Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Januar 2010 |
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Sektion 1.9. | Lachen und Ernst Sektionsleiter | Section Chair: Han-Soon Yim (Seoul National University) |
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Stammesspott und Staatsromantik:
Zur Karriere der „Sieben Schwaben“ von Hasenjägern zu Volkshelden
Marianne Sammer (St. Pölten, Österreich)
Die Schwaben haben im 16. Jahrhundert einen herausragenden Platz in der deutschen Narren- und Schwankliteratur erobert und ihn auch im 17. und 18. Jahrhundert nicht verlassen. Der prominenteste der Erzähltypen ist die „Hasenjagd“: Ein Hase, der in einem Gebüsch angstvoll die sieben Schwaben anstarrt und davonrennt, als sie ihren gigantischen Spieß gegen ihn richten, jagt durch seinen furchterregenden Anblick die donquijotesken Helden in die Flucht. Wenn wir im folgenden der Frage nachgehen, wie die „Sieben Schwaben“(1) von Hasenjägern zu Volkshelden werden konnten, müssen wir uns von Anfang an darüber im Klaren sein, daß man von der „Geschichte von den Sieben Schwaben“ erst seit der endgültigen Literarisierung von Ludwig Aurbacher sprechen darf. Erst Aurbachers Bearbeitung des Stoffs hat der „Geschichte von den Sieben Schwaben“ die scherzhafte Bezeichnung „schwäbisches Nationalepos“ eingetragen. Die älteren Überlieferungen des Stoffes hingegen fallen unter die Kategorie „Schwabenspott“ und wurden auch als solche rezipiert.
Das wiederum bedeutet für uns methodisch, zwischen zweierlei kollektiven Erinnerungen unterscheiden zu müssen: nämlich zwischen dem altbekannten Zerrbild von der Mentalität der Schwaben – dem Schwabenspott – einerseits und dessen nunmehr neuartiger Rezeption, beginnend mit Aurbacher, andererseits. Beide Erinnerungen hängen aneinander, insofern der Erfolg von Aurbachers Geschichte an die traditionelle Vorstellung von der schwäbischen Mentalität anknüpft.
Was also verbirgt sich hinter dem Schwabenspott? Ursprünglich galten die Schwaben als ein ehrenvolles, kampfbereites Volk. Karl der Große soll ihnen schließlich wegen ihrer Tapferkeit – der historische Anlaß für diese Ehre ist allerdings unklar – das Vorstrittrecht verliehen haben, dessen sich die Schwaben, wie Chronisten und Dichter einhellig berichteten, überaus würdig erwiesen.(2) Erst im 14. Jahrhundert war dieses Privileg aufgeweicht. Mit dem Vorstritt war auch das Tragen der Reichssturmfahne verbunden. Die Schwaben wurden als Prototypen des edlen Rittertums geachtet; sie galten als gebildet, ihre Sprache noch lange Zeit als vornehm. Ihr Image hatte also mit dem Ende der Stauferkönige und der Auflösung des alten Stammesherzogtums in selbständige Territorien und freie Reichsstädte ab der Mitte des 13. Jahrhunderts eine beachtliche Fallhöhe erreicht. Sie ist seit dieser Zeit als Schwabenspott greifbar, der die Fama der Schwaben in ihr Gegenteil verkehrte und schließlich ins Groteske steigerte.
Eine weitere Etappe im Imageverlust bedeutete die Niederlage der Schwaben in den Bauernkriegen gegen die natürlich ihrerseits als Volk geschmähten Schweizer, besonders im Schwabenkrieg des Jahres 1499. Auf diese sprichwörtlich gewordene Feindschaft wird noch von Aurbacher angespielt.(3) Auch die Tatsache, daß über die Hälfte der freien deutschen Reichsstädte sich auf schwäbischem Boden befanden, gab dem Schwabenspott eine entscheidende Richtung, denn der Schwabe, über den sich die Bürger in den florierenden schwäbischen Städten lustig machten, war ein wirtschaftlich und intellektuell hinter der Zeit zurückgebliebener Landmann, ein Antiritter der traurigen Gestalt, ganz wie ihn schon die älteste Quelle für die Hasenjagd schildert – eine vor 1498 entstandene Handschrift aus Tegernsee. Die hervorstechenden Eigenschaften des Schwaben sind Einfalt, Langsamkeit und Umständlichkeit.(4) Die Zimmerische Chronik(5) und insbesondere Johann Fischarts „Gargantua“(6) können geradezu als Kompendien des Schwabenspotts, wie er sich in Literatur und Volksmund etabliert hatte, herangezogen werden(7).
Die Beliebtheit des Schwaben als Witzfigur ist in der frühen Neuzeit unerreicht, die Vielfalt der Motive und Erzähltypen unerschöpflich, auch nur repräsentative Beispiele anführen zu wollen, selbst schon ein Schildbürgerstreich, und bei den Schildbürgern soll es sich ja bekanntlich um die Bewohner des elsässischen – also schwäbischen – Laleburg handeln.(8) Auch in unserer Zeit wird gerne über Stämme gespottet; man braucht nur an die unendlichen Österreicher- oder Ostfriesenwitze zu denken. Festzuhalten ist für den Stammesspott allerdings, daß der Spott weniger den Stamm als solchen betrifft, sondern daß der Plot eines Schwanks oder eines Witzes notwendigerweise (allein schon wegen seiner Kürze) einen als Figur längst bekannten, (innerhalb unseres Paradigmas also) vorgewußten – Helden braucht, d.h. daß es in erster Linie um die Wiedergabe einer memorierenswerten erfundenen Begebenheit geht(9), und nicht um die verzeichnende Charakterisierung eines Stammes. Diese Entwicklung „hin zum Plot und weg vom Stamm“ ist für die Beliebtheit der Schwabenschwänke seit dem 16. Jahrhundert im gesamten deutschsprachigen Bereich mitzubedenken. Sie hilft auch, die Beliebtheit von Schwabenwitzen in Schwaben zu erklären.
Der Erzähltyp Hasenjagd(10) kam im 19. Jahrhundert zu neuen Ehren, nachdem „Die neun Schwaben“ von Hans Sachs(11) unter dem Titel „Die schwäbische Tafelrunde“(12) stark bearbeitet in Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (Teil II, erschienen 1808) gelangt waren(13). Geschildert werden jeweils zwei Episoden: die Hasenjagd und das Ende der neun Schwaben durch Ertrinken, nachdem sie sich von dem Froschruf „wadwad“ zum Durchwaten der Mosel hatten verlocken lassen. Diese zweiteilige Version wurde auch in die 1812 bis 1815 erschienenen „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm(14) als „Die sieben Schwaben“ aufgenommen. Sie beruht ihrerseits auf der Schwankversion in Kirchhofs 1563 gedruckten „Wendunmuth“(15), in der sich die neun Schwaben auch noch einer schrecklichen Hornisse ergeben und auf der Flucht in einen Rechen treten. Seit 1600 hat sich die Zahl der hasenjagenden Schwaben in den Varianten weitgehend bei sieben stabilisiert.(16) Eine für Aurbacher entscheidende Erweiterung hatte der Schwank durch den schwäbischen Mundartschriftsteller Sebastian Sailer (1714-1777) erfahren, der in seiner Komödie „Die sieben Schwaben, oder die Hasenjagd“(17) den sieben Helden –es treten aber neun auf – ihre Namen gab: Bannwarth, Gelbfüßler, Knöpflenschwab, Nestelschwab, Mückenschwab, Spiegelschwab, Blitzschwab, Suppenschwab, Allgayer. Das Stück war natürlich vergleichsweise unbekannt, wenn auch vielleicht nicht ganz so entlegen wie die 1763 anonym erschienene „Heldenmäßige und Welt berühmte Haasen-Jagd der sieben ehrlichen Schwaben, beschrieben von einem unwürdigen Landsmann schwäbischer Nation(18), auf die sich Aurbacher ausdrücklich bezog. Für die weitere Rezeption der Hasenjagd blieben diese beiden Quellen übrigens ohne Belang.
Nachdem Aurbachers „Volksbüchlein“, enthaltend die „Abenteuer von den sieben Schwaben“ und die (hier nicht zur Debatte stehenden) „Wanderungen des Spiegelschwaben“, in zwei Teilen 1827 und 1829 anonym erschienen war, wurden bald zwei weitere Auflagen notwendig (2. Auflage 1835-1839, 3. Auflage Leipzig o.J.), nicht lange danach folgten umgearbeitete Nachdrucke.(19) Die über Jahrzehnte nicht abreißenden, zahlreichen freien Bearbeitungen und Ergänzungen der Auerbachschen Erzählung – der Schwank war längst zu einer Odyssee(20) angeschwollen – führten zu einer Art Eigenleben der sieben Helden, d.h. sie gelangten durch diese „Rauberzählungen“, wenn man so will, ins kulturelle Gedächtnis. Die sieben Schwaben trotzen seither mit alter Einfalt ständig neuen Schwierigkeiten und Gefahren, beispielsweise bei ihrer Zeitreise ins Atomkraftwerkzeitalter und in die Naturverschmutzung.(21) Mit Blick auf die zahlreichen Sieben-Schwaben-Fanartikel, Wirtshausnamen und ähnliche Gedenkhilfen ist schon von einem Sieben-Schwaben-Folklorismus gesprochen worden.(22)
Um die Ideologeme zu erfassen, die Aurbacher bediente und seine Leser ergriffen, empfiehlt es sich, zunächst einmal den Text selbst zu betrachten. Aus Mundart, Herkunft und Wanderschaft glänzt jede Menge Heimatkolorit. Es werden aber noch weitere, nachhaltig wirksame Identifikationskategorien bedient, die sich am einfachsten anhand von Textwürdigungen aufweisen lassen. Eine besonders aufschlußreiche stammt von Albrecht Keller, nachzulesen in seiner Monographie über die „Schwaben in der Geschichte des Volkshumors“ aus dem Jahr 1907:
„Im 16. Jahrhundert ein Schwank wie alle andern, die Schwabenmut und -Klugheit dem Gelächter preisgaben, hat er unter der Hand eines biederen Schwaben, der auf den Herzschlag des Volkes zu lauschen wußte, eine Form angenommen, daß manche die beiden Teile des [Volks-]Büchleins scherzhaft eine „deutsche Ilias“ und eine „deutsche Odyssee“(23) nannten. Aurbachers entzückende Dichtung gehört zu den Perlen volksmäßiger Poesie. Mit kernigem und gesundem Humor begleitet er sieben Landstreicher auf ihrem Zug durch die schwäbischen Gaue, führt so den Leser tief hinein in das Treiben des einfachen Volkes, wies keinem zweiten besser gelungen ist, und selbst die derberen Geschichten, vielleicht gerade sie, versteht er mit einer liebenswürdigen Anmut zu schildern.[...] Ludwig Aurbachers Hohes Lied des Vagabundentums [erscheint] ganz als das Werk des Volkes, und man vergißt dabei, daß den tollen Abenteuern der sieben Helden erst eine Persönlichkeit Gestalt und Leben verleihen mußte. Aurbacher selbst tritt ganz zurück, wie er sein Volksbüchlein auch ohne Namen in die Welt hat gehen lassen.“(24)
Positiv rezipiert wird also der urtümliche schwäbische Volkscharakter des Textes, der in dem unverfälschten Wesen der Helden, ihrem unverdorbenen Denken, ihren ungekünstelten Sitten und authentischen Handlungsweisen in solcher Klarheit und Natürlichkeit hervortrete, daß man an eine schriftstellerische Eigenleistung gar nicht denken möchte. Der Vergleich mit der Ilias ist nicht von ungefähr: er stammt aus Aurbachers Vorwort und will zum Ausdruck bringen, daß sein Text ein Produkt des Volksgeistes sei, wie man im 19. Jahrhundert ja auch die Ilias oder das Nibelungenlied für das mündlich tradierte Werk eines nationseigenen Volksgeistes und nicht eines Autors hielt. Aufschlußreich ist unter diesem Gesichtspunkt auch Kellers Argumentation, warum die „Abenteuer des Spiegelschwaben“ nicht die Qualität der „Sieben Schwaben“ erreichen und somit auch nicht deren Beliebtheit: Sie passen oft nicht zum schwäbischen Volkscharakter, zeugen somit von fremdem Volkshumor und haben deshalb ein niedrigeres identifikatorisches Potential: „’Die Abenteuer des Spiegelschwaben’ sind Aurbacher nicht ganz so gut gelungen wie die ‚Abenteuer der sieben Schwaben’. Wohl sind sie einzeln betrachtet zum großen Teil ebenso köstlich frisch und anschaulich wie diese; [...] vor allem wechselt die kindliche Einfalt des Schwaben, auf der der Reiz der ‚Sieben Schwaben’ beruht, mit schelmenhafter Gerissenheit. Der Spiegelschwab wird nun ganz zum Spitzbuben [...] und nirgends hat der deutsche Volksmund den Schwaben zum Gauner gemacht [...] er ist zu einem Gegenstück Eulenspiegels geworden. [...] Das allgemein Menschliche, wenn man so sagen darf, vertritt also hier das rein Schwäbische. [...] Solcher Streiche ist ein Schwabe niemals fähig, und wenn er noch so pfiffig ist. [...] dem Betrogenen frech ins Gesicht zu lachen, das hat der Volksmund nie einem Schwaben zugetraut.“(25)
Mittels der „Abenteuer der Sieben Schwaben“ wird also letztlich das Ideologem vom Schwäbischen Volksgeist erinnert, der sich so authentisch wie selten – nämlich als Volksbuch – über Aurbacher ausgedrückt habe. Aurbacher selbst legt diese Vorstellung sogar nahe: „Das Volksbüchlein war fertig, noch ehe ich eine Feder angesetzt hatte.“(26) Obwohl er hinzufügte, Quellenstudien betrieben zu haben und sogar einige Beispiele benannte, war es offenbar für seine Zeitgenossen und sogar noch 80 Jahre später für Keller ein Problem, den Text als Produkt gründlicher Quellenarbeit und stilistischer Kunstfertigkeit zu denken.(27) Keller listet seitenweise Aurbachers literarische Adaptionen auf(28), und doch ist es ihm unmöglich, sich von der Vorstellung eines diktierenden Volksgeistes zu verabschieden: „Aber hat Aurbacher all die obskuren Schwankbücher nach Anekdoten durchackert, die er etwa für sein Volksbüchlein brauchen konnte? Hat er nicht aus demselben Quell geschöpft, aus dem auch die alten Oktav- und Duodezbände getrunken haben, und der noch nicht versiegt war: aus der mündlichen Überlieferung des Volkes? [...] Aurbacher war viel zu sehr auf den Volkston gestimmt, als daß man ihn bloß für einen Nachbildner halten möchte.“(29) Bei dem Volksgeist handelt es sich bis zur 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts sozusagen um die Hardware, bei den Diktaten des Volksgeistes um die Software des kollektiven Gedächtnisses.
In diesen Zusammenhang paßt auch, daß Aurbacher als Verfasser seines Volksbuches im Vorwort einen anonymen Schreiber fingiert, der ein altes Manuskript herausgibt. Dieses habe sich „unter vielen andern Manuskripten unbedeutenden Inhalts, welche wahrscheinlich aus irgend einer aufgelösten schwäbischen Reichsabtei in die dritte und vierte Hand gekommen waren, [vorgefunden], des Titels und Inhalts, wie es nun dem geehrten Leser gedruckt vorliegt.“(30) Mit dieser Angabe hat Aurbacher die Echtheit und den mentalitätsgeschichtlichen Wert des Manuskripts durch sein vermeintliches Alter literarisch autorisiert, zumal er ja zunächst darauf verzichtete, als Autor der „Abenteuer der sieben Schwaben“ zu zeichnen. Aurbacher hat mit diesem rhetorischen Kniff sein Volksbuch den Schwaben als ihr Volksbuch – genauer: als ihr von ihm für sie gerettetes Volksbuch – in die Hände gedrückt. Und als solches konnte es auch, wie wir gesehen haben, dank der Gedächtnishardware Volksgeist erinnert werden, auch wenn sich der Herausgeber später als Autor outete. Die zahlreichen nachfolgenden Stoffbearbeitungen und Reminiszenzen an die Sieben Schwaben zeigen deutlich, daß es nicht um Aurbachers Text geht, sondern um die Sieben Schwaben als kollektive Erinnerung, die das Volksbuch nur transportiert bzw. zwischenspeichert.
Die vorigen Abschnitte beschäftigten sich mit den Fragen, was wann erinnert wurde. Es bleibt noch die Frage nach dem Warum. Warum verfaßte Aurbacher ein Volksbuch und warum erschien Generationen von Lesern die Geschichte von den Sieben Schwaben als wertvoll und somit erinnernswert? Die Antwort führt mitten in Restauration, Romantik(31) und, in Aurbachers speziellem Fall, nach München, und ist ideologiegeschichtlicher Natur.
Der Erinnerungskontext: Zusammen mit der Aufklärung waren bekanntlich auch die Keime für ihren Zerfall gewachsen, der nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches und dem Sturz von Montgelas als Restauration politische und geistesgeschichtliche Wirklichkeit wurde. Es ist eine Paradoxie der Aufklärung, daß ihre Initiativen zur geistigen Befreiung des Volkes aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ von politischen und intellektuellen Eliten ausging, das Objekt der Bewegung aber, das „Volk“, deren Anliegen oftmals nicht verstand oder sich nicht dafür interessierte. Das registrierte Johann Andreas Schmeller, ein Freund Aurbachers, 1802 sehr wach: „Schon der blosse Name Aufklärung ist unserm Pöbel schon so verhasst. Ein deutlicher Beweis, dass all sein Wissen ein blosser Wortschall, und gar kein deutlicher, selbstgedachter Begriff ist. Es ist aber auch kein Wunder; die meisten Schriften, Belehrungen und Aufsätze für das Volk sind ja in einem ihm nichts weniger als verständlichen Stile, nichts weniger als ihrer Gedankenart angemessen. [...]“(32)
In den bayerischen Akademie- und Regierungskreisen verstand man seit jeher unter „Aufklärung“ in erster Linie eine vernünftig dosierte und organisierte „Volksbildung“ zum Zweck der Volkserziehung, die sich erst langfristig auf das Staatswohl auswirken könne und keine Rebellen, sondern fleißige Christen und treue Untertanen des Hauses Wittelsbach hervorbringe. Bedenkt man, welch eine zentrale Rolle die Literatur als Medium der Volkserziehung spielen sollte, wäre es nach den Aufklärern, deren Gegnern und nicht zuletzt dem dichtenden König selbst gegangen, dann ist es nicht weiter erstaunlich, daß sich unter Ludwig I. längst schon ein entsprechendes propagandistisches Schrifttum etabliert hatte.(33)
Dazu zählt auch die sogenannte „Volksliteratur“ – Literatur für das Volk, nicht Literatur vom Volk – mit einem relativ hohen Unterhaltungswert und einem überaus hohen erzieherischen, im vorliegenden Fall sittlichen Anspruch und vaterländischer Gesinnung. Zu dieser Volksliteratur zählen Erbauungs- und Religionsbücher im engeren Sinne, wie sie Aurbacher mit seinen „Geistlichen Hirtenliedern“ (München 1926) seiner „Anthologie deutscher katholischer Gesänge aus alter Zeit“ (Landshut 1931) und seiner Bearbeitung des „Cherubinischen Wandersmannes“ (München 1927) produzierte. Es gehörte aber auch jede Art von Literatur dazu, die in relativ hoher Auflage etwa in Heftchen, Taschenbüchern, Almanachen, Kalendern erschien, vom Leser keine speziellen Fach- und Sachkenntnisse erfordert, also leicht les- und verstehbar war, und über das Gemüt – weniger über den Verstand – die rechte Gesinnung transportiert, etwa anhand von Geschichten. Diese Schriften können mitunter hohe ästhetische bzw. poetische Standards erfüllen, wie es bei Aurbacher oder Johann Peter Hebel der Fall ist, sind also keineswegs in jedem Fall mit Trivial- oder Schundliteratur gleichzusetzen. Auch stammen sie teilweise aus der Feder prominenter, intellektueller und schriftstellerisch versierter Zeitgenossen, die sich in den Dienst von Regierung und Kirche stellten.
Um dieses Genre handelt es sich, wie ja schon aus dem Titel hervorgeht, bei Aurbachers „Volksbüchlein“, das ja nicht nur die „Abenteuer der sieben Schwaben“ und die „Wanderungen des Spiegelschwaben“, sondern auch einen „Doktor Faustus“, die „Geschichte vom ewigen Juden“ und „Ergötzliche und erbauliche Erzählungen“ enthält. Die Geschichte der Hasenjäger findet sich also zusammengebunden mit anderen volkstümlichen Erzählungen in einem modernen Volksbuch. Aurbacher, ein gebürtiger Schwabe, war von 1809 bis 1834 Professor für Ästhetik und deutschen Stil (!) am Königlichen Kadettenkorps in München und ein aktiver Staatsromantiker. Seinen Beitrag zur Volkserziehung leistete er nicht nur auf dem Gebiet der Volksliteratur, sondern auch auf dem Gebiet der Volksbildung, etwa in seinem „Handbuch zur intellectuiellen und moralischen Bildung für angehende Officiers“ (München 1916), seinen Arbeitsbüchern zur Rechtschreibung, Rhetorik, Stilistik usw. oder in seinen Vorarbeiten zu einem „Schwäbischen Idiotikon“. Aurbacher verfaßte also staatstragende Schriften auf der Höhe seiner Zeit und bediente dabei natürlich moderne Vorstellungswerte.
Ein besonders langlebiger davon ist das Volk und sein besagter Volksgeist. Für die Romantiker bedeutete „Volk“ nicht in erster Linie die „unteren“ Schichten der Gesellschaft, sondern etwas wie eine Metapher für eine idealisierte Ganzheit der Menschen eines Kulturraums, der ästhetische Qualitäten wie Natürlichkeit, Unverdorbenheit und ein spezifischer Volksgeist – eine Art Mentalität – zugeschrieben wurde. Dieser Volksgeist stamme aus der „Wiege des Volkes“ und damit aus vor-aufgeklärter Zeit und bilde die Seele bzw. den Charakter eines Volkes, weshalb man auch psychologisierend von der Entwicklung, dem Verfall oder der Moral usw. eines Volkes sprechen könne. Man glaubte, in alten – erst jetzt eigens als solche bezeichneten – Volksliedern, Volkssagen, Volksmärchen, Volksepen und dergleichen, die im Volk mittels mündlicher Überlieferung überlebt hätten, wertvolle Zeugnisse eines verlorenen paradiesischen Urzustandes zu besitzen. Diesen wiederherzustellen träumten die Romantiker in der tiefen Überzeugung, durch Besinnung auf das Altväterische die Mißstände der Gegenwart – soziale, politische, ethische – heilen zu können. Gleichzeitig war mit der Rückkehr zu den imaginären Volkswurzeln eine staatlicherseits höchst erwünschte nationale Identitätsbildung, eine Hinwendung zum Patriotismus und zur Religiosität verbunden. Volksliteratur konnte also keinesfalls elitär sein, sondern mußte populär sein. Daß die entsprechenden mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texte von Eliten wiederentdeckt, übersetzt und bearbeitet oder gar, wie bei Aurbacher, moderne Texte im altväterischen Stil gedichtet und konstruiert werden mußten, störte ebensowenig wie die Tatsache, daß man sich die Idee des Volkstümlichen erst ästhetisch erarbeiten mußte. Der ideale Volkston war möglichst schlicht, wirkte altertümlich und vermied alles Häßliche, Desillusionierende und Problematische zugunsten einer gemütvollen und auferbauenden Darstellungsweise, am besten in Verbindung mit christlicher Moraldidaxe. Damit formulierte man bewußt eine Absage an die Literatur (und die Ideologeme) des Jungen Deutschlands oder des Poetischen Realismus.
Diese Produkte mußten natürlich ins Volk gelangen und dessen kollektiver Erinnerung einwohnen. Innerhalb unseres Paradigmas sind wir jetzt also bei der Frage, wie das Überleben des Volksbuchs und somit auch der sieben Schwaben in der Zeit nach Aurbacher bewerkstelligt wurde. Die Antwort lautet: als langfristig kalkulierte Trendliteratur:(34) Die planmäßigen Bemühungen um geeignete Gesinnungsliteratur in Bayern und die volksnahe Verbreitung der intendierten Erziehungsinhalte setzten im Grunde die Strategie der „Stiftung Gülden Almosen“ (1614-1773) des Jesuiten Emmeran Welser fort, im Rahmen der Gegenreformation und Konfessionalisierung staatstragende Erbauungsliteratur kostengünstig und weitflächig zu streuen. Sie hatte also eine lange Tradition, die von den bayerischen Aufklärern weitergepflegt wurde. Für die fortgesetzten diesbezüglichen Bemühungen, die mit der Gründung des „Vereins zur Verbreitung guter Bücher“ 1830 durch Ludwig I. begannen, lassen sich zahlreiche Vorbilder finden, etwa die 1816 in Wien durch Clemens Maria Hofbauer ins Leben gerufene „Geistliche Leihbibliothek“ (1816-1850) oder der seit 1829 ebenfalls in Wien ansässige „Verein zur Verbreitung guter katholischer Bücher“, der einen eigenen Verlag und eine Buchhandlung betrieb.(35) Natürlich war die Gesinnungsarbeit solcher Büchervereine(36) nicht auf den Katholizismus im engeren Sinne beschränkt, sondern umfaßte sittliche und vaterländische Wertevermittlung in allgemeinem Sinne. Wichtig in Hinblick auf die kollektive Gedächtnisleistung ist auch nicht das jeweilige genaue Verlagsprogramm, sondern daß die von den Büchervereinen in Massen vertriebenen Volksprodukte durchgängig eine restaurative Gesinnung aufweisen, daß sie tatsächlich geschmacksbildend wirkten und von den Kunden gut angenommen wurden. Und das war der Fall. Von wem letztlich ein Volksbuch verlegt wurde, ist, wie das Beispiel von den Sieben Schwaben zeigt, letztlich egal, wenn das Produkt als solches den anerzogenen Leseerwartungen und dem vorgeprägten Geschmack entspricht, kurz, wenn es im Trend lag. Und diesen wiederum bestimmte in Bayern die Staatsraison.
Aurbachers „Abenteuer von den Sieben Schwaben“ entsprachen also unter mehrerlei Wahrnehmungspatterns dem Zeitgeschmack. Sie beriefen sich auf altväterische Traditionen, bedienten moderne romantische und vaterländische Ideologeme, wurden von der staatstragenden Volksbuchmode und deren langfristiger Vermarktung mitgetragen und konnten auf diese Weise ins kulturelle Gedächtnis gelangen. Dort behaupteten sie nicht nur ihren Platz, sondern sie begannen sogar ein von ihrem Autor befreites Eigenleben zu führen. Allerdings seit dem 20. Jahrhundert gemeinhin – von Einzelfällen natürlich immer abgesehen – in der stark reduzierten Form, wie sie in den Kinder- und Hausmärchen vorliegt, nämlich als sieben Hasenjäger. Wir sind also bei der reduzierten Leistung des kollektiven Langzeitgedächtnisses und damit am Schluß. Die Entwicklung ist schnell erklärt. Die Geschichte der Sieben Schwaben hätte unter den Grimm-Märchen bei den Zeitgenossen mit Sicherheit nicht mehr Aufsehen erregt als andere Märchen, wenn sie Aurbacher nicht so vorbildlich zum Volksepos im Stil einer Abenteuer-Kettenerzählung literarisiert hätte. Und genau diese Langform hielt sich im kollektiven Gedächtnis nicht länger als sie dem romantischen Zeitgeschmack entsprach. Sie wurde einfach nicht mehr gelesen. Nachdem die Staatsromantik passé war, erwies sich nicht Aurbacher, sondern die Kurzmitteilung des wichtigsten Abenteuers – die Hasenjagd – in den nach wie vor weit verbreiteten Kinder- und Hausmärchen als der stärkere Erinnerungsträger. In der Volkskunde kennt man das Phänomen und spricht von Schwank und Witz als Schwundstufen. Entscheidend aber ist, daß ein Erinnerungsträger nicht identisch mit dem Akt des Erinnerns ist, d.h. daß die Hasenjagd im kollektiven Gedächtnis aktiv gewußt wird, obwohl den meisten Erinnernden weder Aurbacher ein Begriff ist, noch die Version in den Grimmschen Märchen präsent. Und genau das ist paradoxerweise Aurbachers Leistung: Seiner Iliade verdankt die kollektive Erinnerung an die Sieben Schwaben die nebulöse Schwere einer Fama.
Anmerkungen:
1.9. Lachen und Ernst
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