TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 2.1. Sprachen und kulturüberschreitende Vorstellungsbildungen
Sektionsleiter | Section Chair: Csaba Földes (Veszprém / Ungarn)

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Ereignisstrukturen als Repräsentation der Wortbedeutung:

Vergleich sprach- und kulturspezifischer Bedeutungssysteme im Deutschen und Ungarischen*

József Tóth (Pannonische Universität Veszprém/Ungarn) [BIO]

Email: jozsef.toth@btk.uni-pannon.hu

 

1. Zielsetzung

Der Beitrag konzentriert sich auf intra- und interlinguale lexikalisch-semantische Untersuchungen, die kulturspezifische Bedeutungssysteme aufdecken können. Wir gehen davon aus, dass die Bedeutungsrepräsentation eines Verbs in der Repräsentation seiner Ereignisstruktur besteht, was bedeutet, dass Verben Ereignisse bezeichnen, die aus miteinander über verschiedene Relationen verknüpfte Teilereignisse verschiedener Sorten bestehen. Diese Teilereignisse sind wiederum über semantische Relationen verbunden (Engelberg 2000). Der Beitrag setzt sich zum Ziel, sprach- und kulturspezifisch strukturierte Ereigniskomplexe im Deutschen und Ungarischen zu modellieren und miteinander zu vergleichen. Kontrastive interlinguale Untersuchungen in diesem Bereich sind in Zukunft mehr als bisher erwünscht. Sie sind als integrative Bestandteile einer interkulturellen Semantik anzusehen.

Der Aufsatz beschäftigt sich mit der lexikalischen Repräsentation von Verben mit dem Präfix los- im Deutschen und mit ihren Entsprechungen im Ungarischen und der Frage, welche Rolle Ereignisargumente in solchen Repräsentationen spielen können.

 

2. Der lexikalische ereignisstruturbasierte Ansatz

Die Studie setzt sich nicht zum Ziel, auf die ersten ereignisstrukturellen Theorien, wie sie in der Folge von Pustejovskys Arbeiten (1988, 1991) entstanden, eizugehen. Wir kommen weder auf weitere Forschungsergebnisse (z.B. Engelberg 1994, 2000, 2001, 2004, 2006; Tóth 2004) noch auf die Problematik, was Ereignisse sind (z.B. Stoecker 1992), zu sprechen. Die ereignisstrukturelle Theorie zur Repräsentation der Verbbedeutung basiert darauf, dass Verben auf komplexe, intern strukturierte Ereignisse referieren. Die Bedeutungsrepräsentation eines Verbs besteht in der Repräsentation seiner Ereignisstruktur. Das bedeutet, dass Verben Ereignisse bezeichnen, die aus verschiedenen Teilereignissen bestehen, die miteinander über verschiedene Relationen verknüpft sind. Diese Teilereignisse sind wiederum über semantische Relationen mit den Ereignispartizipanten verbunden.

In Anlehnung an Engelberg (2000) gehen wir von den folgenden Maximen aus:

  1. Die Verben bezeichnen Ereignisse, die aus mehreren Teilereignissen bestehen können.
  2. Teilereignisse können Ereignisse, Prozesse oder Zustände sein. Verben können dabei auf die Bezeichnung von dauernden oder punktuellen Teilereignissen beschränkt sein.
  3. Zwischen den Teilereignissen können z.T. kausale, immer aber temporale (z.B. gleichzeitig aufeinander folgend) Relationen bestehen.
  4. Die den thematischen Argumenten entsprechenden Partizipanten sind nicht notwendigerweise in alle Teilereignisse involviert. An die Teilereignisse, in die sie involviert sind, sind sie durch bestimmte semantische Relationen (Agens, Patiens etc.) gebunden.
  5. Das Stattfinden der einzelnen Teilereignisse ist durch die offene verbale Proposition entweder impliziert oder präsupponiert.

 

3. Exkurs: Ein Beispiel: niederbrennen

Es stellt sich nun die Frage, ob Ereignisstrukturen imstande sind, kulturspezifische Bedeutungsstrukturen darzustellen. Wenden wir uns beispielsweise dem deuschen transitiven Verb niederbrennen zu (Engelberg 2000):

1. Thomas hat die alte Scheune niedergebrannt.
     1a. Tamás porig égette/leégette a régi pajtát/csűrt.

Auf die Frage Was ist geschehen? ist zu antworten: Thomas hat die alte Scheune angezündet, so dass sie brannte und am Ende völlig niedergebrannt war. Die Ereignisstruktur können wir wie folgt modellieren:

niederbrennen:           xnom, yakk
E-STR: (→I e1: xAGENS, yPATIENS) < (→I e2[+DUR]: yPATIENS) < (→I z: yPATIENS)

In diesem Fall geht das erste Teilereignis (e1) (das Anzünden der alten Scheune) dem zweiten Teilereignis (e2) (dem Niederbrennen der alten Scheune) voraus, welchem ein Nachzustand z (das Niedergebranntsein der alten Scheune) folgt. Das ist ein Ereigniskomplex, der die Situation modelliert. Am ersten Teilereignis (e1) sind ein Agens (x) und ein Patiens (y) beteiligt. Zeitlich danach (<) findet ein zweites Teilereignis (e2) statt. Es hatte eine bestimmte Dauer. Daran ist nur das Patiens (y) beteiligt. Abgeschlossen wird dieser Ereigniskomplex durch den nachfolgenden (<) Zustand (z), der darin besteht, dass die alte Scheune niedergebrannt war. An diesem letzten Teilereignis ist wiederum nur das Patiens beteiligt.
Die Ereignisstruktur der ungarischen Entsprechungen fel-/leéget, felperzsel, földig éget (Halász/Földes/Uzonyi 1998: 1160) kann wie folgt dargestellt werden:

fel-/leéget, felperzsel, földig éget:       xnom, yakk
E-STR: (→I e1: xAGENS, yPATIENS) < (→I e2[+DUR]: yPATIENS) < (→I z: yPATIENS)

Wir können eindeutig feststellen, dass die Struktur des deutschen Ereigniskomplexes mit der des ungarischen Ereigniskomplexes übereinstimmt. Daraus lässt sich schließen, dass mit dem vorliegenden Modell kulturspezifische Bedeutungsstrukturen aufgedeckt werden können. Unterschiede zwischen den zwei genetisch und auch typologisch unterschiedlichen Spachen, dem Deutschen und dem Ungarischen, gibt es in diesem Fall lediglich hinsichtlich der sprachlichen Realisierung des komplexen, intern strukturierten Ereignisses. Im Bereich der kulturspezifischen semantischen Inhalte, die die Eregnisstrukturen involvieren, lassen sich zwischen den zwei Sprachen in diesem Fall keine wesentlichen Unterschiede nachweisen. Im Folgenden ergibt sich die Frage, ob es sprachliche Inhalte gibt, wo Unterschiede nicht nur auf der Ebene der sprachlichen Realisierung existieren, sondern auch schon in der Ereignisstruktur.

 

4. Verben mit dem Präfix los- und ihre ungarischen Entsprechungen

Bei der Analyse der lexikalischen Struktur der Verben ist es angebracht, immer vom Konzept auszugehen, denn die sprachliche Strukturierung erfolgt nicht durch das Verb. Ich frage immer nach sprachlichen Inhalten in der einen und dann in der anderen Sprache. Sind die ungarischen sprachlichen Inhalte auch in der deutschen Sprache zu finden? Es gibt bestimmt Inhalte, die sich auch im Bereich der Interkulturalität unterscheiden. Sind diese Unterschiede mit Hilfe der lexikalischen ereignisstrukturbasierten Analyse aufzudecken?

4.1. Ereignisstruktur der deutschen Verben mit dem Präfix los- und ihrer ungarischen Entsprechungen

Bei der Analyse der Ereignisstruktur der Verben mit dem Präfix los- und ihrer ungarischen Entsprechungen gehen wir vom Konzept aus. Die sprachliche Strukturierung geschieht nämlich nicht mit dem jeweiligen Verb. Wir fragen nach den lexikalisch-semantischen Merkmalen im Deutschen und dann im Ungarischen. Wir fragen auf diese Weise auch nach den semantischen Inhalten im Deutschen und im Ungarischen, wobei festgestellt werden kann, ob die semantischen Inhalte des Deutschen auch im Ungarischen vorhanden sind.

dt.. Inhalte  
lex.-sem. Merk.
spr. Real.

Konzept
Ereignis
← →

ung. Inhalte
lexikalisch-semantische Merkmale
sprachliche Realisierung

Unser Korpus umfasst alle deutschen Verben mit dem Präfix los- sowie ihre ungarischen Äquivalente. An dieser Stelle möchten wir bei der Analyse nur einige deutsche und ungarische Verben heranziehen.
Die Ereignisstruktur des Verbs losbrennen bzw. égni kezd kann wie folgt modelliert werden:

E-STR: (→I e1: xAGENS, yPATIENS) < (→I e2[+INGRESSIV]: yPATIENS)

Das erste Teilereignis (e1) (das Anzünden eines bestimmten Materials) geht dem zweiten Teilereignis (e1) (dem Beginn dieses Ereignisses) voraus. In diesem Fall ist kein Nachzustand z vorhanden. Am ersten Teilereignis (e1) sind ein Agens (x) und ein Patiens (y) beteiligt. Zeitlich danach (<) findet ein zweites Teilereignis (e2) statt. Es ist ingressiv. Daran ist aber nur das Patiens (y) beteiligt.

Wenn wir von dem Ereignis-Konzept ausgehen, können wir leicht feststellen, dass sowohl in der deutschen als auch in der ungarischen Sprache dieselben Inhalte vorliegen. Was die semantischen Inhalte betrifft, gibt es zwischen den zwei Sprachen keine Unterschiede. Unterschiedlich ist nur die sprachliche Realisierung der semantischen Inhalte in den zwei Sprachen: losbrennen und égni kezd. Das Präfix los- und der verbale Teil kezd verweisen sowohl im Deutschen als auch im Ungarischen auf den Beginn des Ereignisses.

Die gleiche Ereignisstruktur weisen folgende deutsche los-Verben und auch ihre ungarischen Entsprechungen auf, so ist bei den Verben mit dem Präfix los- folgende erste semantische Gruppe zu unterscheiden:

Gruppe 1 kennzeichnet den Anfang eines Ereignisses (Halász/Földes/Uzonyi 1998: 1028ff., Duden 2001: 1029ff.):

losarbeiten
losbellen
losbeten
losbrennen
losheulen
loskläffen
loslaufen
=
=
=
=
=
=
=
nekifog a munkának
ugatni kezd
imádkozni kezd
égni kezd
elkezd sírni/bőgni
csaholni kezd
nekiiramodik, futni kezd

Die Ereignisstruktur des Verbs losbinden bzw. elold(oz) kann wie folgt modelliert werden:

E-STR: (→I e1[DURATIV]: xAGENS, yPATIENS) < (→ z[RESULTATÍV]: y)

Die Ereignisstruktur besteht aus einem ersten Teilereignis (e1), das durativ ist. Abgeschlossen wird dieser Ereigniskomplex durch den nachfolgenden (<) Zustand (z), der darin besteht, dass das Ergebnis des Ereignisses vorliegt. Die gleiche Erignisstruktur weisen folgende deutsche Verben und auch ihre ungarischen Entsprechungen auf, die sich bei den Verben mit dem Präfix los- durch die folgende zweite semantische Gruppe unterscheiden lassen:

Gruppe 2 kennzeichnet ein Ereignis, etwas wird von etwas auseinander gebracht (Halász/Földes/Uzonyi 1998: 1028ff., Duden 2001: 1029ff.):

losbekommen
losbinden
losbrechen (tr.)
losdrehen
loseisen
loshaken
losketten
losklopfen
loskoppeln
=
=
=
=
=
=
=
=
=
el-/kiszabadít, leold
elold(oz)
letör, leválaszt
ki-/el-/lecsavar, meglazít
be-/odafagyott tárgyat le-/kiolvaszt
leakaszt, láncról elereszt
láncától megszabadít, láncról elold
kopogással leválaszt, ütéssel szétválaszt, lever
elenged, levesz a láncról

Die Ereignisstruktur des Verbs losdrücken bzw. elsüt (fegyvert) kann wie folgt dargestellt werden:

E-STR: (→I e1[PUNKTUELL]: xAGENS, yPATIENS) < (→ z[RESULTATÍV]: y)

Die Ereignisstruktur besteht aus einem ersten Teilereignis (e1), das punktuell ist. Das erste Teilereignis (e1) (das Auslösen des Ereignisses) geht dem Nachzustand z (dem Ergebnis dieses Ereignisses) voraus. Am ersten punktuellen Teilereignis (e1) sind ein Agens (x) und ein Patiens (y) beteiligt. Zeitlich danach (<) erfolgt der Nachzustand. Daran ist aber auch in diesem Fall nur das Patiens (y) beteiligt. Die gleiche Erignisstruktur weisen folgende deutsche Verben und auch ihre ungarischen Entsprechungen auf,  die sich bei den Verben mit dem Präfix los- durch die folgende dritte semantische Gruppe unterscheiden lassen:

Gruppe 3 bezeichnet ein punktuelles Ereignis, dessen Endergebnis impliziert ist (Halász/Földes/Uzonyi 1998: 1028ff., Duden 2001: 1029ff.):

losbrechen (intr.) (das Gewitter bricht los) (er brach auf ihn los)
losdrücken
losfahren (er fuhr wütend auf ihn los)
loshauen
losplatzen
losschießen
lossprechen
=
=
=
=
=
=
=
kitör (a zivatar), nekiront, rátámad, kifakad ellene
elsüt (fegyvert)
nekimegy (vkinek), rátámad (vkire), kifakad (vki ellen), felfortyan
levág, rávág, közéje vág, szétüt
kitör, kifakad (hirtelen, indulatosan)
nekilendül/-rohan
felment, felold, feloldoz

 

5. Schlussfolgerung

Bei den drei verbalen Gruppen gibt es keine semantischen Unterschiede zwischen den Ereignisstrukturen der deutschen und der ungarischen Verben. Unterschiede gibt es nur auf der Ebene der sprachlichen Realisierung. Daraus ergibt sich die Frage nach den Unterschieden auch im Bereich der semantischen Inhalte. Wo können Unterschiede mit Hilfe der ereignisstrukturbasierten Analyse aufgedeckt werden? Bei der weiteren semantischen Untersuchung schlagen wir deshalb vor, vom Ungarischen auszugehen und ungarische Präfixe bzw. Suffixe zu untersuchen (Halász/Földes/Uzonyi 1998: 166, 229, 289, 333, 998, 1093):

  1. meg-: megír = schreiben, bis Ende schreiben, habe … geschrieben
    /perfektiv/
  2. el- elolvas = durchlesen, bis Ende lesen
    /perfektiv/
  3. el- ... -gat: elborozgat = einige Gläschen Wein trinken, beim Wein (beisammen)sitzen
    /eine bestimmte Zeit, iterativ/
  4. -gat: borozgat = bei einer Flasche Wein sitzen
    /eine bestimmte Zeit, iterativ/
  5. -gat, -get: nyitogat, csukogat = wiederholt/nacheinander öffnen/aufmachen, schließen/zumachen
    /iterativ/

Es ist anzunehmen, dass es sich auch bei der Analyse der Ereignisstruktur dieser ungarischen und deutschen präfigierten und suffigierten Verben keine semantischen Unterschiede ergeben. Unsere weitere Forschungsarbeit richtet sich deshalb auf sprachliche Inhalte, die in den zwei Sprachen nicht nur sprachspezifische, sondern auch kulturspezifische Unterschiede darstellen und die mit Hilfe des ereignisstrukturellen Ansatzes beschrieben werden können.

 

Literatur:

Wörterbücher:

 


Anmerkungen:

* Die vorliegende Studie ist Teil einer umfangreichen Arbeit


2.1. Sprachen und kulturüberschreitende Vorstellungsbildungen

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For quotation purposes:
József Tóth: Ereignisstrukturen als Repräsentation der Wortbedeutung: Vergleich sprach- und kulturspezifischer Bedeutungssysteme im Deutschen und Ungarischen - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/2-1/2-1-_toth17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-03-15