und Thanatos
Höchste Transzendenz und tiefste Immanenz sind bekanntlich Idealvorstellungen zahlreicher spiritueller Traditionen, z. B. im Buddhismus, der vom Weg der Buddhas hinauf zur höchsten Weisheit und vom Weg der Bodhisattvas hinab zum tiefsten Mitgefühl spricht. Doch ebenso wie im Verhältnis zwischen Selbstbehauptung und Selbstanpassung auf der Ebene der Translation gilt auch für das Verhältnis zwischen Selbsttranszendenz und Selbstimmanenz, dass es zu pathologischen Entwicklungen kommt, wenn eine der beiden Tendenzen von ihrem Gegenpol abgetrennt und verabsolutiert wird. Dissozierte und übersteigerte Transzendenz führt zu „Phobos“, d.h. zur Angst vor dem Niederen und vor den überwundenen Bewusstseinsanteilen sowie zu deren Repression und Verdrängung. Verabsolutierte Immanenz geht einher mit „Thanatos“, ein an den Freudsche Konzept des Todestriebs angelehnter Begriff, im Sinne von Regression zu früheren Bewusstseinsstufen und schließlich Selbstauflösung im Niederen.
Die Kernaspekte von Wilbers Bewusstseinstheorie lassen sich knapp in folgendem Schema zusammenfassen:
Abb. 1: Schema der vier Bewusstseinstendenzen (in Anlehnung an Wilber)
Nach dieser sehr verdichteten und dadurch etwas abstrakten Darstellung von Wilbers Modell der vier existentiellen Zugkräfte, die das Spannungsfeld bilden, in dem sich das menschliche Bewusstsein bewegt und entfaltet, werde ich im kommenden Abschnitt den Bezug herstellen zu Theorien des Lachens und Weinens. Dabei werde ich vor allem Koestlers Humortheorie aufgreifen und vor dem Hintergrund von Wilbers Modell neu beleuchten. Dies wird relativ problemlos gelingen, insofern als Koestlers theoretischer Rahmen demjenigen Wilbers ja in verschiedener Hinsicht als Inspirationsquelle dient und daher diverse konzeptuelle Entsprechungen aufweist. Eine aufschlussreiche humortheoretische Ergänzung hierzu bilden Plessners vielzitierte Untersuchungen zum Lachen und Weinen aus Sicht der anthropologischen Philosophie, welche dazu beitragen werden, die systematische Gegenüberstellung von Lachen und Weinen möglichst plastisch herauszuarbeiten.
3. Lachen und Weinen als Ausdruck der Beziehung zwischen Individuum und Welt
3.1. Lachen und Selbstbehauptung
Unter den unzähligen humortheoretischen Versuchen, die verschiedenen Arten des Lachens auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, hat das Modell von Koestler (1966: Der göttliche Funke) in seiner stringenten Systematik besonders große Überzeugungskraft. Es ist umso erstaunlicher, dass gerade die fruchtbarsten seiner Argumente in der heutigen Humorforschung kaum mehr aufgegriffen, geschweige denn gezielt weiterentwickelt werden. Genau dieser Versuch soll in der vorliegenden Arbeit unternommen werden.(13)
Koestler betrachtet das Lachen als eine Abfuhrreaktion für psychische Energie und stellt sich damit in eine Reihe mit denjenigen Humortheorien, die gängigerweise unter der Kategorie der „Erleichterungstheorien“ subsummiert werden. Die Auffassung, dass sich im Lachen physische und psychische Spannung löst, findet sich bekanntlich besonders bei frühen Vertretern moderner Psychologie. Spencer (1860) erklärt das Lachen vom physiologischen Standpunkt aus als plötzliche Abfuhr der im Nervensystem angesammelten Energie.(14) Lipps (1898) knüpft hieran an und betrachtet das Lachen als eine Art Reflex auf einen plötzlichen Spannungsabfall, wie ihn z. B. der Witz in der Pointe hervorruft.(15) Und Freud (1905) hebt bekanntlich den Aspekt der Triebabfuhr und Aggressionsentladung besonders hervor. Im Rahmen des Witzes entfällt der normalerweise aufzubringende Hemmungsaufwand für Affekte sexueller oder aggressiver Natur, wodurch Tabubrüche ermöglicht werden und sich unterdrückte Emotionen im Lachen lösen können.(16)
Auch in Koestlers Theorie spielt der Aspekt der Affektabfuhr eine wichtige Rolle. Er hebt dabei besonders auf physiologische Zusammenhänge ab und betrachtet das Lachen als einen körperlichen Reflex, der durch einen hochkomplexen geistigen Reiz hervorgerufen wird (Koestler, 19-23).(17) Die zentrale These Koestlers, die für unsere weiteren Überlegungen die entscheidende Rolle spielen wird, lautet: Lachen ist eine Abfuhrreaktion für Affekte der Selbstbehauptung, also für aggressive-defensive, separative Emotionen, im oben erläuterten Sinne.
Hier lassen sich Verbindungen zu den verschiedenen sogenannten „Degradierungsheorien“ des Humors ziehen. Platos Auffassung, dass Witze und humoristische Anspielungen aus den Geschichten über die Götter zu entfernen seien, weil die Kinder, die darüber lachen, sich sonst den Göttern gegenüber überlegen fühlen könnten (Philebos), Ciceros Ansicht, dass Lachen ein Ausdruck von Hochmut sei (De Oratione) oder Hobbes' vielzitierte Definition von der „Leidenschaft des Lachens [als] plötzliches Hochgefühl (a sudden glory), das entsteht, wenn wir in uns unverhofft eine Überlegenheit gegenüber der Schwäche eines anderen entdecken“(18) zielen alle in diese Richtung.
Auch Koestler vertritt den Standpunkt, dass Humor grundsätzlich immer ein gewisses Maß an Aggression mit sich bringe. Kritik an dieser Auffassung erfolgt oftmals im Zusammenhang mit dem Lachen über harmlose Witze oder dem Lachen im Spiel, welche sich schließlich nicht einfach mit dem Ausdruck von Aggression gleichsetzen lassen. Inwiefern es dennoch Sinn macht, die durch Lachen gelöste Emotionen im unter dem Aspekt der selbstbehauptenden Tendenzen zu kategorisieren, soll nun anhand der Betrachtung verschiedener Anlässe des Lachens verdeutlicht werden.
3.1.1. Anlässe des Lachens
Wann lacht der Mensch? Die Anlässe des Lachens sind vielfältig. Menschen lachen, wenn sie überschwängliche Freude empfinden oder aus Erleichterung nach einer gut überstandenen schwierigen Situation. Das kleine Kind lacht, wenn es gekitzelt wird. Eine Aktivität, bei der besonders viel gelacht wird, ist das Spiel. Und natürlich lachen wir – und dies ist der Bereich, über den mit Abstand am meisten geforscht und diskutiert wurde – wenn etwas komisch oder witzig ist. Auch Schadenfreude kann Gelächter hervorrufen. Dagegen weniger untersucht ist das Lachen aus Verlegenheit oder aus Unsicherheit (vielleicht auch, weil die simple Gleichsetzung von Lachen mit Freude oder Lust hier nicht mehr funktioniert). Betrachten wir die verschiedenen Punkte im Einzelnen:
Das Lachen der Freude und das Lachen der Erleichterung sind in einem engen Zusammenhang zu sehen (Plessner, 78-80). Denn Lachen aus Freude bedeutet eigentlich nichts anderes als Lachen aus Erleichterung. Freude hat immer auch mit Entspannung zu tun und Freude, die sich im Lachen äußert, steht meist in direktem Kontrast zu zuvor erlittener Sorge oder innerer Anspannung: Lachen aus Freude ist die Erleichterung über überwundenen Schmerz und besiegte Ängste und Sorgen. Und Angst ist immer die Sorge um die eigene Selbstbehauptung, die Angst vor dem Anderen, dem Unbekannten, dem Nicht-Eigenen. Wenn diese Angst plötzlich überwunden wird oder ihren Grund verliert, werden auch die bis dahin (bewusst oder unbewusst) aktivierten Energien der Selbstbehauptung und des Selbstschutzes überflüssig und können im Lachen gelöst werden.(19)
Kitzel ist ein weiterer offensichtlicher Anlass des Lachens. Die Frage, warum man lacht, wenn man gekitzelt wird, hat viele Theoretiker vor große Probleme gestellt (Koestler, 75-77). Vor allem Erklärungen, die Kitzel als rein physischen Lachreiz aufzufassen, greifen entschieden zu kurz, denn schließlich lacht man nicht, wenn man sich den identischen körperlichen Reiz eigenhändig zufügt, indem man sich selber kitzelt. Tatsächlich kann man sich auch fragen, ob die Erklärung vom Lachen als Entladung emotionaler Spannung hier überhaupt angemessen ist, denn schließlich ist Kitzel ein sehr spannungsgeladener Reizzustand. Diese Spannung hängt nicht zuletzt mit der Ambivalenz zusammen, die jeden Kitzel begleitet: Es ist das Gefühl, hin- und hergerissen zu sein zwischen Berührung und Nicht-Berührung, zwischen Lust und Unlust (Plessner, 81). Und doch lässt sich das Lachen des Gekitzelten sehr plausibel als eine Abfuhr selbstbehauptender Energien erklären: Jemanden zu kitzeln heißt, einen „Scheinangriff“ (Koestler, 76) durchzuführen. Dieser Scheinangriff aktiviert beim Attackierten einen Verteidigungsreflex, d. h. einen Reflex der Selbstbehauptung. Aber im selben Moment wird auch erkannt, dass keine ernsthafte Verteidigung nötig ist, da ja alles nur ein Spiel ist. Die reflexartig aufgebrachte Selbstbehauptungsenergie wird überflüssig und löst sich im Lachen. Die Ambivalenz des Kitzels besteht also darin, dass defensive (selbstbehauptende) Energie aktiviert und gelöst wird, dass die Impulse von Spannung und Entspannung in hoher Frequenz wechseln, woraus sich ein insgesamt gespannter Reizzustand ergibt. So ist das Lachen des Gekitzelten dementsprechend geprägt durch eine insgesamt gespannte Tönung.
Kitzeln im Sinne einer Scheinattacke kann man also als eine Art Spiel verstehen. Und so lässt sich auch das Lachen, das bei anderen Arten des Spielens aufkommt, in ganz ähnlicher Weise erklären. Auch hier wird (z. B. beim sportlichen Wettkampf, in dem man sich gegen andere behaupten muss) eine Selbstbehauptungstendenz aktiviert. Zugleich aber wird erkannt, dass kein ernsthafter Kampf notwendig ist, da der besondere Rahmen des Spiels die Sicherheit bietet, dass es „nicht ernst“ ist. In dem Moment, wo man sich des Spielcharakters einer Situation bewusst wird, muss die aufgebrachte Selbstbehauptungsenergie nicht länger gebunden werden, sondern kann im Lachen abreagiert werden.
Die Ambivalenz des Spiels kann hochkomplexe Formen annehmen, die mit verschiedenen Ebenen der Gefühlsprojektion arbeiten, z. B. im Falle des Theaters, wo der Zuschauer oftmals selbstbehauptende Affekte auf die Charaktere projiziert, um die er sich sorgt. Wenn Othello in dem Moment, wo er Desdemona erwürgt, einen fürchterlichen Schluckauf bekommt und das Publikum schlagartig aus der einfühlenden Versunkenheit in das Bühnengeschehen herausgerissen wird, kann sich die Spannung im Lachen lösen, weil den Zuschauern plötzlich wieder bewusst wird, dass ja „alles nur ein Spiel“ ist, (vgl. Koestler, 48-49).
Das Spiel des Theaters, besonders seine imitatorisch-mimetische Komponente, steht natürlich auch stets in enger Beziehung zum Aspekt des Komischen. Das Wesen der Komik ist, wie unzählige Betrachtungen zu diesem Thema (z. B. auch Bergson 1900) immer wieder hervorgehoben haben, in ganz besonderem Maße durch den Charakter der Ambivalenz geprägt. Komisch ist eine Situation, die zwei verschiedenen Kontexten, Bedeutungsrahmen oder mentalen Räumen zugeordnet werden kann. In dem einen mentalen Raum ist Selbstbehauptung erforderlich, in dem anderen nicht. Bei der plötzlichen Übertragung der Kognitionen vom einen auf den anderen Raum werden die selbstbehauptenden Emotionen im neuen Kontext überflüssig und durch Lachen abgeführt. Das eben erwähnte Beispiel des vom Schluckauf geplagten Othello verdeutlicht das plötzliche Ineinanderfließen inkongruenter Bedeutungsebenen besonders anschaulich.
Ein weiteres simples Beispiel für eine Situation mit komischem Potential wäre folgendes: Der Bundeskanzler wird während einer Fernsehansprache von einer kleinen Mücke belästigt, die ständig versucht, auf seiner Nase zu landen. Die Persönlichkeit des Kanzlers, sein hohes Amt, der offizielle, formale Charakter der Situation, der ernste Redeinhalt usw. bilden einen Rahmen, der von allen Beteiligten ein hohes Maß an Selbstbehauptung und Selbstbeherrschung verlangt.(20) In der Welt der lustig tanzenden Mücken dagegen gibt es keinen Bedarf an Selbstbeherrschung. Beide Welten prallen nun aufeinander. Derjenige, der den Bruch des Rahmens erkennt und sich für einen Moment auf die Spielregeln der Mückenwelt einlässt, kann die bis dahin mühsam gebundenen Energien der Selbstbeherrschung oder Selbstbehauptung im Lachen entladen. (Natürlich spielt hier auch das degradierende Element eine Rolle. Das vorwitzige kleine Insekt, dem das offizielle Protokoll egal ist, zeigt dem hohen Politiker gewissermaßen die Grenzen seiner Macht, wobei die Diskrepanz zwischen der erhabenen Position des Kanzlers und der Nichtigkeit der Mücke zugleich die komische Fallhöhe bestimmt.)
Das gleiche Beispiel ließe sich auch im Zusammenhang mit dem Lachen der Schadenfreude anführen. Das Pech oder Missgeschick eines Anderen befreit den Betrachter von der Notwendigkeit der eigenen Selbstbehauptung. Angesichts desjenigen, der in seiner Selbstbehauptung beeinträchtigt ist, brauche auch ich meine eigenen selbstbehauptenden Energien nicht länger zu aktivieren und kann mich von ihnen im Lachen lösen.
Der Witz, ähnlich wie die Komik einer der am meisten erforschten Lachanlässe, lässt sich gewissermaßen verstehen als sprachlich-dramatische ausgearbeitete Form von Komik: Mit Hilfe einer narrativen Struktur wird eine Erwartungshaltung geschaffen, es werden Spannung und oftmals auch selbstbehauptende, aggressiv-defensive Emotionen geschürt. In der Pointe wird dann plötzlich ein neuer kognitiver Raum geöffnet, in dem diese Emotionen schlagartig überflüssig werden und durch Lachen abreagiert werden können. Auch hier möchte ich, gemeinsam mit Koestler betonen, dass es stets selbstbehauptende, also aggressiv-defensive Emotionen sind, die angesprochen und abreagiert werden.
Für den Fall der Witze mit aggressiver Tendenz scheint dies einleuchtend. Im Sinne sprachlich gerahmter Stimulation von Schadenfreude bedeutet die Degradierung eines komischen Objekts für den Betrachter zugleich Befreiung von der Notwendigkeit der eigenen Selbstverteidigung oder Selbstbehauptung, da er sich durch die Herabstufung des Anderen selbst in eine überlegene Position gebracht hat. Bei sexuell tendenziösen Witzen spielt zugleich das Moment der sich lösenden Selbstbeherrschung eine Rolle.
Doch wie ist dies im Falle der „harmlosen“ Witze? Koestler (44) behauptet, dass auch im harmlosesten Witz noch ein bestimmtes Maß an Aggression verborgen sei, welches dann im Lachen abreagiert werde. Doch scheint an dieser Stelle sein Beharren auf dem Selbstbehauptungsaspekt des Lachens wenig überzeugend. Betrachten wir folgenden Kalauer: Fliegt ein Kuckuck überm Meer. Sieht er einen Hai. Sagt der Hai: „Kuckuck!“ Sagt der Kuckuck: „Hi!“ Wenn man hier lacht, so tut man dies ja nicht, weil der Inhalt des Witzes ein Objekt böte, welches sich als Zielscheibe aufgestauter Aggressionen anböte. Dennoch steht auch solch ein völlig harmloser Witz im Zusammenhang mit der Abfuhr selbstbehauptender, aggressiv-defensiver Emotionen. Denn die primäre Botschaft des Witzes an den Hörer lautet ganz einfach: „Mach dich locker, du brauchst dich nicht zu behaupten oder zu verteidigen, komm aus der Defensive, komm herein in die wunderbare Welt, in der sich Kuckucke und Haie freundlich hallo sagen!“ Hier öffnet sich durch den performativen Vorgangs des Witzes an und für sich ein neuer mentaler Raum: es ist der Raum des Spiels, in diesem Falle des Wort-Spiels. Je harmloser Scherzfragen, Kalauer oder Nonsense-Witze sind, desto näher stehen sie dem Prinzip des Spielens. Wir können darüber lachen, weil uns plötzlich bewusst wird, dass es „nur ein Spiel“ ist, und man im Spiel keine Angst um sein Selbst zu haben braucht. Die These der im Lachen abreagierten selbstbehauptenden Affekte lässt sich also durchaus auch im Falle des harmlosen Witzes aufrechterhalten, und zwar dann, wenn man sich von der inhaltlichen Ebene des Witzes löst und sich auf eine Metaebene begibt, nämlich auf die Ebene des Gegensatzes zwischen dem auf Selbstbehauptung ausgerichteten Bewusstseinsraum des Alltags und dem spielerisch befreienden Bewusstseinsraum des Witzes.(21)
Scherzfragen und „Aufsitzer“ allerdings, die den Hörer sehr stark verunsichern, werden bei ihm nicht unbedingt ein befreiendes Lachen auslösen, da er sich in solch einem Fall in die Defensive gedrängt und eher zur Selbstverteidigung gezwungen sieht. Hier lacht vermutlich eher der Witzerzähler, der sich seinerseits ja erfolgreich behaupten konnte und nun die nicht mehr benötigte Selbstbehauptungsenergie entladen kann. Falls der in Bedrängnis geratene Hörer dennoch lacht, so möglicherweise weniger offen, sondern eher gepresst, weniger befreit, sondern eher gezwungen.
Diese Reaktion entspricht dem Lachen aus Verlegenheit. Das Lachen aus Verlegenheit hat mit Entspannung oder befreiender Affektabfuhr tatsächlich nicht viel zu tun. Dennoch macht es auch hier Sinn, den Zusammenhang mit der Tendenz der Selbstbehauptung herzustellen. Im Verlegenheitslachen löst sich die selbstbehauptende Energie nicht in einer befreienden Reaktion, sondern sie wird aktiv hervorgebracht, um das in Bedrängnis geratene Selbst behaupten zu können. Sämtliche selbstbehauptende Energie bleibt dabei eigentlich gebunden; sie wird nicht wirklich abreagiert, sondern gleichsam „hervorgepresst“. Hier lässt sich das Lachen tatsächlich als aggressiv-defensiver Ausdruck deuten.(22) Und in dem Falle, wo sich die Unsicherheit zu Verzweiflung steigert und der Betroffene in dieser Verzweiflung mit hilflosem Lachen reagiert, kann der Mechanismus des gezwungenen Hervorpressens selbstbehauptender Energie schließlich ein Extrem erreichen (Plessner, 118-121).
3.1.2. Differenzierungen
Lachen aus Verlegenheit und aus Verzweiflung machen deutlich, dass Lachen nicht einfach nur als Ausdruck von Freude definiert werden kann und auch nicht immer mit Entspannung verbunden ist. In den meisten Fällen lässt sich Lachen durchaus als Ausdruck überflüssig gewordener, sich lösender selbstbehauptender Energie erklären, es kann aber auch Ausdruck (bewusst oder unbewusst) aktivierter selbstbehauptender Energie sein.
Es scheint also angebracht, zwischen befreiendem Lachen (der Befreiung von selbstbehauptenden Emotionen) einerseits und gezwungenem, aggressiv-defensivem Lachen (dem Herauspressen selbstbehauptender Emotionen) andererseits zu unterscheiden. Körperlich äußert sich diese Unterscheidung im Gegensatz zwischen offenem Lachen und gepresstem Lachen. Doch so unterschiedlich der Charakter dieser beiden Formen des Lachens auch ist, beiden liegen Bewegungen selbstbehauptender Energien zugrunde.
3.2. Weinen und Selbstanpassung
Wohl in allen Kulturen werden Lachen und Weinen als Gegensatzpaar betrachtet. Koestlers Modell ist besonders insofern reizvoll, als es die Polarität und die elementare Komplementarität von Lachen und Weinen auf den Punkt bringt. Betrachtet er Lachen als Abfuhrreaktion für selbstbehauptende Affekte, so sieht er im Weinen einen Abfuhrreflex für partizipatorische Affekte der Selbstanpassung. Auch dieser Standpunkt soll anhand verschiedener Beispiele genauer beleuchtet werden.
3.2.1. Anlässe des Weinens
Die Anlässe des Weinens sind ebenso vielfältig wie die des Lachens. Weinen ist die erste Reaktion, die jeder Mensch zeigt, wenn er auf die Welt kommt, bei seiner Geburt. Das kleine Kind weint, wenn es Hunger, körperliche Schmerzen oder auch Angst hat. Je reifer der Mensch wird, desto sublimer werden auch die Anlässe des Weinens, denn der Erwachsene weint sehr viel seltener aus körperlichem denn aus seelischem Schmerz, aus Trauer (über Abschied, Verlust und Tod), aus Leid, Mitleid, Selbstmitleid. Oder aber – und hier beginnt die Gleichsetzung von Weinen und Schmerz sich allmählich aufzulösen – aus Sehnsucht (Heimweh, nostalgische Erinnerungen), aus Ergriffenheit und Verzückung (z. B. über ein Bild oder ein Musikstück), aus Erleichterung und Sympathie (z. B. bei einem lang ersehnten Wiedersehen). Wie lassen sich diese verschiedenen Anlässe des Weinens unter dem Aspekt der Selbstanpassung zusammenführen?
Interessanterweise äußern sich weder Koestler noch Plessner zum Weinen des neugeborenen Kindes. Dabei wird gerade hier das Wesen des Weinens besonders deutlich. Denn im Gegensatz zu den Eltern, für die die Geburt ihres Kindes die Erfahrung einer ersten Begegnung ist, und denen, wenn alles gut gegangen ist, aus Freude und Erleichterung wohl zum Lachen zumute sein wird, stellt die eigene Geburt für das Kind eine fürchterliche Trennungserfahrung dar, nämlich das brutale Herausgerissenwerden aus dem Mutterleib, mit dem es bisher eins war. So ist das Weinen bei der Geburt zu verstehen als Ausdruck eines Trennungsschmerzes: die eigene Geburt ist für jeden Menschen die Urerfahrung von Trennung und das Weinen der Urausdruck des Wunsches nach der Rückkehr zur Ureinheit aller Dinge.
Und genau dieser Aspekt der Trennung, des Gefühls der Isolation, des vergeblichen Strebens nach Einswerdung mit dem Anderen, der im Weinen des Neugeborenen zum ersten Mal zum Ausdruck kommt, findet sich in allen Formen des Weinens wieder.
Körperlicher Schmerz scheint auf den ersten Blick eine häufige Ursache des kindlichen Weinens zu sein. Doch Koestler (308-309) bezweifelt, dass es tatsächlich der körperliche Schmerz ist, der das Weinen auslöst. Seiner Ansicht nach ist das Kind in dem Augenblick, wo der Schmerz eintritt, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sofort weinen zu können. Es beginnt erst dann zu weinen, wenn seine Aufmerksamkeit vom körperlichen Schmerz ablässt und sich auf das Gefühl richtet, hilflos, ohnmächtig, allein, einsam, isoliert zu sein.
Ähnlich argumentiert er im Falle des Weinens aus Hunger. Er betont, dass das Kind nicht aus Hunger weine, sondern um den Hunger zu signalisieren (Koestler, 310). Der Anblick der heraneilenden Mutter mit der Flasche beruhigt das Kind, und oftmals hört es schon dann zu weinen auf, obwohl der Hunger ja noch da ist. Der Zweck des Weinens besteht in diesen Fällen also vor allem darin, Unbehagen mitzuteilen und Mitgefühl zu erregen. Der amerikanische Psychologe Tom Lutz (84) hebt unter Bezug auf Darwin hervor: „Derart lautstarkes Weinen hat offenbar evolutionäre Vorteile. Babys, die ihren Hunger deutlicher artikulieren können, werden regelmäßiger gefüttert als solche, die dazu nicht in der Lage sind.“
Auch die Ansicht, dass Kinder aus Angst weinen, scheint fraglich. Denn gerade im Moment der Angst weint ein Kind eben nicht, sondern es weint dann, wenn es Angst gehabt hat und getröstet werden will (Koestler, 309-310). Im Moment der Angst ist man viel zu sehr in Sorge um sich selbst, um weinen zu können. Angst stellt, wie oben gesehen, einen aggressiv-defensiven, selbstbehauptenden Affekt dar. Das Weinen mag im Umfeld der Angst auftreten, zum Beispiel nachträglich aus Selbstmitleid über die ausgestandene Angst, es ist aber kein Ausdruck der Angst selbst.
Und auch wenn das Kind aggressive Emotionen wie Zorn oder Wut empfindet, zu weinen beginnt es erst, wenn das Bewusstsein für die eigene Hilflosigkeit und das Bedürfnis nach Zuwendung allmählich in den Vordergrund treten. Erst wenn das Selbst kapituliert und die Selbstbehauptung und die Selbstverteidigung aufgegeben hat und erst wenn stattdessen die partizipatorischen, teilhabenden Tendenzen, also das Verlangen nach Sympathie und danach, von der Umwelt angenommen und aufgenommen zu werden, aktiv werden, setzt das Weinen ein (Koestler 309).
Im Falle des Weinens aus seelischem Schmerz, das im Erwachsenenalter verstärkt an Bedeutung gewinnt, ist der Hintergrund der teilhabenden Emotionen besonders deutlich erkennbar. Leid, Mitleid, Selbstmitleid und Trauer (über Abschied, Verlust, Tod) lassen sich allesamt unmittelbar in Beziehung setzen mit dem Gefühl der Isoliertheit, der Eingeschlossenheit, der Einsamkeit, der Ohnmacht gegenüber der Umwelt, gegenüber dem Gang der Dinge, gegenüber dem Schicksal. Genau diese Aspekte der Unüberbrückbarkeit stellen die Tragik menschlicher Existenz dar. Der Weinende möchte in Harmonie mit den Gegebenheiten leben, aber spürt einen unüberwindbaren Bruch und vergießt Tränen der Resignation.
Sehnsucht ist immer die Sehnsucht danach, eins zu werden mit einer entrückten Welt oder mit einem geliebten Menschen, von dem man getrennt ist. Im Falle von Heimweh oder Fernweh leidet man unter räumlicher, im Falle nostalgischer Gefühle unter zeitlicher Unüberbrückbarkeit. Tränen der Sehnsucht sind Ausdruck des Verlangens, die Grenzen des Raumes oder der Zeit, in denen man sich eingeschlossen fühlt, zu übersteigen und sich zu vereinen mit dem Unerreichbaren.
Der Eindruck eines Kunstwerks, der Klang eines Musikstücks, oder der Anblick eines Sonnenuntergangs können beim Betrachter oder Zuhörer Gefühle von Ergriffenheit und Verzückung hervorrufen und zu Tränen rühren. Auch diese Tränen sind Ausdruck einer tiefen Einfühlung und eines tiefen Verständnisses für das wie auch immer geartete „Andere“, dessen man in einem solchen Moment gewahr wird. Der Wunsch, eins zu werden mit dem Objekt des Bewusstseins und möglicherweise die gleichzeitige Ahnung, dass dies nicht möglich ist und wir vereinzelte Wesen bleiben werden, bringt so die teilhabenden Emotionen zum Überfließen.
Ein lang ersehntes Wiedersehen mit einem geliebten Menschen kann von Freudentränen begleitet sein. Es sind dies die Tränen der Erleichterung und der Sympathie. Die während der Trennung aufgestauten teilhabenden Emotionen fließen über und lösen sich im Weinen.(23)
3.2.2. Differenzierung verschiedener Tendenzen des Weinens
So wie das Lachen nicht einfach nur Ausdruck von Freude ist, ist auch das Weinen nicht nur Ausdruck von Leid oder Trauer. Das Weinen der Ergriffenheit oder der Verzückung mag zwar einen melancholisch-sentimentalen Beigeschmack haben, mit Trauer aber hat es nicht viel zu tun. So halte ich es für angebracht, analog zum befreienden und gezwungenen Lachen auch im Falle des Weinens zwei Grundtendenzen zu unterscheiden: eher befreiendes Weinen (dem Ausschütten oder Überfließen teilhabender Emotionen) einerseits und eher bedrücktes Weinen (dem frustrierten Herauspressen partizipatorischer Emotionen) andererseits.
So wäre das Weinen vor Ergriffenheit, Verzückung oder Erleichterung Ausdruck überfließender und sich lösender teilhabender Emotionen und das Weinen im Falle von Leid, Trauer, Enttäuschung usw. Ausdruck aufgestauter und frustrierter teilhabender Emotionen.
Man könnte hier auch vom Gegensatz zwischen „süßen“ Tränen und „bitteren“ Tränen sprechen. Beide Tendenzen charakterisieren gegensätzliche Polaritäten eines Kontinuums, in dessen Rahmen sich die tatsächlich auftretenden Ausprägungen des Weinens bewegen. Tränen und die mit ihnen verbundenen Empfindungen sind oftmals eine hochkomplexe Mischung aus beiden Tendenzen. Dies wird beispielsweise einsichtig, wenn man bedenkt, wie ambivalent Tränen der Sehnsucht sein können – einerseits unendlich süß, insofern, als man sich innerlich mit dem Objekt der Sehnsucht aufs Tiefste verbunden fühlt, andererseits unendlich bitter, insofern als man sich ihm gleichzeitig unnahbar fern fühlt. Doch ungeachtet dieser Differenzierungen sind die Tränen in jedem Fall Ausdruck teilhabender Tendenzen, Ausdruck der Sehnsucht, eins zu werden mit der Welt oder mit dem „Anderen“.
3.3. Orientierung und Perspektivierung im Lachen und Weinen
Lachen und Weinen sind körperliche Ausdrucksweisen, die mit einer ganz bestimmten Haltung und einer ganz bestimmten Sichtweise gegenüber dem Objekt der Empfindung einhergehen. Bevor ich den Versuch unternehme, Lachen und Weinen mit den Bewusstseinsrichtungen der Transzendenz und der Immanenz in Verbindung zu bringen, besteht die Notwendigkeit, die spezifische Orientierung und Perspektivierung des Lachenden und des Weinenden zu verdeutlichen.
Lachen ist Ausdruck einer extrovertierten Haltung des Individuums. Die nach außen und nach oben gerichtete körperliche Orientierung des Lachenden, der Modus des Ausatmens („Hahaha“) (Plessner, 125; 157), die Gebundenheit an das Sympathico-Adrenal-System, welche zu verstärkter hormonaler und körperlicher Aktivität führt (Koestler, 50-52) usw. sind offensichtliche Aspekte dieser extrovertierten Tendenz.
Demgegenüber zeichnet sich Weinen durch eine introvertierte Haltung aus. Dies wird deutlich durch die nach innen und nach unten gerichtete körperliche Orientierung des Weinenden, durch den Modus des Einatmens (beim Schluchzen) (Plessner, 125; 159, Koestler, 298) und die Gebundenheit an das parasympathische System, welches eher im Zusammenhang mit körperlicher Passivität zu sehen ist (Koestler, 301, Lutz, 111-115).
An die konträre Konzeption der Extrovertiertheit im Lachen und der Introvertiertheit im Weinen lassen sich weiterführende Überlegungen knüpfen, welche die Perspektive, also den Blickwinkel des Lachenden und des Weinenden betreffen. Denn die Geöffnetheit und die nach außen gerichtete Orientierung des lachenden Subjekts kennzeichnen auch sein Verhältnis zum belachten Objekt. Der Lachende nimmt seinem Objekt gegenüber eine veräußerlichende Haltung ein. Über etwas zu lachen heißt, es distanziert von außen betrachten zu können, nicht mit dem Objekt verschmolzen zu sein, sondern sich von ihm zu differenzieren und zu distanzieren. So lacht es sich über das Missgeschick anderer wesentlich einfacher als über das eigene, denn zum Anderen hat man natürlicherweise eine gewisse Distanz, zu sich selbst dagegen nicht von vornherein. Natürlich bedarf das Lachen immer auch eines gewissen Maßes an Einfühlung. Ich kann nicht über etwas lachen, mit dem ich mich nicht auch in gewissem Maße identifiziere, und genau deswegen können wir über Menschen oder dem Menschen ähnelnde Tiere lachen, oder über Dinge, die eine bestimmte Haltung von Menschen ausdrücken oder erkennen lassen. Wir lachen aber normalerweise nicht über den Mond, den Sonnenaufgang, den Berggipfel, den Horizont. Denn zu ihnen fehlt uns für gewöhnlich das verbindende Identifizierungsmoment des Menschlichen. Es fällt auch schwer, über Menschen lachen, die einem absolut unsympathisch sind und mit denen man sich auf keinen Fall identifizieren möchte. Völlig ohne einfühlende Identifikation (die meist über das Moment des Menschlichen oder der Vermenschlichung erfolgt) ist also kein echtes Lachen möglich. Die psychische Bewegung des Lachens aber führt im Sinne einer mentalen Distanzierung stets vom Lachobjekt weg.
Lachen ist also Ausdruck von Objektivierung. Und genau dies erklärt auch, warum man in Gemeinschaft häufiger lacht, als wenn man alleine ist. Plessner formuliert:
„Der Lachende ist zur Welt geöffnet. Im Bewusstsein seiner Abgehobenheit und Entbundenheit, das sich häufig mit einem Gefühl der Überlegenheit verbinden kann, sucht sich der Mensch mit anderen eins zu wissen. Volle Entfaltung des Lachens gedeiht nur in der Gemeinschaft mit Mitlachenden. Warum? Der Anlass des Lachens […] wirkt umso stärker, je „objektiver“ er erscheint. Und er erscheint in dem Maße objektiver, in welchem auch andere davon gepackt sind.“ (Plessner,157, eigene Hervorhebung)
Gemeinschaftliche Bezugnahme auf einen dritten, einen äußeren Gegenstand trägt also zur Verstärkung der Objektivierung, der Distanzierung und zugleich immer auch der Relativierung des Belachten bei. Umgekehrt verstärkt das äußere Objekt, von dem man sich kollektiv distanziert (zum Beispiel auch ein gemeinsames Feindbild), das Gefühl der Verbundenheit innerhalb der Gruppe. Wenn man also die integrative Wirkung und das verbindende Moment des Lachens hervorhebt, dann muss man sich bewusst machen, dass dieses verbindende Moment nur durch ein trennendes Moment, durch die selbsthauptende, separative Haltung gegenüber einem gemeinsamen äußeren Objekt zustande kommt. Das Verbindende des Lachens nach innen ist nicht ohne das Distanzierende nach außen zu haben. Und so wie sich das lachende Individuum durch die Distanzierung von der Welt seiner eigenen Ganzheit bewusst wird, erlebt auch die sich durch Lachen von einem äußeren Gegenüber abgrenzende Gruppe sich als ein integriertes Ganzes.
In Analogie hierzu lässt sich im Falle des Weinens argumentieren. Die Verschlossenheit des Weinenden und seine nach innen gerichtete Haltung charakterisieren auch sein Verhältnis gegenüber dem Objekt des Weinens. Der Weinende folgt der Tendenz, die Distanz gegenüber seinem Bewusstseinsobjekt aufheben zu wollen, um gleichsam mit seinem Objekt zu verschmelzen. Über etwas weinen bedeutet, sich in das Beweinte einzufühlen und sich mit ihm zu identifizieren. Hier ist wichtig zu begreifen, was genau mit dem „Objekt“ des Weinens gemeint ist. Das Objekt des Weinens ist immer ein Objekt der Sympathie: Man beweint nicht den Tod (zumal er sich auch phänomenologisch unserem Fassungsvermögen entzieht), sondern man beweint den sterbenden oder verstorbenen Menschen, von dem man für immer getrennt sein wird. Man beweint nicht die Krankheit, sondern den Menschen, der an ihr leidet, nicht die Ungerechtigkeit sondern ihr Opfer, nicht die Trennung sondern den geliebten Menschen, mit dem man zusammen sein möchte. Man beweint nicht das Leid sondern die verlorene Freude. Mit dem eigentlichen Objekt des Weinens, dem eigentlich Beweinten fühlt man sich immer durch sympathische, teilhabende, integrative, partizipatorische Emotionen verbunden. Weinen ist letztlich immer der Versuch einer Umarmung des beweinten Objekts.
Und der Weinende fühlt sich dem beweinten Objekt, nach dem er sich sehnt, oder zum dem er Sympathie empfindet, sei ein lieber Mensch, die anrührenden Klänge einer Melodie oder ein besonders schöner und für immer verlorener Augenblick in der Vergangenheit, umso näher, je weiter er sich von der übrigen Welt zurückzieht.
Auch aus der Haltung des Weinenden ergibt sich also eine soziale Verhaltenskomponente: Man lacht gerne gemeinsam, aber man weint lieber allein:
„So schließt sich der Weinende von der Welt ab. Warum? Der Anlaß des Weinens […] wirkt umso stärker, je „subjektiver“ und innerlich durchstimmter er den einzelnen angreift. Hier muss die Tatsache, daß andere mitergriffen sind, hemmend auf das Weinen wirken.“ (Plessner, 159, eigene Hervorhebung).(24)
Mit anderen Worten, die Isolation des Weinenden, seine Abkehr von der übrigen Welt trägt also zur Subjektivierung, zur Verinnerlichung und damit auch zur Verabsolutierung des beweinten Objektes bei.
3.4. Zwischenfazit
Fassen wir kurz zusammen: Lachen und Weinen spiegeln als Ausdrucksformen von Selbstbehauptung und Selbstanpassung das Verhältnis des Individuums zur Welt:
4. Lachen und Weinen als Ausdruck von Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinsvertiefung
Bis hierher ging es mir vor allem darum, weitgehend Bekanntes ein wenig neu zu ordnen und die von Theoretikern wie Plessner und Koestler vorgenommenen Gegenüberstellungen von Lachen und Weinen in ihrer Systematik zu schärfen. Nun soll auf dieser Grundlage der Versuch unternommen werden, die Ausdruckformen des Lachens und Weinens anzunähern an die Konzepte der Bewusstseinstransformation, d.h. der Bewusstseinserweiterung und -vertiefung.
4.1. Normalität und Ernst
Das Verhältnis zwischen Individuum und Welt, die Ebene der Bedeutungsvermittlungen, der Translation, ist stark geprägt durch das Streben nach Ordnung und Regelhaftigkeit. Denn Sinn und Bedeutung existieren für den Menschen nicht von vorn herein, sondern müssen nach ganz bestimmten Regeln geschaffen, geformt, eingegrenzt und koordiniert werden. Um mit den Unsicherheiten seines Daseins umgehen zu können, braucht der Mensch Normalität. Die Normalität, welche dem Menschen Orientierung in der Welt, Anknüpfungspunkte zwischen Vertrautem und Fremdem und schließlich die Beantwortbarkeit der Dinge gewährleistet, entsteht in Form von Routinen, Handlungsmustern, Wahrnehmungs-, Denk- und Erwartungsschemata, Konventionalität. Das rationale Bewusstsein des Alltags ist geprägt durch: logische Beziehungen, Funktionalität, Zweckhaftigkeit, Praktikabilität. Und es ist vor allem geprägt durch Sprachdenken, also ein Denken, das durch seine delimitierte Begrifflichkeit scharfe Trennlinien zwischen den bezeichneten Objekten zieht, also auf Dualität und Eindeutigkeit beruht. Die regelhafte Eindeutigkeit und zweifelsfreie Beantwortbarkeit der Dinge im Alltag nennt man auch Ernst. Auch eine als bedrohlich empfundene Lage angesichts einer übermächtigen äußeren Gefahr, die ganz bestimmte Antworten, nämlich ganz bestimmte Handlungskonsequenzen erfordert, wird mit dem Begriff Ernst umschrieben (Plessner, 152). In jedem Fall aber bedeutet Ernst die Notwendigkeit einer strengen Einhaltung sehr genau festgelegter, eindeutiger Verhaltensmuster.
Kurz: Die Normalität des rationalen Alltagsbewusstseins ist der Ernst. Und Ernst bildet einen prinzipiellen Gegensatz sowohl zum Lachen als auch zum Weinen. Wer ernst ist, lacht nicht und weint auch nicht, sondern er ist gefasst.(25)
4.2. Fenster zu nicht-rationalen Ebenen: Durchbrechen der Normalität im Lachen und Weinen
Die künstlich geschaffene ernste Welt der Eindeutigkeit und Beantwortbarkeit wird aber immer wieder erschüttert durch das Eindringen der ursprünglichen Vieldeutigkeit und der letztendlichen Unbeantwortbarkeit aller Dinge. Es handelt sich um Situationen, die sich den konventionellen Interpretationsschemata entziehen, Situationen, in denen die gewohnte Weltsicht keine Erklärungen mehr bietet und der mechanische Reflex der Semantisierung, der Bedeutungszuweisung, der schablonenhaften Einordnung, ins Leere greift, in denen rationale Ausdrucksweisen wie Sprache oder intentional koordinierte Gestik oder Mimik versagen, weil sie mit uneindeutigen, vieldeutigen, eben unerklärlichen Gegebenheiten konfrontiert sind.
Lachen und Weinen sind besondere Formen des Umgangs mit solchen rational nicht beantwortbaren Situationen. Plessner (149) hebt hervor: „Man lacht oder weint nur in Situationen, in denen es keine andere Antwort gibt.“ In beiden Fällen handelt es sich um „Katastrophenreaktionen“, welche die Grenzen menschlichen Verhaltens kennzeichnen. Denn sowohl beim Lachen als auch beim Weinen verliert das Individuum die Selbstbeherrschung und verfällt in einen zwanghaft ablaufenden, undurchsichtig bleibenden körperlichen Vorgang. Das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper wird desorganisiert: Man wird vom Lachen oder Weinen ergriffen und man schüttelt sich vor Lachen oder vor Weinen.
In diesen Momenten der Verblüffung, des Staunens, der Erschütterung oder der Fassungslosigkeit bricht der rational gefestigte Bewusstseinsrahmen auf und man findet sich konfrontiert mit einem neuen Bewusstseinsraum, in dem andere Regeln herrschen: statt Eindeutigkeit Mehrdeutigkeit, statt klarer konzeptueller Abgrenzungen ineinander fließende mentale Strukturen, statt Entweder-Oder Sowohl-als-auch und/oder Weder-noch und/oder beides nicht oder/und beides vielleicht doch (nicht?).
Ein solcher Bruch mit dem bestehenden Bewusstseinsraum kann den Zugang zu höher oder tiefer gelagerten Bewusstseinsschichten öffnen, zum transrationalen Überbewusstsein einerseits und zum prärationalen Unbewussten andererseits (vgl. Abschnitt 2.2.). Erfahrungen des Lachens und Weinens können dadurch in gewisser Weise ein Fenster zu nicht-rationalen, nicht dualistisch geprägten Bewusstseinsebenen öffnen, was schließlich zu einer tiefergreifenden Bewusstseinstransformation führen kann.
Unter welchen Voraussetzungen kann man nun dem Lachen und Weinen transformative Qualität zusprechen? Wie oben gesehen, stellen auf der Ebene der Translation Selbstbehauptung und Selbstanpassung und mit ihnen Lachen und Weinen – einfach gesagt – Haltungen und Ausdrucksweisen des Selbst in seinem Verhältnis zur äußeren Welt dar, gegenüber welcher eine eher abgrenzende oder eine eher integrierende Haltung eingenommen werden kann. Auf der Achse der Transformation wird nun das eigene Selbst seinerseits zum Bewusstseinsobjekt. Das sich seiner selbst bewusste Wesen nimmt sich selbst gegenüber eine Haltung ein, und auch hier lassen sich eher distanzierende oder eher einfühlende Tendenzen unterscheiden: Selbsttranszendenz, also Bewusstseinserweiterung, nämlich Differenzierung und Distanzierung vom bisherigen Bewusstseinsrahmen einerseits, und Selbstimmanenz, also einfühlende Bewusstseinsvertiefung und die von einem höheren Standpunkt aus erfolgende Einschließung der transzendierten Ebenen andererseits.
Vor diesem Hintergrund lässt sich folgende These aufstellen: Je stärker das Bewusstsein für die Innerlichkeit aller Dinge, also dafür, dass alle Dinge in der äußeren Welt zwar außerhalb des eigenen Körpers, aber letztlich nicht außerhalb des eigenen Selbst, nicht außerhalb des eigenen Bewusstseinsrahmens liegen, mit anderen Worten, je stärker der Aspekt der Selbsterkenntnis im Lachen oder Weinen, desto stärker der transformative Aspekt. Ich werde nun versuchen zu zeigen: Selbsttranszendenz als Distanzierung vom eigenen Selbst findet ihren Ausdruck im Lachen, Selbstimmanenz als Einfühlung in das eigene Selbst ist mit der Ausdrucksform des Weinens verbunden.
4.3. Lachen und Selbsttranszendenz
Betrachten wir in diesem Zusammenhang zunächst das Lachen. Sehr einfach gesagt, setzt das Lachen der Selbsttranszendenz in dem Moment ein, wo man über sich selbst lachen kann. Humor gewinnt dort einen transformativen Charakter, wo der Lachende nicht nur die äußere Welt, sondern das eigene Selbst zum belachten Objekt macht, wo er sich von sich selbst distanziert, sich selbst objektiviert, sich selbst relativiert. Derjenige, der über sich selbst lacht, gewinnt in diesem Moment Abstand zu bestimmten ihm innewohnenden, eigenen Persönlichkeitsanteilen, die er in gewisser Weise veräußerlicht und sich so von ihnen befreit.
Zunächst geht es um das Bewusstwerden an und für sich. In dem Moment, wo man bestimmte Seiten an sich erkennt, nimmt man automatisch eine gewisse Distanz zu ihnen ein, denn jedes Sehen setzt einen Abstand zwischen Betrachter und Betrachtetem voraus. Eine plötzliche Bewusstwerdung, eine plötzliche Distanzierung kann als solche schon komische Wirkung haben. Ein ganz simples Beispiel:
Ich gehe auf der Straße an einem Schaufenster vorbei. Ich blicke zur Seite und sehe mein Spiegelbild in der Schaufensterscheibe. Da fällt mir mit einem Mal auf, dass ich beim Gehen die Angewohnheit habe, den linken Arm schwungvoll mitzuführen, während der rechte völlig schlaff herunterhängt. Zum ersten Mal nehme ich meinen Gang bewusst war, und plötzlich wirkt meine Art mich fortzubewegen auf mich ungemein komisch. In diesem Moment muss ich über mich selber lachen. (26)
Das Selbst hat sich hier differenziert von einem bestimmten, (in diesem Falle körperlichen) Aspekt, der bisher unbewusst war, weil das Selbst mit ihm verschmolzen war. Ermöglicht wurde diese Bewusstmachung oder Objektivierung durch den veränderten Blickwinkel, die äußere Perspektive und den dadurch entstandenen Abstand.
Etwas zum ersten Mal zum Objekt des Bewusstseins zu machen, bedeutet, es zu transzendieren. Eine solche Transzendierung eigener Bewusstseinsanteile kann auf vielen verschiedenen Ebenen stattfinden. Es kann das aufbrechende Bewusstsein sein für die Absurdität bestimmter einst aus inbrünstigster Überzeugung heraus begangener Taten, für all die charakterlichen Macken und Unvollkommenheiten, die das im Alltag unentwegt zu behauptende Rollenselbst plötzlich wie eine lächerliche Witzfigur erscheinen lassen, oder für die tatsächliche Beschränktheit einer bis dahin wie selbstverständlich angenommenen Weltsicht. In dem Falle, wo sich das Selbst nicht länger mit den nun bewusst geworden Aspekten identifiziert, sondern erkennt, dass es darüber hinausgewachsen ist und eine neue Bewusstseinsebene erreicht hat, kann es über das alte, das kleine, das überwundene Selbst lachen.(27)
Selbsttranszendenz beginnt mit Selbst-Infragestellung. Nur durch Hinterfragung der Welt sowie der eigenen Sicht darauf, oder anders gesagt durch ein Bewusstsein für das Auch-Nicht-So-Sein der Dinge kann sich das Bewusstsein weiter entfalten. Eine in vielen Kulturen verbreitete Ausformung dieser fragenden, den gegebenen Erkenntnisrahmen transzendierenden Bewusstseinstendenz ist die literarische Gattung des Rätsels, und in bestimmten Kulturen ist die spirituelle, also die explizit bewusstseinserweiternde Dimension des Rätsels noch deutlich erkennbar. So benutzt bekanntlich der Zen-Buddhismus die Technik des Kōans, um das Selbst in seinem Bewusstsein immer weiter über sich hinauszutreiben. Ein Kōan ist eine pointierte Aussage oder Fragestellung, die oftmals eine bewusste Paradoxie enthält (besonders berühmt z. B. die Frage nach dem Geräusch einer einzelnen klatschenden Hand in Hakuins Sekishu, von Meister Hakuin Ekaku(28)), die aber auch scheinbar simpel sein kann („Wer bin ich?“). Kōans dienen als Meditationsobjekt und werden vom Meditierenden oft über lange Zeiträume hinweg immer weiter hinterfragt. Tatsächlich kann jeder Aspekt der Wirklichkeit der ultimativen Frage „Was ist das?“ unterworfen und somit zum Gegenstand eines Kōans werden, welches auf rational-logischer Grundlage niemals endgültig beantwortet werden kann. Ein Kōan wie „Wer bin ich?“ zielt unmittelbar auf das Bewusstsein des Meditierenden um das eigene Selbst und damit auch auf das Bewusstsein um dessen Grenzen. Der Meditierende vertieft sich immer weiter in diese Selbst-Hinterfragung, indem er das, was er in jedem einzelnen Moment als „Selbst“ wahrnimmt, immer weiter objektiviert. Das Selbst wird zum Objekt der Kontemplation, zum Gegenstand der Betrachtung. Wer ist dann der Betrachter? Der Betrachter des Selbst kann dieses Selbst selbst nicht sein, denn wenn er nicht von ihm differenziert wäre, und nicht außerhalb seiner stünde, könnte er es nicht betrachten. Der Betrachter steht auf einer höheren Ebene als das betrachtete Selbst. Ist dies die Ebene des eigentlichen Selbst? Nein, denn auch dieser Betrachter kann seinerseits zum Objekt der Betrachtung werden, und auch der Betrachter des Betrachters ist noch nicht das ultimative Selbst, denn auch er kann seinerseits von höherer Ebene betrachtet und somit weiter transzendiert werden. Und so weiter. Am Ende dieses inneren Wachstumsprozesses, der den Horizont, den Rahmen des Bewusstseins immer weiter ausdehnt, und dazu führt, dass sich das Selbst allmählich als ein immer umfassenderes Holon erkennt, kann ein spiritueller Durchbruch in einen Bewusstseinsraum erfolgen, in dem das Selbst schließlich kosmische, unendliche Dimension annimmt.
Erleuchtungserfahrungen dieser Art können in bestimmten Fällen, wie zahlreiche Zen-Anekdoten berichten, von gewaltigen Lachausbrüchen begleitet sein.(29) Und auch dieses Zen-Gelächter und das Lachen des Buddhas lassen sich durchaus in Verbindung mit der Befreiung von selbstbehauptenden Affekten sehen. Denn ein wesentlicher Aspekt der spirituellen Gipfelerfahrung besteht in der plötzlichen Erkenntnis, dass das Konzept eines „Ich“ und die damit verbundene Abgrenzung von einem vermeintlichen „Nicht-Ich“ pure Illusion sind, wie letztlich alle Unterscheidungen, Abgrenzungen und Widersprüche lediglich willkürliche Konstrukte – und, wenn man so will, Trugbilder – des Geistes sind. In dem Moment, in dem man auf einmal sieht, dass alles eins ist (und es immer schon war), wird jegliche Notwendigkeit der Selbstbehauptung und der Selbstabgrenzung schlagartig völlig gegenstandslos. Es gibt und gab nichts zu behaupten. All die Energie, die für die eigene Selbstbehauptung, also für die sorgfältige Unterscheidungen zwischen Ich und Welt, aber auch für die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod und zwischen allen nur erdenklichen Gegensätzen aufgebracht werden musste, wird frei und kann sich in einem unbändigen Lachen lösen.(30)Jeder Schritt der Selbsttranszendenz, also der Selbst-Erkenntnis ist eine kleine Erleuchtungserfahrung. Der Weg zur ultimativen Erleuchtung und zur letzten Weisheit wird in allen Kulturen verbunden mit der Vorstellung einer aufstrebenden Bewegung dem Licht entgegen, und genau die leuchtenden Augen des Lachenden sind es, welche die äußerliche körperliche Entsprechung dieser inneren seelischen Erfahrung darstellen.
Die Bewusstseinsrichtung der Selbsttranszendenz steht, wie am Beispiel des Kōans angedeutet, im Modus der ewigen Frage („Was ist das?“) bzw. im Modus der ewigen Negation („Nichts ist so, wie es ist.“)(31). Eine Verkörperung dieser Haltung findet sich in vielen Kulturen auch in der Figur des Narren, des Clowns, des Tricksters. Die soziale Funktion des Clowns besteht im Durchbrechen gesellschaftlicher Normen, in der Infragestellung geltender Werte, in der Erweiterung des Bewusstseins für das „Andere“, das „Nicht-Alltägliche“, das Verborgene und Verbotene. Er übernimmt die Rolle des ewigen Gegenteilers, der alle Dinge in Frage stellt, der alles negiert, der nichts einfach so annimmt wie es ist, sondern es immer wieder aufs Neue aus einer anderen Perspektive betrachtet, es verfremdet und spielerisch transzendiert.(32)
Die klassische Clownsfigur, wie man sie aus dem Zirkus kennt, bringt die psychologische Komponente des inneren Narren darstellerisch zum Ausdruck und inszeniert sie als komische Nummer (Fried/Keller, 35-36). Eine besonders charakteristische Eigenschaft des Clowns ist, dass ihm die existentielle Sorge um das eigene Ich völlig fremd ist. Während vernunftorientierte Individuen Situationen, die das Ich bedrohen, bewusst zu vermeiden suchen, gerät der Clown ständig in solche kritischen Situationen, ohne sie jedoch als grundlegend bedrohlich zu empfinden. Die Vorstellung, dass sein tollpatschiges Verhalten ihn seinen gesellschaftlichen Ruf oder ein Absturz vom Seil ihn das Leben kosten könnte, liegt ihm völlig fern. Ihm ist nichts peinlich und er muss kein Ich verteidigen oder aufrechterhalten. Der Clown ist von vornherein frei von jedem Selbstbehauptungszwang. So ähnelt er einerseits dem Kind, das, auf einer prärationalen Ebene stehend, zur Selbstreflexion noch nicht in der Lage ist und deshalb auch noch kein Bewusstsein und keine Sorge um sein Rollenselbst hat, aber andererseits auch dem Weisen, der sehr wohl um das Ich und das Rollenselbst weiß, es aber hinter sich gelassen hat und es nun von einem transrationalen Standpunkt herab gelassen betrachten kann.(33)
Ursprünglich stehen Clowns in engem rituellem Zusammenhang mit spiritueller Transzendenz. Besonders bei den nordamerikanischen Indianer-Clowns ist diese Verbindung noch deutlich erkennbar. Wie die amerikanische Anthropologin Barbara Tedlock in ihren Arbeiten beschreibt, treten die Clowns der Indianer in den heiligen Ritualen immer als Gegenspieler zum Schamanenpriester, zum Medizinmann auf. Bei den nordwestlichen Maidu in Kalifornien ist es Brauch, dass die Clowns den Priester unterbrechen, wann immer sich dieser zu Wort meldet, und systematisch alles parodieren, was er sagt. In der Hesi-Zeremonie der Wintu in Nordkalifornien läuft der Clown, der sich rückwärts fortbewegt, innerhalb des Raumes, in dem der zeremonielle Tanz stattfindet, quasi spiegelbildlich vor dem Stammesführer her und mokiert sich über dessen schlechten Gesang. Bei den Zuni in Neu-Mexiko macht sich der Neweekwe-Clown mit einer Bärentatze in der linken Hand und einer aufgesetzten Wolfsschnauze im Gesicht über den Priester lustig. Und bei den Navajo veralbert der Clown des Berggesangrituals die magischen Darbietungen, indem er die Zaubertricks der Schamanen verrät (Tedlock, 108-109). Die Atmosphäre des Wunders und des Heiligen wird durch die Gegenüberstellung des Erhabenen und des Lächerlichen aber nicht zerstört, sondern im Gegenteil: der Sinn für die Wirklichkeit wird durch die Infragestellung vertieft, denn die Wirklichkeit umfasst das Ganze, die Bejahung und die Verneinung. Gerade der eben erwähnte Fall des Navajo-Clowns macht dies besonders deutlich. Es sind nicht die magischen Tricks selbst, die für die Heilung sorgen, sondern das Bewusstsein für die Wahrheit einer höheren Ebene. Der Clown macht durch seine Späße das Symbolische der rituellen Handlung bewusst, die grundsätzliche Differenz zwischen dem sichtbaren Zeichen und seiner unsichtbaren Bedeutung.
Auch das religiöse Lehrgebäude mit all seinen eingrenzenden Prinzipien und der Glaube an ewige Wahrheiten, unabänderliche, feste Gebote oder an einen begrifflich erfassbaren Gott werden also zum Gegenstand der Infragestellung und des alles transzendierenden Lachens. Tedlock, die auf Parallelen zwischen dem Lachen der Indianer-Tradition und dem Zen-Lachen hinweist, zitiert in diesem Zusammenhang den amerikanischen Zen-Experten Reginald Horace Blyth:
„[Das Lachen bedeutet] ein Durchbrechen der intellektuellen Barriere; im Moment des Lachens wird etwas verstanden, es bedarf keines Beweises seiner selbst. Wenn wir lachen, sind wir frei vom Druck unseres Selbst oder dem Anderer, oder sogar dem Gottes, der nämlich auch einfach weggelacht wird.“ (Wilson Ross, Nancy, 184-185 zitiert nach Tedlock, 115; eigene Übersetzung).
Das Lachen der Transzendenz übersteigt mühelos alle begrifflichen Einschränkungen, wie unantastbar sie auch scheinen mögen:
Der greise Zenmeister Razan (Lo Shan, 9. Jh.), der fühlte, dass sein Ende nah war, stieg noch einmal auf das Podium, um ein letztes Mal zu den Mönchen zu sprechen. Doch dann schickte er sie einfach fort mit den Worten: „Wenn ihr eure Dankbarkeit für Buddhas Güte […] zeigen wollt, solltet ihr die Große Lehre nicht zu ernst nehmen.“ Daraufhin brach er in lautes Lachen aus und starb. (Blyth, 33; eigene Übersetzung).
Das Heilige gewinnt seine Tiefe erst durch die Erkenntnis seiner gleichzeitigen Negation. Dem weißen Mann, der nach seiner Heilung im Roten-Ameisen-Ritual den Priester fragt, ob denn wirklich Ameisen die entscheidende Rolle bei der Heilung gespielt hätten, antwortet der Priester: „Nein, nicht Ameisen, sondern Ameisen.“ (Tedlock, 109, Hervorhebung im Original). Diese Antwort ist symptomatisch für das, was ich oben als dem Modus der ewigen Negation genannt habe: Ameisen sind auch Nicht-Ameisen, jedes Ding ist immer auch etwas Anderes, etwas Symbolisches, etwas Nicht-Sichtbares, etwas Transzendentes. Jede Wahrheit ist immer auch eine Unwahrheit.
Der alte Zenmeister, auf dem Sterbebett liegend, von den Mönchen umringt, wird gebeten, seinen Schülern noch eine letzte Weisheit auf den Weg zu geben. Da öffnet der Meister langsam noch einmal die Augen und spricht mit schwacher Stimme: „Die Wahrheit ist wie ein Fluss.“ Die Frage eines Schülers: „Meister, was meint Ihr mit ‚Die Wahrheit ist wie ein Fluss?’ “ Daraufhin der Meister: „Stimmt. Die Wahrheit ist nicht wie ein Fluss.“ (vgl. Hyers 271-272).
Dieses umfassende Bewusstsein für die ultimative Ambivalenz, nie endende Wandelbarkeit und Unbeantwortbarkeit aller Dinge, für die unweigerliche ewige Negation, welche auch sich selbst fortwährend transzendiert, wodurch sich alle Widersprüche zwischen Bejahung und Verneinung auf höherer Ebene lösen, aber auch dort nicht in einem eindeutigen Zustand verharren, sondern sogleich wieder neu infragegestellt werden, dieses im wahrsten Sinne grenzen-lose Bewusstsein macht auch vor dem inneren Blick des Individuums auf sich selbst nicht halt: Je größer die Erkenntnis um das Auch-Nicht-Ich seiende Ich, um das so genannte, aber letztlich unaussprechlich bleibende „wahre Selbst“, desto geringer die Sorge um das lächerlich winzige Ich, das auf der Ebene der Rechte und Pflichten, der Worte und Begriffe verteidigt und geschützt werden musste. Selbsttranszendenz ist Erweiterung des Selbst-Bewusstseins. Und so sagen die Acoma-Indianer in Neu-Mexiko über ihren ersten Clown: „Er weiß etwas über sich selbst.“ (Tedlock, 116).
Fassen wir die wesentlichen Aspekte des Lachens der Selbsttranszendenz knapp zusammen: Selbsttranszendenz beginnt mit dem Impuls des Fragens und Verneinens des bisherigen Bewusstseinsrahmens und des bisherigen Selbst und führt auf eine höhere Bewusstseinssstufe und einer weiteren Perspektive. Von dieser Perspektive aus erkennt der Betrachter, dass die Behauptung des Selbst, mit dem er sich bis dahin identifiziert hat, nicht mehr notwendig ist, weil das eigentliche Selbst, mit dem er sich nun identifiziert, auf einer höheren Ebene liegt und dort „in Sicherheit“ ist. Die bis dahin für das alte Selbst in Bereitschaft gehaltene Selbstbehauptungsenergie wird frei und löst sich im Lachen.
Wie wir oben gesehen haben, nimmt das Selbst auf der Ebene der Translation das belachte Objekt als etwas Äußeres wahr, als das äußere Andere. Im Falle der Selbsttranszendenz, also auf der Achse der Transformation erkennt das Selbst das Objekt des Lachens nicht mehr als etwas Äußeres, sondern als etwas Inneres, und zwar als das innere Andere. Und wenn das Selbst in der Translation, in der Begegnung mit der Welt und mit dem äußeren Anderen, sein äußeres Eigenes behauptet, so befreit es in der Transformation, also in der Differenzierung von sich selbst, von dem inneren Anderen, sein inneres Eigenes.
4.4. Weinen und Selbstimmanenz
Betrachten wir nun – in etwas knapperer Form – den Zusammenhang zwischen dem Weinen und dem Impuls zur Selbstimmanenz. Wie in Abschnitt 3.2. beschrieben, lässt sich das Phänomen des Weinens verstehen als Ausdruck der Sehnsucht, eins zu werden mit dem beweinten Objekt, also als Ausdruck einer tiefen Sympathie des Selbst mit dem jeweiligen Anderen. Genauso wie im Falle des Lachens kann dieses Andere nun nicht nur ein Objekt in der äußeren Welt, z. B. das Gegenüber des anderen Menschen oder der Natur, also ein äußeres Anderes sein, sondern auch ein inneres Anderes. Als das innere Andere lassen sich vor allem Bewusstseinsanteile verstehen, die das Selbst überwunden, von denen es sich entfernt und möglicherweise sogar entfremdet hat. Die eigene Kindheit, die eigene Jugend, und alle sonstigen früheren Selbsterfahrungen können im Laufe der Zeit zum inneren Anderen werden.
Und so wie das Selbst einerseits die Tendenz hat, sich selbst zu transzendieren, und dadurch das bisherige innere Eigene (die verschmolzenen Bewusstseinsanteile) zum inneren Anderen (zu differenzierten Bewusstseinsanteilen) zu machen, hat es gleichzeitig auch die Tendenz zur Immanenz, indem es sich nämlich dieses zum inneren Anderen Gewordenen wieder annimmt, es als Teil des Selbst-Bewusstseins integriert und es von höherer Stufe aus wieder zum inneren Eigenen macht.
Diese Hinwendung zum inneren Anderen, zu den vielen Seiten des Ich, zu den früheren Ichs, dieses Erbarmen mit sich selbst, diese Form von Selbst-Mitleid, kann in sehr intensiver Form ihren Ausdruck finden im Weinen. Die plötzlich aufflackernde Erinnerung an den Menschen, der man einst war, an all die geistig-emotionalen Erfahrungen, die man einst so aufrichtigen Herzens durchlebt hat und die nun längst überwuchert sind von einem dicken Geflecht neuer Erfahrungen und womöglich tief begraben unter einem Berg neu gewonnener Erkenntnisse, die Erinnerung an ein früheres, unschuldiges Selbst, das für immer verloren, unwiederbringlich gestorben scheint, kann zu Tränen rühren. Dies ist das Weinen der Selbstimmanenz.
Solch ein intensiver Moment der Er-Innerung, der Verinnerlichung des Anderen in einem selbst, kann zu dem umfassenden Gefühl des Einswerdens mit allen früheren Ichs, zu tiefster emotionaler Durchdrungenheit, und gleichzeitig zu höchster Bewusstseinsklarheit führen, wobei sich unter die hervorbrechenden Tränen schließlich eine unendliche, tiefe Ruhe legt.(34) Wie zum Beispiel die von Plessner (133) zitierte Arbeit von Spitz zeigt, kann gerade ein Tränenausbruch von besonders hoher physischer Intensität mit ausgeprägter Bewusstseinshelle einhergehen.(35)
Dieses Sich-Hineinversenken in sich selbst, das Hinabsteigen in die fremd gewordenen Schichten des eigenen Bewusstseins, die plötzlich als das Allervertrauteste wiedererkannt werden, steht, so bezeichne ich es hier, im Modus der ewigen Affirmation: „Alles ist genauso wie es ist.“ oder im Modus der ewigen Antwort: „Es ist genau das.“ Da Betrachter und Objekt einswerden, gibt es zwischen ihnen keinerlei kritischen Abstand, der Fragen, Zweifel oder Unsicherheit aufkommen lassen könnte. Die Dinge der Erinnerung erscheinen in ihrer Unmittelbarkeit gewissermaßen als unendlicher, absoluter Augenblick, das innere Andere fließt mit dem inneren Eigenen zusammen.
Auch die Gegensätze zwischen der äußeren Welt und der eigenen inneren Welt können in einem solchen Moment des Innewerdens zu einem einzigen großen Ganzen verschmelzen, und die Erfahrung des Zusammenfließens aller Dinge entspricht den fließenden Tränen, die der Weinende vergießt. Das Wasser als Symbol des Unbewussten, des noch nicht Differenzierten, des tiefen gegenseitigen Durchdrungenseins, des noch ganz ineinander Verschmolzenseins, des ultimativen Urzustandes allen Seins, lässt sich verstehen als der physische Ausdruck der Selbstimmanenz.(36)
5. Das Integrale des Humors
Die aufsteigende Richtung der Transzendenz, die durch zunehmende Objektivierung zu einem immer weiter blickenden Betrachter und somit zu einem immer umfassenderen Selbst führt, zu einem Selbst, das schließlich im Moment der Erleuchtung so umfassend wird, dass es sich als eins mit dem gesamten seienden und nicht-seienden Kosmos erkennt, ist der Weg des Lachens. Die absteigende Richtung der Immanenz, die durch zunehmende Subjektivierung zu einer immer intensiveren Einfühlung und zu einem immer tieferen Selbst führt, zu einem Selbst, das schließlich im allertiefsten Mitgefühl eins wird mit allem, was da ist und nicht ist, ist der Weg des Weinens.
Hier wird deutlich: Im Moment der unendlichen Selbstausdehnung und der unendlichen Selbsteinfühlung fallen die Bewegung des Aufstiegs, des transzendentalen Lachens und die des Abstiegs, des immanentalen Weinens letztlich zusammen, oder wie Wilber es formuliert, „der Weg nach oben ist der Weg nach unten“ (Wilber 2001, 391), oder wie es im Buddhismus heißt: Weisheit und Mitgefühl sind eins.
Das Lachen (das Trennende, das Harte, das „Männliche“, der Weg nach oben, dem höchsten Gipfel, dem Licht entgegen) ist die Yang-Komponente, das Weinen (das Verbindende, das Weiche, das „Weibliche“, der Weg nach unten, den tiefen, dunklen Gewässern der Seele entgegen) die Yin-Komponente des Humors. Und so entfaltet Humor nur dann eine integrale Wirkung, wenn die polaren Tendenzen des Lachens und Weinens nicht voneinander dissoziiert werden. Denn, so wie die gesunden Aspekte von Agenz und Kommunion auf der Achse der Translation und die gesunden Aspekte von Transzendenz und Immanenz auf der Achse der Transformation krankhafte Abarten (Hyperagenz, Hyperkommunion, Phobos, Thanatos) entwickeln können, wenn sie voneinander abgetrennt werden, können auch Lachen und Weinen jeweils gesunde oder krankhafte Aspekte dieser vier psychischen Haupttendenzen in sich tragen.
Lachen kann befreiend oder gezwungen sein, offen oder gepresst klingen. Es kann Ausdruck des befreiten, emanzipierten Selbst sein, im Sinne gesunder Agenz oder Selbsttranszendenz, oder es kann Ausdruck eines zynischen, aggressiven, unterdrückerischen Selbst sein, dem jegliche Einfühlung fehlt, welches das Objekt durch sein Lachen degradiert und zerstört, sei das äußere Andere (Hyperagenz) oder das innere Andere (Phobos).
Auch im Hinblick auf oftmals betonte kathartische Wirkung des Weinens muss man vor diesem Hintergrund differenziert argumentieren. Weinen kann eher befreiend sein oder eher bedrückt, die Tränen können süß oder bitter sein. Weinen kann Ausdruck eines mitfühlenden, Anteil nehmenden Selbst sein, im Sinne gesunder Kommunion oder eines sich im Anderen verlierenden Selbst, das sich in Tränen auflöst und zugrunde geht. Weinen als Ausdruck von Mitgefühl des Selbst mit dem Anderen wird man als positives, gesundes Phänomen einschätzen. Ein Weinen, dem jeglicher Sinn für das Objektivierende fehlt, kann pathologische Züge tragen und Ausdruck sein von Regression und von Selbstauflösung im (äußeren oder inneren) Anderen.
Eine Humortheorie, welche die gesunden regenerativen Aspekte eines integralen Humors und die Gefahr krankhafter Tendenzen im Falle eines einseitigen, eines verstümmelten Humors besonders betont – wenn auch aus anderem Blickwinkel –, ist Bachtins vielbesprochene Karnevalismustheorie.(37) Seine Konzeption des Karnevalshumors hebt besonders den Aspekt der reziproken Durchdringung und kreisenden Polarität aller Gegensätze hervor. Mann und Frau, Geburt und Tod, innen und außen, oben und unten, Kopf und Hintern, König und Sklave, Weisheit und Torheit, Lob und Fluch, Liebkosung und Streit usw. kehren sich im Karneval um, vermischen sich und durchdringen einander. Dies wird auch deutlich in grotesken Hybridgestalten wie beispielsweise den „lachenden schwangeren Alten“ (Bachtin, 76). Das Karnevalslachen ist nie ausgrenzend, sondern schließt alle Gegensätze in sich ein und hat dadurch immer etwas grundsätzlich Mehrdeutiges: Es lebt von der Ambiguität der Verneinung (Transzendenz) einerseits und der Bejahung (Immanenz) anderseits. Es entfaltet seine regenerative Wirkung nicht durch die einseitige Verneinung des Todes, nicht durch das einseitige Auslachen des Todes, sondern indem es die gegenseitige Durchdringung von Geburt und Tod erkennt, das endlose Wechselspiel zwischen beiden, welches letztlich die Gesamtheit des Lebens ausmacht.
Bachtin weist im Zusammenhang mit dem Begriff des Grotesken darauf hin, dass der mittelalterliche Karnevalshumor in seiner allumfassenden, offenen, integrativen, alle Abgrenzungen überwindenden Haltung ein völlig angstfreies Lachen hervorbringt, während die in späteren Epochen (besonders im Zusammenhang mit der dualistisch-logisches Denken fordernden Aufklärung) entstehende Tendenz zur einseitigen Herabwürdigung des Niederen (des Todes, der Fäkalien, des Vulgären, der Sexualität usw.) durch ein ausgrenzendes, also angstbesetztes Lachen geprägt ist (Bachtin, 98-99; 141-142). Eine solche ausgrenzende, zynische Haltung führt zur inneren Entfremdung („Die eigene Welt wird zur Fremden.“ Bachtin, 89), zur Abspaltung, Repression und Verdrängung des zum inneren Anderen Gemachten.(38) Mit der Tendenz der Moderne zur Vereindeutlichung und zur Unterdrückung ursprünglicher Ambivalenz verflacht das Karnevalslachen und verliert sein regeneratives Potential. So ist für Bachtin die Dissoziation der umeinander kreisenden, sich gegenseitig relativierenden und dadurch neu belebenden Gegensätze und die einseitige Hinwendung zum Höheren gleichbedeutend mit einer „Degeneration des Lachprinzips“ (89).
Integraler Humor lässt sich insofern begreifen als die gegenseitige Durchdringung von Distanzierung und Einfühlung, von Transzendenz und Immanenz, als ein Lachen, welches das Weinen transzendiert und einschließt. Je größer die Distanz (und weiter der Blick) und je tiefer zugleich die einfühlende Betroffenheit, desto größer der Humor.(39)
Abschließend will ich die besprochenen Aspekte des Lachens und Weinens, wie sie als menschliche Ausdrucksformen der grundlegenden Bewusstseinstendenzen im Spannungsfeld zwischen Selbstbehauptung und Selbstanpassung, zwischen Selbsttranszendenz und Selbstimmanenz wirken, in einem schematischen Schaubild zusammenfassen:
Abb. 2: Lachen und Weinen im Spannungsfeld menschlicher Bewusstseinstendenzen
6. Nachbemerkung
Dieser Artikel ist in vieler Hinsicht nicht unproblematisch. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ein so komplexer Gegenstand wie das, was ich hier etwas großspurig „integralen Humor“ genannt habe, den Rahmen eines solchen Artikels im Grunde genommen sprengt. Auf sehr engem Raum wurde ein Thema behandelt, das eigentlich an vielen Stellen einer ausführlicheren Vertiefung und Konkretisierung bedurft hätte. Dennoch sollten die grundlegenden Zusammenhänge meiner Argumentation deutlich geworden sein. Ich bin überzeugt, dass verschiedene Aspekte des hier in ersten Ansätzen vorgestellten theoretischen Modells und die damit verbundene Sichtweise bei der Analyse der unzähligen konkreten Ausprägungen des Phänomens Humor sehr nützlich sein können. Insbesondere ergeben sich Anknüpfungspunkte für eine weitere Betrachtung des Lachens und Weinens im Zusammenhang mit Prozessen und Erfahrungen psychischer Bewusstseinsentwicklung und spiritueller Transformation.
Die von mir ganz bewusst zugespitzte Gegenüberstellung von Lachen und Weinen mochte auf den ersten Blick wie eine plumpe, dualistische Schematisierung gewirkt haben. Es sollte jedoch unmissverständlich deutlich geworden sein, dass es sich bei den hier herausgearbeiteten Dichotomien keinesfalls um „Entweder-Oder-Konstellationen“ einander gegenseitig ausschließender Gegensätze, sondern vielmehr um verschiedene Kontinua einander bedingender, einander durchdringender und einander hervorbringender Polaritäten handelt.
Ich bin fest überzeugt, dass dualistische Schematisierungen dieser Art als erster Schritt eines theoriebildenden Ansatzes unabdingbar sind. Denn je deutlicher, schärfer, plastischer die Differenzierung der Gegensätze, desto klarer und einleuchtender letztlich auch die Evidenz ihrer gemeinsamen Dimension und ihrer wechselseitigen Durchdrungenheit.
Schließlich zeigt sich, dass ebenso wie der Humor und ebenso wie jeder Prozess der Bewusstmachung (also der Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinsvertiefung) auch jede geisteswissenschaftliche Betrachtung zunächst den Weg der Differenzierung und Abgrenzung („Lachen hier, Weinen dort“) geht und dann den der Integration und Wiederzusammenführung („Im Lachen steckt auch die Seite des Weinens, im Weinen steckt auch die Seite des Lachens“). Humoristische und wissenschaftliche Perspektivierung sind analoge Formen der Bewusstseinsentfaltung.
Und nicht zuletzt insofern als ich mich einerseits als einfühlender Autor mit meinen Überlegungen voll und ganz identifiziere, andererseits zugleich als distanzierender Betrachter auch um die letztliche Banalität jedes wissenschaftlichen Erklärungsansatzes weiß, zögere ich nicht, die nun hier endende Betrachtung als rundum humoristische Äußerung zu sehen.
Fussnoten:
1.9. Lachen und Ernst
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