TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Januar 2010

Lachen und Ernst
Sektionsleiter | Section Chair: Han-Soon Yim (Seoul National University)

Dokumentation | Documentation | Documentation


„Ich lebe in der DDR, ansonsten habe ich keine Probleme“

– oder: Der humoristisch-satirische Blick auf die DDR-Geschichte und die deutschdeutsche Wiedervereinigung
als Aufmerksamkeitsschulung und Training für den Möglichkeitssinn
(1)

Waltraud ›Wara‹ Wende (Groningen)

Email: wara.wende@uni-wh.de

 

1. Spielfilme sind kein Ersatz für Geschichtsunterricht

Wenn Spielfilme ihren Zuschauern eine Geschichte erzählen, die in einem historischen Kontext angesiedelt ist, dann sind die Rezipienten dieser Filme stets geneigt, die Daten- und Faktenlage der filmischen ‚Als-ob-Welten‘(2) auf ihre historische Korrektheit und ihre sachliche Richtigkeit hin zu befragen. Relativ unbeeinflusst von dem Tatbestand, dass in Spielfilmen schon allein qua Gattungskonvention nicht etwa faktengesättigter, auf intersubjektive Nachprüfbarkeit orientierter Geschichtsunterricht angesagt ist, sondern statt dessen der mit dem Erzählen von Geschichten stets verbundene ‚Unterhaltungswert‘ ganz oben auf der Agenda steht, werden die Qualitätsdimensionen von Filmen mit historischer Patina immer wieder gern mit der Überlegung korreliert, ob und inwieweit die filmischen Als-ob-Welten mit den von Historikern seriös rekonstruierten Vergangenheitsbildern übereinstimmen: Erfindungen und Irrtümer geraten in das Visier der Kritik, Unwahrscheinlichkeiten werden als Zumutungen angesehen und Unwahrheiten werden alarmistisch beanstandet.

Mit anderen Worten: Bei der Antwort auf die Frage, ob ein Spielfilm, in dem eine Geschichte aus der Geschichte erzählt wird, als kommunikativer Erfolg zu betrachten ist, tendieren Kritiker – zumal wenn es sich um Historiker oder Soziologen und nicht etwa um Medien- oder Literaturwissenschaftler handelt – dazu, die mimetische Repräsentation von historischen Gegenständen, Motiven und Themen auf ihren außerfilmischen Wahrheitsgehalt und ihre außerfilmische Glaubwürdigkeit hin zu befragen und ein eventuell positives Urteil dann von der historischen Tatsachentreue und der sachlichen Fehlerlosigkeit der Spielfilmwelt abhängig zu machen. Dabei wird freilich in der Regel unberücksichtigt gelassen, dass sich die narrative Symbolstruktur eines Spielfilms von historischen – dem Schauplatz der ‚tatsächlichen‘ Wirklichkeit entnommenen – Dokumenten ganz grundlegend unterscheidet. Spielfilme sind mehr und anderes als lediglich Kopien der Wirklichkeit, in ihnen geht es nicht um „Authentizität“(3), Daten- und Faktentreue, sondern sie bieten ‚fiktionale‘ Als-ob-Welten, die mit Blick auf die Welt der Tatsachen autonom sind.

Daraus folgt, dass es nicht nur nicht angeht, von Spielfilmen Daten- und Faktentreue einzufordern, sondern dass es darüber hinaus auch wenig einsichtig ist, Spielfilme als kompensatorische Alternativen zu den Defiziten eines möglicherweise unzureichenden Geschichtsunterrichts funktionalisieren zu wollen. Spielfilme und die von ihnen entworfenen fiktionalen Als-ob-Welten spielen im Kontext eines ganz anderen Feldes, nämlich im Kontext dessen, was man gemeinhin ‚Kunst‘ nennt. Und in diesem Kontext wird zumindest seit der Genie-Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts(4) und dem damit einhergehenden fundamentalen Umbau des Kunstsystems der Anspruch auf ‚Autonomie‘ und ‚Freiheit‘ gegenüber gesellschaftlichen Funktionalisierungen und kollektiven Zwängen erhoben – mit der daraus folgenden Konsequenz, dass die Kriterien ‚wahr‘ oder ‚falsch‘, ‚richtig‘ oder ‚unrichtig‘, ‚nützlich‘ oder ‚nutzlos‘ zugunsten ästhetischer und poetischer Werte suspendiert sind und die qualitative Begutachtung einer Kunstwelt ausschließlich anhand kunstinterner Kriterien zu erfolgen hat, die da beispielsweise wären: die Komplexität des verwendeten Zeichenrepertoires, der Facettenreichtum, Vielschichtigkeit und Polyvalenz der inszenierten Kunstwelt, die Differenziertheit und vielleicht auch die Unkonventionalität der Repräsentationsstrategien.(5)

Zudem ist zu bedenken, dass ein wesentlicher Aspekt dessen, was in der europäischen Ästhetik als ‚Kunst‘ tituliert wird, der mit der Kunstrezeption verbundene – zuvor bereits angesprochene – ‚Unterhaltungswert‘ ist. Man könnte geradezu sagen, zum kommunikativen Erfolg eines Kunstwerkes gehört die von ihm als Rezeptions- und Wirkungseffekt ermöglichte Unterhaltung, Kunst und Unterhaltung gehören untrennbar zusammen. Oder mit anderen Worten: Die Möglichkeit, sich durch Begegnung und Auseinandersetzung mit einer Kunstwelt Gefühlshorizonte und Erlebnisdimensionen zu erschließen, die das ‚alltägliche‘ und ‚wirkliche‘ Leben – leider oder glücklicherweise – meist so nicht bereithält, ist geradezu ein Synonym für das, was zumindest in der westlichen Welt als Kunst bezeichnet wird.(6) Die Unterhaltungsdimension des Massenmediums Spielfilm ist offenkundig und wird wohl auch von niemandem ernsthaft bestritten. Weit weniger Konsens dürfte da schon die Feststellung finden, dass die qualitative Begutachtung einer Spielfilmwelt ausschließlich anhand kunstinterner Kriterien zu erfolgen habe. Und doch führt kein Weg daran vorbei, Spielfilmwelten prinzipiell den gleichen Status einzuräumen, wie er im Kontext des Kunstsystems ja auch jeder anderen autonomen und fiktionalen Symbolwelt – z.B. einem Roman – zugestanden wird.

Dass in Spielfilmen autonome und fiktionale Als-ob-Welten generiert werden, die sich anders als ein an den Kriterien der Intersubjektivität ausgerichtetes Geschichtsbuch nicht an den Kriterien ‚wahr‘ oder ‚falsch‘, ‚richtig‘ oder ‚unrichtig‘, ‚nützlich‘ oder ‚nutzlos‘ messen lassen müssen, dürfte vor allem dann für jedermann offensichtlich sein, wenn es um Spielfilme geht, die – wie dies zum Beispiel in filmischen Parodien zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte der Fall ist – den in zeitgeschichtlichen Standardwerken als intersubjektive ‚Wahrheit‘ verkündeten Lesarten der Historie mit Humor, Scherz, Ironie oder Satire mehr oder weniger geistreich zu Leibe rücken; die die Ergebnisse der seriös-ernsthaften Forschung zur Zeitgeschichte durch Angebote zur Lach-Kommunikation um eine neue – eingeschönte oder auch eingeschwärzte – Lesart ergänzen, und die auf diese Weise die Wahrnehmungen und Erinnerungen der Zeitzeugen oftmals hemmungslos auf den Kopfstellen.
Dabei liegt es nahe, komisch, scherzhaft oder humorvoll, ironisch oder satirisch inszenierte filmische Gegen-Welten mit einem inhaltlichen Bezug auf die ‚tatsächliche‘ deutsch-deutsche Geschichte als einen Indikator dafür zu nehmen, dass die bis dahin im gesellschaftlichen Diskurs der kollektiven Erinnerungsgemeinschaft dominierenden Deutungsmuster der Vergangenheit ganz offensichtlich von zumindest Teilgruppen dieser Erinnerungsgemeinschaft als defizitär, ergänzungs- und korrekturbedürftig empfunden werden. Die lustvolle und raffinierte Demontage von als zu eng empfundenen Wirklichkeitsbehauptungen, die verrückte Inszenierung des genauen Gegenteils von dem, was die ‚offizielle‘ Lesart der deutsch-deutschen Geschichte akzentuiert, die abstruse Herstellung einer überraschenden Beziehung zwischen widersprüchlichen, entgegengesetzten oder entfernten Vorstellungen, das geistreiche Spiel mit hintersinnigen Doppeldeutigkeiten, abwegige Überpointierung oder dezidierte Untertreibungen, unerwartete oder skurrile Vergleiche, aberwitzige oder paradoxe Hinzufügungen, feinsinnige oder absurde Anspielungen, scheinbar nicht an der Vernunft orientierte Situationskomik – all diese Möglichkeitsszenarien intendieren nicht faktengesättigten Geschichtsunterricht, sondern „Histotainment“(7), und stehen damit nicht für einen analytisch abgekühlten, sondern für einen ganz ‚anderen‘ Umgang mit Geschichte.

Und dieser ‚andere‘ Umgang mit Geschichte kristallisiert sich gegenwärtig vor allem mit Blick auf die deutsch-deutsche Teilungs- bzw. Wiedervereinigungs-Geschichte heraus. Spielfilme, die Themen, Aspekte, Motive der deutsch-deutschen Zeitgeschichte als humorvolles oder satirisches Lachangebot inszenieren – z.B. Letztes aus der Da Da eR (1990, Regie Jörg Floth), Go Trabbi Go – die Sachsen kommen (1990, Regie: Peter Timm); Go Trabbi Go 2 – Das war der wilde Osten (1992, Regie: Wolfgang Büld und Reinhard Klooss), Sonnenallee (1999, Regie: Leander Hausmann), Helden wie wir (2000, Regie: Sebastian Peterson), Der Zimmerspringbrunnen (2002, Regie: Peter Timm), Good Bye Lenin! (2003, Regie: Wolfgang Becker), NVA (2006, Leander Hausmann), Heimweh nach drüben (2006, Regie: Hajo Gies) – zeichnen ein Panorama der DDR bzw. ein Porträt der deutschdeutschen (Wieder-)Vereinigung, das nur in Grenzen mit der ‚ernsthaft-seriösen‘ Lesart der jüngsten Zeitgeschichte kompatibel ist. Wobei freilich mit Blick auf die Rezeption dieser Filme auffällt, das aus der Riege der relativ vielen Spielfilme, die seit 1989 zur deutsch-deutschen Geschichte produziert worden sind, es zunächst die Lachangebote sind, die sowohl mit Blick auf die Zuschauerzahlen wie im Resonanzraum der professionellen Filmkritik – auch wenn diese sich in der Bewertung durchaus nicht immer einig ist – punkten können.(8)

Geht man davon aus, dass Spielfilme nicht nur als ein Echoeffekt für die zum Zeitpunkt der Spielfilmproduktion bereits zirkulierenden kollektiven Geschichtsbilder(9) gedeutet werden können, sondern dass die von Spielfilmen gebotenen Alsob-Welten umgekehrt auch einen Widerhall in den von einem Kollektiv archivierten historischen Wissensbeständen haben, dann wäre – hat man die Genese wie auch die möglichen Rezeptions-und Wirkungseffekte der filmischen Lachangebote zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte vor Augen – zu fragen: Was ist mit der Erinnerung an die ehemalige DDR geschehen, wenn das Leben unter den Bedingungen in der DDR-Diktatur und die Spannungen zwischen Ost-und West-Deutschland, die deutsch-deutsche Teilung und die deutsch-deutsche (Wieder-)Vereinigung zur narrativen Rahmung für fröhliche, befreiende, demaskierende, überlegene oder gar aggressive Lachangebote gemacht werden können? Ist es möglich, dass das Besondere der deutsch-deutschen Teilung und der deutsch-deutschen (Wieder-)Vereinigung – indem es in einen Kontext mit Lachangeboten gebracht wird – nivelliert und vielleicht auch in Frage gestellt wird? Und inwieweit wird durch die mit ernsthafter Geschichtsschreibung nicht kompatiblen, humorvoll-witzigen oder ironisch-satirischen Geschichtsbilder einer zunehmenden Verharmlosung von historischen Grenzerfahrungen das Wort geredet? Ja, leisten Filmwelten, die auf historische Korrektheit und sachliche Richtigkeit verzichten, vielleicht sogar einen ‚gefährlichen‘ Beitrag zu einer Verfälschung der Historie? Oder aber ist es nicht vielleicht vielmehr so, dass Lachen, Humor, Witz, Ironie und Satire auf hintersinnige und raffinierte Weise dazu ermuntern können, den Komplexitäts- und Ausdifferenzierungsgrad von Geschichtsbildern nachhaltig zu steigern? Und könnte es dabei sogar sein, dass Lachangebote dazu beitragen, die ‚naive‘ Vorstellung zu korrigieren, es gäbe nur ‚eine‘ Ordnung der Welt, es gäbe nur ‚eine‘ Möglichkeit der Wirklichkeitswahrnehmung, und vor allem es gäbe nur ‚eine‘ Variante der ‚Geschichtsinterpretation‘.(10)

 

2. Spielfilme als Training für den Möglichkeitssinn

Im Folgenden sollen nun zwei Spielfilme etwas genauer ins Visier genommen werden, von denen ich behaupte, dass sie einen Beitrag dazu leisten könnten, eingefrorene Geschichtsbilder aufzutauen und stillgestellte Erinnerungen mit neuem Leben zu versehen, die kognitiven Wissensbestände und emotionalen Befindlichkeiten mit Blick auf die deutsch-deutsche Geschichte neu auszuloten und den Umgang mit Geschichte neu zu perspektivieren. Auf beide Filme reagierte die professionelle Filmkritik durchaus ambivalent, das Publikum aber strömte – auch wenn es zwischen Begeisterung und zuweilen Empörung schwankte – in die Kinos und erhob die beiden Filme geradezu in die Kategorie ‚Kultfilm. Die Rede ist von: Sonnenallee (Regie: Leander Hausmann, 1999) und Good Bye Lenin! (Regie: Wolfgang Becker, 2003).

Die ‚fiktionale‘ Teenager-Komödie Sonnenallee wird erzählt aus der Ich-Perspektive des sich im Nachhinein an seine Jugend erinnernden Micha Ehrenreich (Alexander Scheer), der aus der – zwischen unfreiwilliger Naivität und erfrischen der Selbstironie changierenden – Wahrnehmungsposition des Siebzehnjährigen das Geschehen auf der Leinwand gelegentlich im Voice-Over aus dem Off kommentiert, so wie z.B. gleich zu Beginn des Films:

Ich wollte immer ein Pop-Star werden, einer, der was bewegt, ... obwohl: Brain Jones starb mit siebenundzwanzig, Elvis mit zweiundvierzig und John Lennon wurde auch nicht sehr alt. Das Land, in dem ich lebe, ist jedenfalls noch sehr jung: Ich lebe in der DDR, ansonsten habe ich keine Probleme. Ich bin gerade dabei, einen verbotenen Song zu überspielen. Warum der verboten ist? Es gibt da nichts Offizielles, aber jeder weiß es; man munkelt von einer Dienststelle, wo die sich den ganzen Tag die heißen Scheiben reinziehen, um sie uns dann zu verbieten, denn sie verbieten sehr gern und viel. Ich heiße Michael Ehrenreich und bin siebzehn. Hinter dieser Wand (= gemeint ist eine mit Pop- und Kino-Plakaten tapezierte Wand seines Zimmers) liegt die Mauer. Sie liegt nur einen Steinwurf entfernt, sie teilt Berlin in Ost und West. Ich wohne in einer Straße, deren längeres Ende im Westen und deren kürzeres Ende im Osten liegt: in der Sonnenallee.

Das Thema der ironisch-schrill-schrägen, im Ost-Berliner Bezirk Treptow spielenden Film-Komödie – die viel mehr zu bieten hat als lediglich den „Osten als Puppenstube“(11) – ist der ‚ganz normale Wahnsinn‘ eines pubertierenden DDR-Jugendlichen mit dem Berufsziel ‚Pop-Star‘; im Zentrum der Filmhandlung stehen Freundschaften und Freizeitverhalten von Jugendcliquen, es geht um die Verkrampfungen zwischen den Geschlechtern, das Interesse an (westlicher) Mode und (westlicher) Rock-Musik, erste jugendliche Drogenexperimente, erste Rendezvous und erste Lieben, und es geht natürlich auch um die Konflikte mit den Erwartungen der Erwachsenenwelt.

Darüber hinaus geht es aber auch um systemspezifische Themen- und Spannungsfelder der ‚tatsächlichen‘ Siebziger-Jahre-Honecker-DDR, um Herrschaftsmechanismen und Widerstandsformen in einer Fürsorge-Diktatur und um die innere Bindungslosigkeit vieler DDR-Bürger zum SED-Sozialismus – allesamt Aspekte, die mit der individuellen Alltagsgeschichte des zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt pendelnden Micha, seinen ganz privaten Ängsten und Sorgen, Hoffnungen und Träumen, vielschichtig verknüpft werden. Und die im Film kombinierten Versatzstücke der ‚harten‘ DDR-Wirklichkeit sind überaus zahlreich. Thematisiert werden: die Mauer, von den Stichwortgebern des ‚real existierenden‘ Sozialismus interpretiert als so genannter antifaschistischer Schutzwall, die erzwungene Klassenfeindschaft mit dem Westen und die verordnete Freundschaft mit der Sowjetunion und deren Bündnispartnern, die geistlose Sterilität von FDJ-Veranstaltungen und das stereotyp-phrasenhafte Reden über den SED-Sozialismus; zudem wird gespielt mit den undurchsichtigen Machtsphären der Stasi, der Frage nach dem Für und dem Wider des Dienstes in der Nationalen Volksarmee, der grenzenlosen Befehlsgewalt von Grenzpolizisten, Abschnittsbevollmächtigten und Volkspolizei. Und damit nicht genug; weitere – subversiv inszenierte – Subthemen des Films sind: das Leben mit den Herausforderungen einer permanenten Mangelwirtschaft und die gleichzeitigen Verlockungen der Leuchtreklamen aus dem Westen, Schmuggelstrategien und Schwarzmarkttaktiken, ironische Wortgefechte mit westlichen Mauertouristen und grenzüberschreitende Westkontakte, die Ausstrahlungen des West-Fernsehens in die Ost-Berliner Wohnstuben und das Interesse der West-Medien an möglichen Anstößigkeiten und Skandalen im Osten.

Der zentrale Plot des neunzig Minuten dauernden Filmhandlung ist schnell skizziert: Micha, der mit den Unfreiheiten und den Zwängen des real-existierenden Sozialismus souverän und leichthin zu spielen versteht, verliebt sich in Miriam (Teresa Weißbach), eine neu in die Sonnenallee gezogene, ‚unbeschreiblich‘ schöne, aber genauso ‚unerreichbare‘ Blondine aus dem Häuserblock von gegenüber. Daraufhin unternimmt er alles, um die aktuell mit einem Westler liierte Schönheit – die aus ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den Systemzwängen und den Symbolen des DDR-Alltags keinen großen Hehl macht – auf sich aufmerksam zu machen und für sich zu gewinnen. Höhepunkt seines Balztanzes um Miriams Aufmerksamkeit ist die Idee, der Angebeteten nichts Geringeres als das eigene Leben ‚zu Füßen‘ zu legen, wenn auch nur in Form eines Tagebuches. Ein ‚kleines‘ Problem dabei freilich ist, dass es das der Angebeteten angekündigte Tagebuch zum Zeitpunkt des Versprechens noch gar nicht gibt. Doch wozu hat der zukünftige Pop-Star Phantasie und Vorstellungskraft: Micha erfindet kurzerhand die auf den – vermuteten – Erwartungshorizont der Angebeteten ausgerichteten Tagebucheintragungen. Ergebnis ist eine Biographie, in der sich Micha als „ein politischer Dissident der ersten Stunde“(12) inszeniert, bereits in der ersten Schulklasse sei er auf Distanz zum politischen System der DDR gegangen:

Liebes Tagebuch, endlich kann ich aufschreiben, was ich wirklich denke, denn seit heute kann ich alle Buchstaben, heute haben wir den letzten Buchstaben gelernt, das: ß! Jetzt kann ich ein wichtiges Wort schreiben, das sich ganz oft denke: Scheiße! […] Ich bin jetzt vierzehn und habe meinen Personalausweis bekommen, von jetzt an bin ich nur eine Zahl, m...m, Nummer, bin nur eine Nummer in einem, m...m, Personenkennzahl, Personenkennzahl in einem System, m...m, in einem unmenschlichen System, das ist gut, ... eh...., ich bin jetzt vierzehn […]. Jetzt möchte ich über das Land schreiben, in dem ich lebe […]. Dieses Land drückt wie zu enge Schuhe, man kann sich nicht bewegen, nur trauern,... jetzt vielleicht ein Fluchtversuch […]. Ich beschloss mich in den Westen zu graben […] Dunkelheit […] Ich sehe Licht am Ende des Tunnels […] Angstschweiß, kalter Angstschweiß steht mir auf der Stirn, als ich in die bedrohlich klaffenden Mündungen sowjetischer Maschinenpistolen blicke […] Ich warte und warte auf etwas, das nicht passiert, ich habe mich entschlossen, selbst eine Widerstandsgruppe aufzubauen mit Freunden, die wissen, worum es geht, für die es, genau wie für mich, kein Spiel ist.

Und Michas Bemühungen bleiben tatsächlich nicht ohne den ersehnten Erfolg, wobei das Resultat der zunächst allein für Miriam ‚erfundenen‘ Tagebucheintragungen sogar ein doppeltes ist: Micha kann die Angebetete(13) ‚tatsächlich‘ für sich gewinnen, und darüber hinaus führt die Schreibaktion zu einem Umbau in Michas mentalen Haushalt. Der zunächst lediglich in der Phantasie erprobte Widerstand gegen die Unfreiheiten seiner Alltagswelt wird auch im ‚wirklichen‘ Leben relevant, Micha fasst den Entschluss, den Waffendienst bei der Nationalen Volksarmee zu verweigern – womit ursprünglich private Hoffnungen und Träume unversehens eine höchst politische Dimension bekommen haben.

Dass die hier thematisierten Wechselwirkungen zwischen ganz persönlichen Sehnsüchten und überaus politischen Konsequenzen freilich alles andere als eine simple Einbahnstraße sind, zeigt sich in einer parallel erzählten Lovestory: Michas Freund Mario (Alexander Beyer) nämlich zieht aus der Liebe zu der Studentin Sabine (Annika Kuhl) ganz anderen Konsequenzen. Als Sabine, deren existenzialistische – von den DDR-Verantwortlichen alles andere als gerne gesehene – Sartre-Lektüren für ihren Lover ein Buch mit sieben Siegeln bleibt, ein Kind von ihm erwartet, entschließt sich Mario nicht nur zur Ehe mit der Mutter seines zukünftigen Kindes, sondern darüber hinaus auch zur Mitarbeit bei der Stasi. Das Entsetzen Michas über diesen Lebensweg des Freundes kommentiert der werdende Vater mit eingeschönter Ironie: „Du hast doch selbst gesagt, rinn in die Organisation und von innen aufmischen.“

Das hier von Mario thematisierte ‚Aufmischen‘ findet dann am Ende des Films tatsächlich statt, wenn auch ganz anders, als das in den Worten Marios angedacht war: Wuschel (Robert Stadlober), ein fanatischer Rolling-Stones-Fan aus der Clique von Micha und Mario, der für die englische ‚Originalpressung‘ einer Stones-LP alles zu riskieren bereit ist, hat sich auf dem Schwarzmarkt eine Exile on Main Street besorgt. Nachdem der erste Versuch, das teuer erstandene Objekt des Begehrens in die eigenen vier Wände zu schmuggeln, von einem übereifrigen Grenzsoldaten vereitelt wird – das Doppelalbum wird bei einem Fehlalarm durch Maschinengewehrbeschuss durchlöchert, und der Rolling-Stones-Fan bezahlt seine Liebe zur Musik um ein Haar mit dem Leben – scheint ein zweiter Versuch, in den Besitz der heiß ersehnten Stones-LP zu kommen, von größerem Erfolg gekrönt zu sein; Wuschels Traum – „Männer brauchen Musik“ – ist, so hat es zunächst zumindest den Anschein, tatsächlich Wirklichkeit geworden.

Als Wuschel jedoch gemeinsam mit Micha, der gerade euphorisiert von seinem ersten Beischlaf mit Miriam zurückkommt, die teuer erworbene Stones-LP erstmalig anhören will, erweist sich die „unberührte Musik der Stones“ allerdings als eine offensichtliche Fälschung undefinierbarer Herkunft. Der betrogene Stones-Fan reagiert erwartungsgemäß verzweifelt. Micha jedoch, der sich in der Rolle eines phantasievollen Tagbucheschreibers bereits als ein wahrer Meister in der Inszenierung einer irrealen – autonomen – Gegen-Welt erproben konnte, setzt erneut auf die Macht der Phantasie: „Na klar, hör doch mal genau hin, […], dat is een großer Song, du dat is der größte Stones-Song, den ich je jehört hab, ehrlich […] dit sind die Stone, unveröffentlichtes Material, wir sind die ersten, die dit hören, ein großer Song, man, is dit verboten!“ Und Wuschel lässt sich von Michas Vorstellungskraft tatsächlich anstecken, wirft seine anfänglichen Zweifel an der Echtheit der von ihm erworbenen LP kurzerhand über Bord, und beide bekleiten die im Osten total ‚verbotene‘ West-Musik(14) auf imaginierten Luftgitarren.

Doch damit nicht genug, die beiden begeistert Luftgitarre spielenden Musiker bewegen sich tanzend zur offenen Balkontür, steigen in Rockstarmanier auf die Balkonbrüstung und beschallen die Sonnenallee in Richtung Grenzübergang. Von der unerwarteten Musik angezogen füllt sich die Straße nach und nach mit den verschiedenen Figuren der Filmhandlung, die allesamt gefesselt nach oben schauen, dem Open-Air-Auftritt gebannt lauschen und – aus dem Off des Films wird mittlerweile Jefferson Airplane Give me a ticket for an aeroplane gespielt – schließlich begeistert im synchronen Gleichschritt zu tanzen beginnen. Ein dies observierender Grenzposten, der seinen Kollegen verunsichert fragt, ob man so etwas denn überhaupt erlauben dürfe, bekommt von seinem Kollegen postwendend die Antwort: „Ja weste, da sind wa machtlos.“

Als schließlich ein weiterer Grenzposten voller Begeisterung für die West-Musik mit seinem Maschinengewehr in die Luft zu ballern beginnt, dreht sich die tanzende Menge um genau 180 Grad und bewegt sich immer noch tanzend nunmehr auf den Schlagbaum in Richtung West-Berlin zu. Dort angekommen – Face-to-Face mit den Grenzposten – bricht die Szene nach einem Luftsprung von Micha und Wuschel vom Balkon in die Sonnenallee abrupt ab, die Akteure der irreal anmutenden Tanzparty sind verschwunden, und Micha und Wuschel bewegen sich – diesmal jedoch ohne Musik – in Tanz-Schritten allein in Richtung Westen, während gleichzeitig aus dem Off des Films ein letztes Mal die Kommentar-Stimme Michas zu hören ist: „Es war einmal ein Land, und ich habe dort gelebt, und wenn man mich fragt, wie es war, es war die schönste Zeit meinem Leben, denn ich war jung und verliebt.“ Dann wird dem Film die Farbe genommen, die gesamte Kulisse wird in eine die Künstlichkeit der Filmhandlung akzentuierende Grau-Färbung getönt; gleichzeitig bewegt sich die Kamera rückwärts in Richtung Westen, aus dem Off nunmehr begleitet von der Stimme Nina Hagens, die aus voller Kehle dröhnt: „Du hast den Farbfilm vergessen, Micha, mein Micha, nun glaubt uns kein Mensch, wie schön es hier war.“

Ein brillantes Ende für einen Film, der ganz offensichtlich nicht faktengesättigten Geschichtsunterricht intendiert, sondern der zum Amüsement der Zuschauer eine als Parodie inszenierte Geschichte aus der deutsch-deutschen Vergangenheit inszeniert, und dabei – indem er die Vergangenheit dekonstruiert und auf hintersinnige Weise neu montiert – vor allem den subjektiven Konstruktionscharakter aller geschichtlichen Erinnerung fokussiert; ein Film, der die Diskrepanz, die Inkongruenz und die Widersprüche zwischen den im gesellschaftlichen Diskurs nach 1989 dominanten ‚offiziellen‘ Geschichtsbildern vom real existierenden SED-Sozialismus und den von vielen DDR-Bürgern ‚tatsächlich‘ erlebten Alltagsgeschichten durch das Komponieren von abwegigen Überpointierungen und bizarren Untertreibungen zu akzentuieren versucht; ein Film, der durch ein humorvoll-witzig arrangiertes Spiel mit den unterschiedlichsten Versatzstücken der real-politischen DDR-Wirklichkeit das komplexe Spannungsverhältnis zwischen ‚öffentlich-objektiver‘ Erinnerung einerseits und ‚privat-subjektiver‘ Gegen-Erinnerung andererseits auf raffinierte Weise zur Diskussion stellt; und ein Film, der – indem er zwischen kritisch-satirischer und (n)ostalgischer-ironischer Lesart der deutsch-deutschen Geschichte polyvalent changiert – deutlich macht, dass die ‚Wahrheit‘ keine ‚eindeutige‘, sondern stattdessen eine im höchsten Masse ‚zweifelhafte‘ Angelegenheit ist.(15)

Gleichzeitig ist Sonnenallee ein Film, dem es – so ganz nebenbei – auch noch gelingt, durch die verrückte und unerwartete Verzerrung und Verfremdung von Aspekten der ‚tatsächlichen‘ DDR-Wirklichkeit – ein vermuteter Stasimitarbeiter beispielsweise erweist sich als Bestattungsunternehmer, ein West-Musik konfiszierender Abschnittsbevollmächtigter ist in seinem Privatleben selbst ein ausgesprochener Rock-Musik-Fan, die aus Korea angereiste Festrednerin auf einer FDJ-Veranstaltung hält ihren für alle Anwesenden unverständlichen Festvortrag in ihrer Muttersprache, eine von einem Grenzer in Gang gesetzte (West-)Stereo-Anlage bewirkt einen Stromausfall in dem durch die Kapazitäten der Westanlage überforderten Grenzgebiet – die für das Leben in der ehemaligen DDR charakteristischen Diskrepanzen zwischen Schein und Sein, zwischen hochgestimmtem Ideal und ernüchternder Wirklichkeit und die damit verbundene Verlustbilanz aus Künstlichkeiten, Irreführungen, Unfreiheiten und Bedrohungen nicht nur nicht zu verschweigen, sondern sie stattdessen zum Thema eines karnevalistischen Lach-Angriffs zu machen. Und Sonnenallee ist last not least darüber hinaus auch noch ein Film, der dazu anregen könnte, die Möglichkeiten eines ganz ‚anderen‘ Geschichtsverlaufs zu bedenken.

Von den Möglichkeiten eines ganz ‚anderen‘ Geschichtsverlaufs erzählt auch der vier Jahre später in die deutschen Kinos gekommene Spielfilm Good Bye Lenin! – ein zwischen Lachen und Weinen hin- und herpendelnder Film, der sich mit dem Mauerfall 1989 und den Schritten zur deutsch-deutschen Vereinigung beschäftigt, und der dabei die ‚tatsächliche‘ Geschichte der deutsch-deutschen Einigung mit der ‚fiktionalen‘ Geschichte der ostdeutschen Familie Kerner verknüpft. Erzählt wird die Kino-Geschichte aus der Wahrnehmungsposition des Sohnes Alexander Kerner (Daniel Brühl), der als „Regisseur einer erfundenen Wirklichkeit“(16) das Bildgeschehen auf der Leinwand für die Zuschauer aus der Retrospektive im Voice-Over aus dem Off kommentiert und erklärt, zuweilen dabei aber auch höchst ironische und damit distanzierte Bemerkungen zum Gang der Dinge macht:

„Die Zeit roch nach Veränderung, während vor unserem Haus ein überdimensionierter Schützenverein seine letzte Vorstellung gab. [im Bild zu sehen sind Originalaufnahmen der ‚Aktuellen Kamera‘ von einer NVA-Parade anlässlich der Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der DDR]. Am Abend des 7. Oktober des Jahres 1989 hatten sich mehrere hundert Menschen zu einem Abendspaziergang getroffen, um sich um Vorwärtsschreiten für grenzenloses Spazierengehen einzusetzen [im Bild zu sehen sind Montagsdemonstrationen]. […] Mutter verschlief ein klassisches Konzert vor dem Rathaus Schöneberg [im Bild zu sehen ist eine Originalaufnahme der ‚Tagesschau‘ mit Willy Brandt, Helmut und Hannelore Kohl sowie Walter Momper, die anlässlich der Grenzöffnungen die Nationalhymne singen] und den Beginn einer gigantischen und einzigartigen Altstoffsammlung [im Bild zu sehen sind Originalaufnahmen der ‚Tagesschau‘ vom Abriss der Mauer]. Mutter schlief weiter tief und fest; sie verpasste meinen ersten Ausflug in den Westen und wie einige Genossen unbeirrt und pflichtbewusst uns Arbeiter und Bauern schützten [im Bild zu sehen sind Grenzsoldaten, die weiterhin gewissenhaft die Pässe der nach Westberlin Reisenden kontrollieren], natürlich entgingen ihr auch meine ersten kulturellen Entdeckungen in einem neuen Land [im Bild zu sehen ist zunächst eine originale Reklametafel, auf der Harald Juhnke für den Genuss von Geflügel wirbt, dann eine originale Videoaufnahme von einer großbrüstigen Frau, die sich lustvoll ihre zuvor mit Sahneschaum bestrichenen Brüste ableckt]. Mutters tiefe Ohnmacht erlaubte ihr nicht, an den ersten freien Wahlen teilzunehmen [im Bild zu sehen sind Originalaufnahmen der ‚Tagesschau‘ von Helmut Kohl, der auf einer Wahlreise die Ost-CDU unterstützt]. Sie verschlummerte, wie Ariane ihr Studium der Wirtschaftstheorie schmiss, und ihre ersten praktischen Erfahrungen mit der Geldzirkulation machte [im Bild zu sehen ist Ariane, die im Dress von Burger King einen Burger verkauft]; der Schlaf ersparte ihr den Einzug von Arianes neuem Lover, Rainer, Klassenfeind und Grilletten-Chef. Ihr entging die zunehmende Verwestlichung unserer 79 qm Plattenbauwohnung [im Bild zu sehen ist Ariane, die die alten DDR-Möbel zum Sperrmüll erklärt und durch Westmöbel ersetzt] und Rainers Begeisterung für die Sitten und Gebräuche des Morgenlandes [im Bild zu sehen sind Rainer und Ariane, die zu indischer Musik bauchtanzen]. […] Mutter verschlief den Siegeszug des Kapitalismus [im Bild zu sehen ist eine Parade der NVA vor dem Brandenburger Tor, an der mehrere Coca Cola Wagen vorbeifahren] […] Ihr Schlaf ignorierte, wie Helden der Arbeit arbeitslos wurden, die PGH-Fernsehreparatur Adolf Hännecke wurde abgewickelt, ich war der letzte und ich machte das Licht aus. Dann kam der Aufschwung, im schlagkräftigen Ost-West-Team praktizierte ich frühzeitig die Wiedervereinigung, Satellitenschüsseln ließen unsere Landschaften erblühen [Alex wird Vertreter für Satellitenschüsseln].“

Doch nun zum Inhalt des genau zwei Stunden dauernden – in Berlin-Mitte spielenden – Films: Am 7. Oktober 1989, dem vierzigsten Jahrestag der DDR, wird die Lehrerin und alleinerziehende zweifache Mutter Christiane Kerner (Katrin Saß) auf dem Weg zu einer offiziellen Staatsfeier zufällig Zeugin einer Schweige-Demonstration protestierender Bürgerrechtler für mehr Freiheitsrechte in der DDR – einer Demonstration, an der auch ihr Sohn Alexander, genannt Alex, teilnimmt. Die Polizeigewalt gegen die friedlichen Demonstranten, vor allem die Festnahme ihres Sohnes, der von zwei Polizisten abgeführt und zu anderen Festgenommenen auf einen LKW gestoßen wird, erschüttern sie so sehr, dass sie zusammenbricht, einen Herzinfarkt erleidet und in ein Koma fällt, aus dem sie erst Monate später wieder erwachen wird: Mittlerweile ist die Mauer gefallen, Erich Honecker hat abgedankt und der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 steht unmittelbar vor seiner Ratifizierung. Mit anderen Worten: Christiane Kerner hat – wie in der zuvor zitierten Passage bereits angesprochen – zentrale Etappen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses buchstäblich verschlafen.

Um einem erneuten Infarkt vorzubeugen, darf sich die linientreue DDR-Bürgerin(17) auf keinen Fall aufregen, weshalb Alex kurzerhand beschließt, dass seine Mutter weder etwas von den inzwischen stattgefundenen politischen, noch etwas von den damit verbundenen privaten Veränderungen im Hause der Kerners erfahren darf: Alex, dessen Betrieb abgewickelt wurde, arbeitet nämlich mittlerweile als Vertreter für Satellitenschüsseln, seine Schwester Ariane (Maria Simon) – die die DDR-Vergangenheit möglichst schnell vergessen will – hat ihr Studium der Wirtschaftstheorie aufgegeben, um bei einem Fast-Food-Restaurant(18) an der Kasse zu arbeiten, und die gemeinsam bewohnte Vier-Zimmer-Plattenbau-Wohnung ist im Konsumrausch Arianes neu möbliert und total ‚verwestlicht‘ worden. Als die noch immer bettlägerige Mutter einige Wochen später wünscht, aus dem Krankhaus entlassen zu werden, setzt Alex – in einer Art Liebeserklärung an die Mutter – alle ihm zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung, um für sie, die vor der Wende gewohnte ‚Normalität‘ – das Alltagsleben der ‚alten‘ Vor-Wende-DDR also – zu re-inszenieren. Eine Unternehmung, die freilich alles andere als einfach ist: Nachdem die Mutter aus dem Krankenhaus entlassen ist, reicht es – will man den tiefgreifenden Umbau der letzten Monate vor ihr verheimlichen – nämlich nicht mehr aus, lediglich alte, längst abgelegte DDR-Kleidungsstücke aus der Altkleidersammlung neu zu beleben.

Jetzt muss auch das gesamte Schlafzimmer der Mutter – in dem sich mittlerweile Adriane mit dem ihrem neuen Freund, dem Grilletten-Chef von ‚Burger King‘ eingerichtet hat – in seinen alten Vor-Wende-Zustand umdekoriert, die bereits entsorgten DDR-Möbel und DDR-Gardinen müssen aus dem Keller, von Dachboden und vom Sperrmüll zurückgeholt, vor allem aber muss mit viel Organisationstalent die nach dem 11. November 1989 rasant verschwundene DDR-Warenwelt wieder reanimiert werden. Das Problem dabei allerdings ist: Spreewaldgurken, Mocca Fix Gold, Filinchen Knäcke, Tempo-Bohnen und Rotkäppchen-Sekt sind – obwohl es längst keine „Versorgungsengpässe“(19) mehr gibt – schwieriger zu besorgen denn je, die alten Konsum-Läden der DDR sind ausgeräumt, DDR-Produkte sucht Alex in der ‚neuen‘, verwestlichten Warenwelt vergeben. Da Alex die Illusion vom Weiterleben der DDR jedoch unter allen Bedingungen auch weiterhin aufrecht erhalten will, bleibt ihm nichts anderes übrig, als in Mülltonnen gefundene alte DDR-Gläser und alte DDR-Verpackungen zu recyceln, um sie dann mit westlichem Markenhonig, Jakobs-Kaffee und ‚Moskauer Gurken‘ aus Holland neu zu füllen.

Doch die seit November 1989 in rasantem Tempo stattfindenden Wandlungen lassen sich durch das Reanimieren der materiellen Versatzstücke einer im Untergehen begriffenen Welt nur in Grenzen vor der Wohnungstür der Kerners stoppen, der Außendruck der historischen Veränderungen ist zu groß. Die Rekonstruktion einer aufgehübschten Miniatur-DDR und das Abschirmen der Mutter von den Zumutungen der Außenwelt erfordert unablässigen Einsatz und enorme Kreativität, wobei eine streng nach real-sozialistischem Ritual organisierte Geburtstagsfeier geradezu zu einer Bewährungsprobe für das Bemühen um die Auferstehung einer – wie Alex es nennt – „allseitig entfaltete(n) DDR“ wird. Alex organisiert zwei Jungs, die gegen harte Westwährung – die Jungs haben das ABC des Kapitalismus schnell erlernt – in Pionieruniform ein Geburtstagsständchen über die Schönheiten der sozialistischen ‚Heimat‘ trällern, er bemüht sich um die Ausnüchterung des nach der Wende dem Alkoholismus verfallenen ehemaligen Parteisekretärs und Schuldirektors Dr. Klapprath (Michael Gwisdek), damit dieser „im Namen der Parteileitung“ eine kleine Ansprache halten und einen Präsentkorb mit Rotkäppchensekt und anderen DDR-Produkten überreichen kann, er instruiert die Hausgemeinschaft, die der Geburtstagsfeiernden – und in erster Linie wohl auch sich selbst – wünscht, „dass alles so wird, wie es mal war“, er erfindet für seine neue Freundin Lara (Chulpan Khamatova) einen Vater, der zum Wohlgefallen der stets sozial engagierten Mutter in der Sowjetunion als Lehrer für Taubstumme wirkt, und er coacht Rainer (Alexander Beyer), den in DDR-Geschichte wenig bewanderten West-Freund seiner Schwester, damit dieser zumindest einigermaßen in der Lage ist, Auskunft über die ihm angedichtete Ost-Biographie zu geben.(20)

Doch nicht nur das Stottern Rainers, auch ein während der Geburtstagsfeier an der gegenüberliegenden Häuserfront entrolltes Riesenplakat mit Coca-Cola-Werbung weckt den Argwohn der Mutter: Die Veränderungen draußen vor der Wohnungstüre lassen sich durch das schlichte Zuziehen der Gardinen wohl nicht wirklich verschleiern. Die größte Bedrohung für die von Alex gezimmerte Miniatur-DDR resultiert jedoch aus dem Wunsch der Mutter, ein Fernsehgerät – das zentrale „Wahrheitsorgan“ der DDR – ans Kranken-Bett gestellt zu bekommen: Ein Anliegen, das nun in der Tat zu einer gewaltigen Herausforderung für die Erfindungsgabe und das Improvisationstalent ihres Sohnes wird. Doch wo ein Wille ist, findet sich auch ein Weg, und so gelingt es dem Sohnemann schließlich, seinen Arbeitskollegen und Freund Dennis (Florian Lukas) – einen Video-Tüftler, der von einer großen Karriere als Film-Regisseur träumt und sich bereits in den Fußstapfen von Stanley Kubrick wähnt – dafür zu gewinnen, die für die Mutter simulierte Scheinwelt durch fingierte Nachrichtensendungen – zusammenmontiert aus archivierten Originalsendungen der ‚Aktuellen Kamera‘, aus aktuellen Originalsendungen der ‚Tagesschau‘ und aus selbst fabrizierten Videoclips – zu stabilisieren.

Die „Wirklichkeitsmaschine“(21) Fernsehen soll für die Mutter „verträgliche Erklärungen“(22) für die zahlreichen Veränderungen der Außenwelt konstruieren, wobei das Jonglieren zwischen Sein und Schein, Wahrheit und Lüge darüber hinaus deutlich werden lässt, dass – so Alex – „die Wahrheit nur eine zweifelhafte Angelegenheit“ ist. Ergebnis der gemeinsamen Arbeit am Schneidetisch sind frei erfundene Nachrichten, durch die mittels geschickter Montagetricks nicht nur das familiäre Lügengebäude aufrechterhalten werden kann, sondern in denen auch der antizipierten Vorstellungswelt der Mutter entsprechend ein Porträt der DDR gezeichnet wird, das den Arbeiter- und Bauernstaat als eine moderne, großzügige, weltoffene und zutiefst humane Gesellschaft zeigt, eine Gesellschaft, in der der „Traum vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz“(23) Wirklichkeit geworden ist. So mutiert Erich Honecker in einem frei erfundenen Bericht der ‚Aktuellen Kamera‘ zu einem souveränen, weltoffenen Staatsmann, der in einer „großen humanitären Geste der Einreise der seit Monaten in den DDR-Botschaften von Prag und Budapest Zuflucht suchenden BRD-Bürger“ zustimmt, und so wird das die Geburtstagsfeier irritierende Coca-Cola-Plakat kurzerhand zum Anlass genommen, der DDR-Wirtschaft, die das Getränk lange vor dem Coca-Cola-Konzern erfunden habe, einen Sieg über den Kapitalismus zu bescheren.

Satirischer Höhepunkt der via ‚Aktuelle Kamera‘ ins Bild gesetzten Wirklichkeitsbehauptungen ist der von Alex und Dennis auf den Vorabend der ‚tatsächlichen‘ Wiedervereinigung von West- und Ost-Deutschland vorverlegte ‚einundvierzigste Jahrestag‘ der DDR, bei dem Sigmund Jähn von Alex und Dennis zum Nachfolger Erich Honeckers im Amt des Staatsratsvorsitzenden erkoren wird.(24) Jähn – der als erster Kosmonaut der DDR eine Metapher für das Überwinden der im Grunde kleinbürgerlichen DDR-Enge ist – verkündet seine ganz eigenen, visionären Ideen vom DDR-Sozialismus und einem damit verbundenen ganz anderen Verlauf der historischen Veränderungen und der deutsch-deutschen Geschichte:

Sigmund Jähn: Liebe Bürgerinnen, liebe Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, wenn man einmal das Wunder erlebt hat, unseren blauen Planeten aus der Ferne des Kosmos zu betrachten, sieht man die Dinge anders, dort oben, in den Weiten des Weltalls kommt einem das Leben der Menschen klein und unbedeutend vor, man fragt sich, was die Menschheit erreicht hat, welche Ziele hat sie sich gestellt, und welche hat sie verwirklicht. Unser Land hat heute Geburtstag, aus dem Kosmos gesehen ist es ein sehr kleines Land, und doch sind in dem letzten Jahr tausende Menschen zu uns gekommen, Menschen, die wir früher als Feinde gesehen haben, und die heute hier mit uns leben wollen, wir wissen, dass unser Land nicht perfekt ist, aber das, woran wir glauben, begeisterte immer wieder viele Menschen aus aller Welt, vielleicht haben wir unser Ziel manchmal aus den Augen verloren, doch wir haben uns besonnen, Sozialismus, das heißt, nicht sich einzumauern, sondern Sozialismus, das heißt, auf den Anderen zuzugehen, mit dem Anderen zu leben, nicht nur von einer besseren Welt zu träumen, sondern sie wahr zu machen, ich habe mich daher dazu entschlossen, die Grenzen der DDR zu öffnen.

Nachrichtensprecher gespielt Dennis, der – maskiert mit Oberlippenbart, Anzugsjacke und Krawatte – im Originaljargon der ‚Aktuellen Kamera‘ erklärt: Schon in den ersten Stunden der Maueröffnung haben tausende Bürger der BRD die Möglichkeit genutzt, der Deutschen Demokratischen Republik einen ersten Besuch abzustatten. [Im Bild zu sehen sind Originalaufnahmen der ‚Tagesschau‘ von DDR-Bürgern, die am 11. November 1989 über die Mauer von Ost- noch West-Berlin klettern]. Viele wollen bleiben, sie sind auf der Suche nach einer Alternative zu dem harten Überlebenskampf im kapitalistischen System. Christiane Kerner: Ist das nicht wundervoll! Nachrichtensprecher: Nicht jeder möchte bei Karrieresucht und Konsumterror mitmachen, nicht jeder ist für die Ellenbogenmentalität geschaffen. [Im Bild zu sehen sind Originalaufnahmen der ‚Tagesschau‘ von Ost-Berlinern, die durch das Brandenburger Tor nach West-Berlin pilgern.] Diese Menschen wollen ein anderes Leben, sie merken, dass Autos, Fernsehen und Videorekorder nicht alles sind, sie sind bereit, mit nichts anderem als gutem Willen, Tatkraft und Hoffnung ein anderes Leben zu verwirklichen. Christiane Kerner: Wahnsinn! [Es folgen Originalaufnahmen der ‚Tagesschau‘ von den Feierlichkeiten des 3. November 1990, auf denen u.a. Willy Brandt, Helmut und Hannelore Kohl, Hans-Dietrich Genscher und Oskar Lafontaine zu sehen sind, musikalisch feierlich unterlegt von den Klängen der DDR-Nationalhymne: Wodurch das Ganze gewissermaßen als eine ‚Auferstehung aus den Ruinen‘ zelebriert wird.]

Die für die Mutter in Szene gesetzte eigenwillige Vision von den Möglichkeiten eines ganz ‚anderen‘ Geschichtsverlaufs und einer ganz ‚anderen‘ deutsch-deutschen Vereinigung, bei der das Ende des ‚alten‘ „sozialistischen Vaterlandes“ – das im Spielfilm ja eigentlich ein ‚sozialistisches Mutterland‘ ist – als ein „würdige[r] Abschied“ und nicht als „Ausverkauf“(25) gestaltet ist, wird im Finale des Films von Alex ein letztes Mal aus dem Off kommentiert:

Meine Mutter überlebte die DDR genau um drei Tage. Ich glaube es war schon richtig, dass sie die Wahrheit nie erfahren hat, sie ist glücklich gestorben […]. Das Land, das meine Mutter verließ, war ein Land, an das sie geglaubt hatte, und das wir bis zu ihrer letzten Sekunde überleben ließen, ein Land, das es in Wirklichkeit nie so gegeben hat, ein Land, das in meiner Erinnerung immer mit meiner Mutter verbunden sein wird.

Ein Kommentar, bei dem die Zuschauer des Films allerdings vermutlich schmunzeln müssen, zeigt doch der Film als Ganzes immer wieder und auf verschiedenen Erzähl-Ebenen, dass „die Wahrheit nur eine zweifelhafte Angelegenheit“ ist. Denn nicht allein Alex und die von ihm inszenierte „Geschichtsfälschung“(26), auch die Lebensgeschichte und das sozialistische Engagement der Mutter stehen für die Relativität der Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Sein und Schein, Wirklichkeit und Vorstellung, nicht nur Alex bewährt sich als Experte der Manipulation, auch die Mutter ist eine Meisterin der Verschränkung von Wahrem und Falschem. So hat die Alleinerziehende ein familiäres Lügengebäude konstruiert, um ihren Kindern eine glückliche Kindheit zu erhalten, eine Kindheit, von der zu Beginn des Filmes in einer Art Exposition in beschaulichen Super-8-Aufnahmen für circa zehn Minuten erzählt wird. In einer Lebensbeichte kurz vor ihrem Tod eröffnet die Mutter ihren Kindern, dass die Flucht des Vaters nach West-Berlin, von der sie immer behauptet hatte, dass diese ohne ihr Wissen geschehen sei, in Wirklichkeit gemeinsam abgesprochen gewesen war, und nur weil sie selbst im letzten Moment Angst bekommen habe, sei sie ihrem Mann nicht – wie eigentlich verabredet – mit ihren Kindern in den West gefolgt. Und ihr Engagement für die Optimierung des DDR-Sozialismus(27) sei weniger politisch als vielmehr therapeutisch motiviert gewesen, sie habe vor allem ihren Trennungsschmerz damit bekämpft.

Doch damit nicht genug: Durch die Lebensbeichte der Mutter ist ihr Spiel mit Sein und Schein, Wirklichkeit und Vorstellung, Gewissheit und Lüge noch keineswegs beendet: Wenn Alex am Ende des Films – während die Hinterbliebenen die Asche der Mutter mit einer selbstgebauten Rakete in den Himmel schießen – in Selbstzufriedenheit annimmt, es sei ihm erfolgreich gelungen, die ‚Wahrheit‘ über den tatsächlichen Verlauf der deutsch-deutschen Geschichte vor der Mutter zu verheimlichen, so ‚ahnen‘ die Zuschauer mehr und anderes als die Stimme aus dem Off. Der zärtliche Blick, mit dem die Mutter während der Fernseh-Feierlichkeiten zum ‚einundvierzigsten‘ Jahrestag der DDR ihren Sohn betrachtet, legt zumindest die Vermutung nahe, dass die Mutter die eigensinnigen Umcodierungsmaßnahmen ihres Sohnes durchschaut und als eine Form einer ‚Liebeserklärung‘ verstanden hat.

Und Indizien dafür, dass die Mutter am Ende des Filmgeschehens durchaus im Bilde über den ‚tatsächlichen‘ Verlauf der deutsch-deutschen Geschichte ist, gibt es reichlich. So weist auch und vor allem die im Kontrast zu dem restlichen Film aus der Wahrnehmungsperspektive der Mutter gefilmte, am Computer konzipierte Schlüsselszene des Films – nämlich der in der Mitte des Films inszenierte Abtransport eines riesigen Lenin-Torsos per Hubschrauber, dem Christiane Kerner, die zuvor heimlich und eigenmächtig ihr häusliches Krankenzimmer verlassen hat, im Nachthemd beiwohnt – darauf hin, dass die von den Zumutungen der Außenwelt Abgeschirmte, zu der Lenin im Vorbeiflug wie zum Abschiedsgruß den Arm zu strecken scheint, mehr ahnt als vom Sohnemann angenommen.

Auch wenn für die in der gleichen Sequenz stattfindende Begegnung mit jungen Leuten aus Wuppertal genauso wie für die zahlreichen Autos mit westlichen Nummernschildern durch die von Alex und Dennis im Nachhinein produzierten Nachrichten noch die Scheinwelt stabilisierende Erklärungen angeboten werden, so sind die politisch und moralisch ‚unkorrekten‘ Graffitis im Fahrstuhl, die zahlreichen Sperrmüllhaufen mit ausgemustertem DDR-Möbeln, ein Ikea-Plakat, das an einer Litfasssäule für ‚Billy‘ wirbt und ein weiteres Plakat mit westlicher Dessous-Werbung mit der Moral- und Konsumgeschichte der DDR auf keinen Fall kompatibel: Christiane Kerners Wahrnehmung müsste schon sehr betäubt sein, wenn ihr all dies während ihres widerspenstigen Ausflugs in die nicht unter der Regie ihres Sohnes stehende Außenwelt tatsächlich vollkommen entginge: „Natürlich durchschaut die Mama irgendwann die Tricks ihres Sohnes. Doch sie spielt das Spiel mit und macht nun ihrerseits dem Jungen etwas vor, um ihn nicht zu enttäuschen.“(28)

Wenn Alex feststellt: „Die Wahrheit ist nur eine zweifelhafte Angelegenheit“ – dann gilt diese Erkenntnis zweifelsohne nicht nur für die ‚politische‘ Situation nach dem 11. November 1989, sondern auch für die ‚familiäre‘ Interaktion im Kontext der Familie Kerner. Das für den Film charakteristische Kräftefeld zwischen Sein und Schein, Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Vorstellung wird konsequent auf mehreren Ebenen durchbuchstabiert und bis zum Schluss unbeirrt aufrechterhalten. Eine gelungene Strategie für einen Film, der weit mehr zu bieten hat als lediglich – wie ihm zu Unrecht zum Teil in der Filmkritik vorgeworfen wurde – das realhistorisch gescheiterte Experiment vom ostdeutschen Staatssozialismus zu einem „Schmunzelthema“(29) zu degradieren. In Good Bye Lenin! geht es nämlich nicht um platte „Ostalgie“, „lächerliche DDR-Klischees“ und einen „fetischistischen Umgang mit Marken“(30), sondern um eine phantasievolle, ja ‚verrückte‘ Antithese zur auf dem Schauplatz der tatsächlichen Wirklichkeit stattgefundenen deutschdeutschen Wiedervereinigung. Durch geschickte Verschränkung von historischer Wirklichkeit einerseits und Vorstellungskraft andererseits und daraus generierten alternativen Wirklichkeitsinterpretationen und alternativen Wahrheitsbehauptungen wird die in der Regel un-hinterfragte Zwangsläufigkeit der realhistorischen Ereignisse zwischen dem 7. Oktober 1989 und dem 9. November 1990 vehement zur Diskussion stellt, und dabei vor allem eines deutlich gemacht, nämlich, dass es historische Situationen und Gemengelagen gibt, in denen – wie auch von Alex in einem Off-Kommentar zu Beginn der Spielhandlung festgestellt – „alles […] denkbar, alles […] möglich“ ist.

Wie Sonnenallee, so lebt auch Good Bye Lenin! vor allem aus der Lust an der Inszenierung einer alternativen Gegen-Wirklichkeit: Der nach 1989 im Kontext von politischen Redeweisen genauso wie auch im Alltagsdiskurs zu beobachtenden Tendenz zu einförmigen Deutungsmustern und homogenisierten Geschichts-Bildern wird humorvoll-ironisch der Boden entzogen. Und dabei geht es nicht darum, dass sich „Jammer-Ossi“ zurück nach ihrem „heimeligen Ossi-Land“(31) sehnen, und die DDR wird auch nicht „auf ein rein (un-)ästhetisches Phänomen“(32)reduziert, sondern die Zuschauer werden stattdessen angehalten, sowohl die Voraussetzungsbedingungen für einen vielleicht ganz ‚anderen‘ Geschichtsverlauf wie auch die Relativität von Geschichtsbildern zu bedenken. Die in Sonnenallee porträtierte DDR und die in Good Bye Lenin! rekonstruierte Vereinigung von West- und Ostdeutschland hat es in Wirklichkeit nie so gegeben – und weil die beiden Spielfilme an der Fiktionalität der von ihnen erzählten Als-ob-Welten nicht den geringsten Zweifel aufkommen lassen, leisten sie folgerichtig dann auch alles andere als einen ‚gefährlichen‘ Beitrag zu einer Verfälschung der Historie.

Nicht Geschichtsfälschung, sondern die Einladung zur historischen Metareflexion verbindet die beiden Filmprojekte Sonnenallee und Good Bye Lenin!, wobei die filmischen Wirklichkeitsversionen der beiden Filme über die schlichte Antithese von Verdammung versus Verharmlosung der DDR bzw. Verherrlichung versus Infragestellung der Vereinigung in erfreulicher Weise hinausweisen – und dabei spielen Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutungen eine ganz entscheidende Rolle. Die als Lach-Angebote inszenierten Antiversionen zu dem, was die ‚offiziell korrekte‘ Lesart der deutsch-deutschen Geschichte ist, könnten – sofern sich Zuschauer ‚ernsthaft‘ darauf einlassen – einen Beitrag dazu leisten, der ‚naiven‘ Vorstellung entgegenzuwirken, es gäbe nur ‚eine‘ Ordnung der Welt, es gäbe nur ‚eine‘ Möglichkeit der Wirklichkeitswahrnehmung, und vor allem: es gäbe nur ‚eine‘ Variante der ‚Geschichtsinterpretation‘. Ja, als Lach-Angebote inszenierten Antiversionen könnten als friedlicher Aufruhr gegen die nur scheinbaren Sicherheiten gängiger Geschichtsschreibung wirken, als humorvolle Aufmerksamkeitsschulung, als ‚Training‘ für den ‚Möglichkeitssinn‘.

 

Literatur

 


Fußnoten:

1 Eine erweiterte Fassung dieses Beitrags wird erschienen in: Waltraud ›Wara‹ Wende (Hg.): Wie die Welt lacht – Lachkulturen im Vergleich. Würzburg 2008.
2 Vgl. hierzu Jurij M. Lotman: Die Kunst als modellbildendes System. In: Ders.: Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst. Leipzig 1981, S. 83ff.
3 Zum Begriff der ‚Authentizität‘ vgl. Matías Martínes (Hg.): Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik. Bielefeld 2004.
4 Vgl. Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1989.
5 Vgl. hierzu auch: Waltraud ‚Wara‘ Wende: Medienbilder und Geschichte. A.a.O., S. 22.
6 Siegfried Kohlhammer: Anathema – Der Holocaust und das Bilderverbot. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 6. Heft, 48. Jg. (1998), S. 503ff.
7 Thomas Lindenberger: Zeitgeschichte am Schneidetisch – Zur Historisierung der DDR im deutschen Spielfilm. In: Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006, S. 353-372, hier: S. 353.
8 Die ernsthafte Auseinandersetzung beginnt zwar bereits in den Jahren 1990/91 – erinnert sei exemplarisch nur an: z.B. Der Verdacht (1990/91, Regie: Frank Beyer), Verfehlung (1991, Regie: Heiner Carow), Stein (1990/91, Regie: Egon Günther), Der Tangospieler (1991, Regie: Roland Gräf), Nikolaikirche (1995, Regie: Frank Beyer), Tödliches Schweigen (1995, Regie: Bernd Böhlich), Das Versprechen (1995, Regie: Margarethe von Trotta), Abgehauen (1998, Regie: Frank Beyer) – findet in den neunziger Jahren aber zunächst keinegroße Öffentlichkeit. Es müssen immerhin sechzehn Jahre vergehen, bis der in Hollywood mit mehreren Oscars prämierte Spielfilm Das Leben der Anderen (2006, Regie: Florian Henckel von Donnersmarck) oder auch der Fernsehzweiteiler Die Frau vom Checkpoint Charlie (2007, Regie: Miquel Alexandre) von der Kritik tatsächlich wahrgenommen und vom Publikum begrüßt werden.
9 Vgl. hierzu Waltraud ‚Wara‘ Wende: Die Bilder vom Krieg und der Krieg der Bilder – Vietnam im internationalen Spielfilm. In: Dies. (Hg.): Krieg und Gedächtnis. Würzburg 2005, S. 365f.
10 Vgl. hierzu: Waltraud ‚Wara‘ Wende: Das ›andere‹ Leben im ›anderen‹ Deutschland. A.a.O.
11 Christiane Peitz: Alles so schön grau hier. Leander Hausmanns ‚Sonnenallee‘, Sebastian Petersons ‚Helden wie wir‘: Der Osten ist Kult – jetzt auch im Kino. In: Die Zeit, vom 4. November 1999.
12 Thomas Lindenberger: Zeitgeschichte am Schneidetisch – Zur Historisierung der DDR im deutschen Spielfilm. A.a.O., S. 356.
13 Der bisherige West-Freund Miriams wird am Ende des Films als falsch spielender Schaumschläger demaskiert: Der Aufschneider ist im Westen lediglich ein kleiner Hotelpage, der die ihm von den Hotelgästen anvertrauten Autos nutzt, um auf seine Weise vom Ost-West-Gegensatz zu profitieren.
14 Es gibt im Film einen Abschnittsbevollmächtigten, der West-Musik konfisziert, selbst aber ein Liebhaber gerade dieser Musik ist.
15 Vgl. hierzu auch: Helden des Alltags. Leader Hausmann über ‚Sonnenallee‘, sein Debüt als Filmregisseur und über das Komische an der DDR. In: Freitag, vom 1. Oktober 1999.
16 Cristina Moles Kaupp: Good Bye, Lenin! Filmheft der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2003, S. 5.
17 Christiane Kerner ist eine engagierte Sozialistin, die für ihren unermüdlichen Einsatz für die DDR-Gesellschaft bereits ausgezeichnet wurde.
18 ‚Burger King‘ ist für die pragmatische Ariane der Inbegriff der Westkultur.
19 Dieter Wunderlich: Wolfgang Becker – Good Bye, Lenin! In: http://www.dieterwunderlich.de/Becker_Lenin.htm.
20 Rainer: „Ich war ja selber mal bei den Ver... eh... herzliches Glückauf! [zu den beiden Jungs in Pionieruniform], ich war ja selber mal bei den freien deutschen Pionieren...eh... Alex: Danke! Rainer! Rainer: Als Gruppen... eh...Gau...eh... Gruppenvorstand früher... Alex: Dankeschön! Rainer zu den Pionieren: Seid bereit. Seid bereit! Alex: Danke! Rainer!“
21 Thomas Lindenberger: Zeitgeschichte am Schneidetisch – Zur Historisierung der DDR im deutschen Spielfilm. A.a.O., S. 356.
22 Cristina Moles Kaupp: Good Bye, Lenin! A.a.O., S. 9.
23 Nani Fux: Goodbye, Lenin! In: http://www.artechock.de/film/text/kritik/g/goleni.htm
24 Wobei der Film geschickt offen lässt, ob der Taxifahrer, den Alex und Dennis vor der Kamera als Sigmund Jähn agieren lassen, tatsächlich der von Alex seit Kindheitstagen bewunderte Kosmonaut ist oder aber lediglich ein Double.
25 Bernd Haasis: Goodbye Lenin! Wahrhaftigkeit statt Ostalgie. In: Stuttgarter Nachrichten – online; http://www.stuttgarter-nachrichten.de/stn/page/detail.php/367795.
26 Christiane Peitz: Gefühlte Geschichte – zu ‚Goodbye, Lenin‘. In: Tagesspiegelonline, vom 2. Februar 2003; http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/02022003/420332.asp.
27 Christiane Kerner organisiert sozialistische Kinderfreizeiten, und sie unterstützt ihrer Mitbürger bei der Formulierung von Eingaben an die Partei.
28 Peter Zander: Auferstanden aus Ruinen. Der schönste deutsche Film seit langem: Wolfgang Beckers ‚Goodbye, Lenin!‘ im Wettbewerb. In:Berliner Morgenpost, vom 9. Februar 2003; Dass die Mutter mehr wahrnimmt und damit mehr weiß, als von Alex gemutmaßt, legt auch ein Gespräch nahe, das Mutter und Sohn am ersten Tag nach der Rückkehr der Rekonvaleszenten in die eigene Wohnung – nachdem die Mutter zuvor beim Transport im Krankenwagen mit West-Radio-Nachrichten beschallt worden ist – führen: In diesem Gespräch verrät die Mutter, dass sie, als sie nach der Flucht ihres Mannes in einer Psychiatrie untergebracht gewesen sei, trotz aller Teilnahmslosigkeit und Apathie sehr wohl wahrgenommen habe, was die Kinder während ihrer Besuche am Krankenbett zu ihr gesagt haben. Aber auch andere Indizien weisen darauf hin, dass Christiane Kerner mehr weiß, als von ihrem Sohn vermutet: So lässt das erste Video-Band mit den nachgestellten Nachrichten der ‚Aktuellen Kamera‘ die Mutter aufhorchen, weil Alex und Dennis vergessen haben, eine kurze Sequenz über den Verkauf von Satelliten-Antennen im Osten zu löschen. Und als Alex schließlich gemeinsam mit seinem Vater, den die Mutter nach ihrem zweiten Herzinfarkt gerne noch einmal wiedersehen möchte, am Krankenbett der Mutter erscheint, ist die Lernschwester Lara, die das Lügengebäude ihres Freundes längst nicht mehr zu decken bereit ist, gerade damit beschäftigt, der Patientin von der tatsächlichen deutsch-deutschen Wiedervereinigung zu berichten.
29 Evelyne Finger: Die unsichtbare Republik. Wolfgang Beckers Tragikomödie ‚Good Bye, Lenin!‘ kennt viele Arten von Gelächter. In: Die Zeit; http://www.zeit.de/2003/07/ Goodbye_Lenin.
30 Ekkehard Knörer: Klischee DDR – Wolfgang Beckers ‚Goodbye, Lenin‘. In: Netzeitung, vom 10. Februar 2003; http.//www.netzeitung.de/servlets/page?section=5662&item=22 6253.
31 Christine Schrader: Der Ossi, ein Erfolgsmodell – auf wundersame Weise ist er auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt. In: Hamburger Abendblatt, zitiert nach http://www.abendblatt.de/daten/2003/03/08/131837.html.
32 Andreas Thomas: Good Bye, Lenin! Die sogenannte ‚DDR‘. In: http://www.filmzentrale.com/rezis/goodbyeleninat.htm.

1.9. Lachen und Ernst

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS
 Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Waltraud ›Wara‹ Wende: „Ich lebe in der DDR, ansonsten habe ich keine Probleme“ - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-9/1-9_wende.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-01-20