Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Februar 2010 |
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Sektion 2.11. | Ordnung im Übergang. Zur Verwendung des Farbwortes Blau im dichterischen Feld der
Lyrik der Moderne Sektionsleiter | Section Chair: Hartmut Cellbrot ( Herford, Deutschland) |
Doris McGonagill (Halifax, Canada)
Email: Doris.McGonagill@Dal.Ca
Der Lasker-Schüler. Er ist die einzige Art Scarabäus,
den man, ehemals Königsmumien
beigegeben, heute noch lebend antrifft.
Er entfliegt einem geöffneten Mumiensarge,
indem er seine bläulich-grün schillernden Flügel
schwirrend entfaltet. Er stirbt aber allsofort
im heutigen Wüstensand, wobei der Käfer
einen seltsam melodischen Seufzer hören läßt.(1)
Das Farbwort Blau kommt in dem zu Lebzeiten veröffentlichten lyrischen Gesamtwerk der Dichterin Else Lasker-Schüler dreiundfünfzig Mal vor.(2) Darüber hinaus wird bei dieser sehr visuell ausgerichteten Dichterin blaue Bildlichkeit vielerorten implizit evoziert durch die hervorgehobene Bedeutung etwa blauer Edelsteine, vor allem des häufig genannten Saphirs, und blaublühender Pflanzen, insbesondere Hyazinthen, Kornblumen, Rittersporn, Veilchen und Vergissmeinnicht, die alle selbst wiederum von einer symbolischen Resonanzaura umgeben sind, die Aspekte der symbolischen Farbbedeutung von Blau zusätzlich betonen und bekräftigen.(3) Des Weiteren werden in zeit-räumlichen Angaben (dem Schatten von Bäumen, der Nächtlichkeit eines Szenarios, der Erwähnung des Himmels) Vorstellungskomplexe angesprochen, die ebenfalls mit der Farbe Blau verbunden sind. Nicht selten wird der optische Bereich dieser Farbeindrücke synästhetisch erweitert und mit olfaktorischen und taktilen wie auch Klang- und Temperatureindrücken, etwa der Kühle, verbunden.(4)
Blau ist, neben Gold, die Farbe, die Lasker-Schülers visuellen Kosmos am deutlichsten dominiert, gefolgt von Schwarz und Rot. Auch der chromatische Sammelbegriff “bunt” kommt häufig und an zentraler Stelle vor, während andere Farbwörter wie Grün seltener,(5) Weiß, Braun und andere Farben kaum Erwähnung finden. Gelb und Orange gehen ganz im Bereich des Gold auf. Dies ist die Farbe der Sonne, Sterne, Strahlen, Engelsflügel, Harmonie, Erfüllung, des Herzensglanzes und des Tempels Jehovas. Die Gottähnlichkeit eines Menschen kann etwa ausgesprochen werden in der Erwähnung seiner “Goldgedichte[n] Glieder”, (167), in seinem “Goldhaar” (112) oder in “Goldblicken” (74). Silber, sehr viel seltener, begegnet ebenfalls zumeist in kosmischen Zusammenhängen und ist bisweilen mit einem akustischen Eindruck, etwa dem Glockenklang, verbunden.(6) Schwarz ist vor allem mit Nächtlichkeit, Schwere, Traum, aber auch Schwermut und Bedrohung assoziiert.(7) Die rote Bildlichkeit begegnet vornehmlich in Verbindung mit der Erwähnung von Blut, verweist auf Schmerz, Liebe, Wein aber auch Morgen- oder Abendlicht.(8) Die Begriffe “bunt” und “bleich” bilden ein Gegensatzpaar, wobei “bleich” (manchmal auch “fahl”(9)) Leblosigkeit, Tod und bleierner Schwere, “bunt” hingegen Leben und Lebendigkeit, Kindheit und Kindlichkeit, Kreativität, Glück, Fülle und Versöhnung bezeichnet: “bunter Mai” (98), “das ganze bunte Leben” (115), “buntgeknüpfte Zeiten” (164). Besonders häufig begegnet “bunt” in zweierlei Zusammenhängen: im Umfeld von Lasker-Schülers zahlreichen Textil- oder Teppichmetaphern, die fast immer in poetologischer Selbstreflexion auf das Gewebe des lyrischen Textes zurückverweisen,(10) sowie in Verbindung mit dem lyrischen Ich: “ich bin ein buntes Bilderbuch” (168), “mein buntes Herz” (179), “mein bunte Haut” (221), “meine Lippen bunt” (365). Auch ist in diesem Kontext der bunte Mantel zu nennen, der an den vielfarbigen Rock des biblischen Joseph gemahnt, dessen Persona sich die Dichterin in einem Akt künstlerischer Selbststilisierung zu Eigen macht.(11)
Im Folgenden möchte ich Blau in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen rücken, da mir diese Farbe als eine gedankliche Schnittstelle erscheint, an der religiöse, anthropologische und poetologische Vorstellungen zusammenlaufen und eine spezifische Verbindung eingehen, die Lasker-Schülers Werk insgesamt prägt(12) und ihre Poetisierungsverfahren, die für ihre Texte typischen atmosphärisch-sinnlichen und sinnbildlich-symbolischen Verdichtungen via Bedeutungsintensivierung in besonderer Deutlichkeit erkennen lassen. Dem Farbwort, das durch das gesamte Schaffen der Lasker-Schüler hindurch bedeutsam ist, kommt im Spätwerk, in dem es nicht nur am häufigsten begegnet, sondern auch die größte Bedeutungsvielfalt gewinnt, besondere Wichtigkeit zu.
Des Weiteren, so möchte ich argumentieren, wird Blau als einziger Farbe kein inhaltlich relativ einheitlicher, konkret bestimmbarer semantischer Bereich symbolisch zugeordnet. Vielmehr begegnet diese Farbe als Zeichen des Übergangs, der Begegnung mit der Transzendenz aber auch Signal der Transzendierung, als Schnittstelle und Schwellenphänomen. Inhaltlich je nach Kontext unterschiedlich zu füllen, kann Blau negative oder (in zunehmendem Maße) positive atmosphärische Bedeutung annehmen, steht aber als Kristallisations- und Kulminationspunkt immer im Zentrum der poetischen Selbstaussprache.
In dem ersten der drei Teile dieses Beitrags werde ich versuchen, das Werk der Else Lasker-Schüler kurz allgemein zu charakterisieren, wobei das Hauptaugenmerk ebenfalls auf dem Aspekt der Grenzüberschreitung liegen wird. Anschließend folgt ein Abschnitt, der diachronisch und synchronisch, insbesondere mit Seitenblick auf die Farbstrategien des Expressionismus, die unterschiedlichen Bedeutungsvarianten des Farbbegriffs Blau nachzuzeichnen sucht, bevor ich im dritten Teil auf die Farbe Blau im spezifischen Kontext einzelner Gedichte zu sprechen kommen werde.
I.
Else Lasker-Schüler (1869-1945) ist eine Grenzgängerin in vielfacher Hinsicht:
Lasker-Schülers Gedichte transzendieren aber auch oft traditionelle Epochegrenzen und blicken insbesondere zurück zur Romantik, die häufig als der Beginn der literarischen Moderne angesehen wird. Sprachmagie und ihre Beziehung zu ontologischer Dissonanz, der gelegentliche Hermetismus, das “Alleinsein mit der Sprache”, das Hugo Friedrich in seiner epochemachenden Untersuchung Die Struktur der Modernen Lyrik (1956) als spezifisch modernes Erbe Baudelaires, Rimbauds und Mallarmés diagnostizierte, sind typisch für Lasker-Schülers Werk. Der Rekurs auf Schlüsselkonzepte der Romantik zeigt sich etwa in der Bevorzugung des Nächtlichen,(20) in der Spannung von Intellekt und Intuition, der Präferenz für die Unmittelbarkeit von Fragment und Skizze, der Vorliebe für Symbol, Chiffre und Hieroglyphe (die auf thematischer Ebene wie auch als poetische Verschlüsselungsmechanismen bedeutsam sind), in dem sehnsuchtsvollen Grundton der Gedichte, in ihrem visionären Charakter, und in dem Rückzug in eine phantastische Innerlichkeit, die sich bei näherer Betrachtung genauer qualifizieren lässt als der Wunsch, das prosaische Leben und das Reich der Imagination zu verbinden. Oft werden dabei – auf individualpsychologischer und biographischer Ebene wohlgemerkt – triadische Vorstellungsmodelle angedeutet, die an neoplatonisch inspirierte geschichtsphilosophische Konzepte der Romantik erinnern. Dabei figuriert die Kindheit als ursprünglicher Heilszustand, dem eine widrige Realität entgegengesetzt ist, die es mittels der Erfahrung liebender Nähe eines Anderen, der Überwindung der Grenzen der Individuation, der Erhebung zur Transzendenz, des Fluges der Vorstellungskraft, mithin des Gedichts selbst zu überwinden gilt. Genau diese Erfahrungen kristallisieren sich in der lyrischen Organisation um das Farbwort Blau, das oft synästhetisch inszeniert selbst zur Chiffre wird, geheimes Zeichen, das auf einen größeren Zusammenhang (teils tradiert und allgemein verständlich, teils subjektiv-persönlich, idiosynkratisch und hermetisch) verweist.
II.
Hans W. Cohn deutet in seinem Buch Else Lasker-Schüler. The broken World die Farbe Blau im Werk der Else Lasker-Schüler als Farbe des Geistes (spirit), des Seelenfriedens und der Gemütsruhe (spiritual peace). (21) Es ist dies eine Verfasstheit der Seele, in der sie sich in spirituelle Bereiche aufzuschwingen und dem Göttlichen anzunähern vermag. Blau als Farbchiffre eröffnet, wie bereits Georges Schlocker(22) erkannt hat, unermessliche spirituelle Bezirke. Es erscheint in Lasker-Schülers Dichtung auch als Bezeichnung eines immateriellen Bereichs der Reinheit.(23) Symbollexika wie Manfred Lurkers Wörterbuch der Symbolik,(24) J. E. Cirlots, A Dictionary of Symbols(25) oder Michael Ferbers A Dictionary of Literary Symbols(26) informieren uns, dass in verschiedenen Kulturkreisen neben dem Himmel und dem Meer, lichter Höhe und dunkler Tiefe, auch Geistigkeit, Denken und Gedanklichkeit, Wahrheit, inneres Gleichgewicht, religiöses Gefühl, Himmel, hingebungsvolle Andacht und Unschuld als Korrelate der Farbe Blau begegnen.
Stationen der Verwendung von Blau als spiritueller Farbe reichen von den blauen Bärten der ägyptischen Pharaonen, Versinnbildlichung ihres göttlichen Wesens, über die Repräsentation verschiedenster Himmelsgottheiten in blauen Gewändern bis hin zum blauen Mantel mittelalterlicher Madonnendarstellungen und der “hohe[n] lichtblaue[n] Blume”, die Heinrich von Ofterdingen so tiefexistentiell berührt und mit “unnennbarer Zärtlichkeit” und “süße[m] Staunen” erfüllt – wobei beides, Zärtlichkeit und Staunen, unter romantischem Vorzeichen wichtige Aspekte geistig-seelischer Präposition für die Erfahrung des Wunderbaren sind, die auch in den Gedichten Lasker-Schülers begegnen.(27) In Novalis schlechthinniger Verkörperung romantischer Sehnsucht werden Ferne, Unerfüllbarkeit oder Unerreichbarkeit mit der Farbchiffre zugleich mitausgesagt.
In der Bildkunst wird seit der Renaissance, genauer seit Leonardos Erfindung der Luftperspektive, Verblauung, das Sfumato, zur Erzeugung von Tiefenwirkung und Darstellung von Ferne benutzt. Im Volksmund ist Blau die Symbolfarbe der Treue; dem entspricht als Blume das Vergissmeinnicht. Als Farbe der französischen Trikolore steht Blau für die Freiheit, so auch etwa in dem Ausdruck “blau machen”.
Goethes Abhandlung “Zur Farbenlehre” von 1810 versucht die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben zu bestimmen. Seinem polaren Symboldenken gemäß nimmt Goethe zwei entgegengesetzte Farben als Grundfarben an: dem sonnenhaft hellen, energetischen Gelb, das in seinem Farbkreis das Spektrum der positiven Farben anführt, ist das kühle Blau gegenübergestellt, das sich, so Goethe “vom Schwarzen ableitet” (§782) und “immer etwas Dunkles mit sich führe” (§778). Die Farbe Blau “steht auf der negativen Seite und ist in ihrer höchsten Reinheit gleichsam ein reizendes Nichts” (§779). Weit, aber eigentlich leer und kalt, mit einer Tendenz “vor uns zurückzuweichen” (§780) zeigt Blau “die Gegenstände im traurigen Licht” (§784).(28) Und so bezeichnet Blau als Farbe der Melancholie auch einen bestimmten Gemütszustand, den Blues und die blue devils im englischen Sprachbereich.(29)
Der Expressionismus, der die subjektive Umwertung von Farbbegriffen nicht nur künstlerisch praktiziert sondern auch theoretisch reflektiert, misst der Farbe Blau besondere Bedeutung bei. Verwiesen sei nur auf Franz Marcs “Blaue Pferde”, Georg Trakls Vorliebe für die Farbmetapher Blau oder Gottfried Benns Erhebung des Blau zum “Südwort schlechthin, […] von enormem Wallungswert, das Hauptmittel zur ‘Zusammenhangsdurchstoßung’, nach der die Selbstentzündung beginnt, das ‘tödliche Fanal’, auf das sie zuströmen die fernen Reiche...”(30) In dem Versuch, eine effektive bildnerische Rhythmik und einen harmonischen Bewegungsfluss seiner Form- und Farbensprache zu finden, setzt sich Franz Marc, enger Freund der Dichterin,(31) theoretisierend mit Farbphänomenen auseinander. Ihm gilt die Chiffre Blau als männlich, herb und geistig. Demgegenüber ist das weibliche Gelb sanft, heiter und sinnlich, das erdhafte Rot hingegen bezeichnet seines Erachtens Materie und Schwere.(32)
Wassily Kandinskys 1911 erschienene kunsttheoretische Schrift Über das Geistige in der Kunst geht besonders ausführlich Farbeigenschaften und, in dialogischer Auseinandersetzung mit der Zwölftonmusik Arnold Schönbergs, den ihnen zuzuordnenden Klangfarben nach. Die Farbe Blau bezeichne eine körperlose Geistigkeit und bewege sich, so Kandinsky im Rekurs auf Goethe, gleichsam vom betrachtenden Subjekt weg, erwecke in ihm
“die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels, so wie wir ihn uns vorstellen bei dem Klange des Wortes Himmel. […] Blau ist die typisch himmlische Farbe. Sehr tiefgehend entwickelt das Blau das Element der Ruhe. Zum Schwarzen sinkend, bekommt es den Beiklang einer nicht menschlichen Trauer.”(33)
Die “feierliche, überirdische Vertiefung”, die Blau bewirke, sei “buchstäblich zu verstehen: auf dem Wege zu diesem ‘über’ liegt das ‘irdische’ […]. Alle Qualen, Fragen, Widersprüche des Irdischen müssen erlebt werden.”(34) Die unterschiedlichen Schattierungen des Blau bringt Kandinsky mit verschiedenen Instrumenten in Verbindung: die Flöte wird dem Hellblau, das Cello dem Dunkelblau und Orgelklänge dem feierlichen Tiefblau zugeordnet.(35) Die von Kandinsky angesprochene Verbindung von Blau und Leiden begegnet auch im Werk der Lasker-Schüler und verbindet dort nicht selten Individuell-Biographisches und Kollektives, eigene Leidensgeschichte und die Jahrtausende alte Erfahrung des jüdischen Volkes. Dies bringt mich zu einer knappen Erläuterung der Bedeutung der Farbe Blau im jüdischen Kontext.
Zurückzuführen auf ägyptische Darstellungstraditionen kommt der Farbe Blau im Judentum eine exponierte Stellung zu. (36) Für die Ägypter war Blau die Farbe des Kosmos und der Götter, die Farbe des Himmels und des Nils, damit des Lebens. Im jüdischen Kontext ist Blau die Farbe des Davidsterns, der heute die Flagge Israels ziert. In Anlehnung an den Tallit, den formellen jüdischen Gebetsmantel oder Gebetsschal, dessen blaue Streifen und Zipfelquasten den Ruach HaKodesh, oder den Heiligen Geist Gottes, vorstellen, und an die jüdischen blauen Gebetsschnüren wird auf dieser Fahne der blaue Stern von zwei breiten blauen Streifen eingesäumt.(37) Im Kontext der Psalmen repräsentiert Blau den Himmel, die Weite des blauen Himmelszelts, und fungiert als Symbol für das Reich Gottes, für das, was “von oben” (i. e. dem Himmel) herab kommt und für die Hoffnung auf ein ewiges Leben. Gold und Blau sind die Farben Jehovas und die Farben des Tabernakels, Verweise auf die himmlische Heimat und Indikatoren für die Gegenwart Gottes.
III.
Bereits im lyrischen Frühwerk der Dichterin begegnet die Farbe Blau, wenn sie auch in ihrem ersten Gedichtband Styx (1902) nur zwei Mal vorkommt. Beide Nennungen finden sich in dem Peter Hille, ihrem verstorbenen Freund, zugeeigneten Gedicht “Der gefallene Engel” (49f.). In der dritten Strophe des Gedicht heißt es: “Siehst Du den Kettenring an meinem Finger – / Sein Stein erblindete, sein blaues Scheinen, / Vielleicht verlor ihn mal ein Gottesjünger / Auf seinem Pfade hoch in Felsgesteinen.”
Schon hier scheint Blau eine mit dem Göttlichen, mit Allmacht, Ferne und unnahbarer Höhe assoziierte Farbe zu sein. Es ist jedoch gerade das Verblassen ebendieses Blaus, was symbolisch einen Verlust thematisiert. Dieser Negativ-Eindruck des Verlusts wird in der vorletzten Strophe verstärkt: “Wenn aus dem Abendhimmel wilde Sterne gleiten / Durch’s tiefe Blauschwarz, wie verstoss’ne Sünder”. Fall Isolation, Trennung und Verstoßung aus dem Zustand ursprünglicher Einheit sind hier mitgemeint.
Neun Mal kommt das Farbwort Blau in der zweiten Gedichtsammlung, Der siebente Tag, von 1905 vor. Die “Flut / Der blaublühenden Meere” im Gedicht “Margret” (118), die “kühlen Bläuen” fremder Tage (in “Unser stolzes Lied”, 122) und “das süße Wetter mit blauen Wehen”, das direkt aus einem Mörike-Gedicht stammen könnte, verbleiben noch in traditionellen Assoziationsbereichen. Im gleichen Gedicht, aus dem das letztgenannte Zitat stammt, “Mein stilles Lied” (1. Fassung , 134), begegnet auch die Formulierung “Meine Lieder trugen des Sommers Bläue / Und kehrten düster heim.” An diesen Zeilen kann man bereits eine Ausweitung der herkömmlichen symbolischen Verweisungszusammenhänge auf den Bereich des poetischen Sprechens erkennen.(38) In diesem Gesang von großer Trauer und Schönheit verbinden sich Gegenwart und Vergangenheit im Modus der Erinnerung. Die Jetzt-Zeit ist die Zeit der Trauer um den Verlust der Mutter. Im Kontext ihrer poetischen Vergegenwärtigung fungiert Blau, wie oben zitiert, zunächst als Verweis auf Luft und Weite (beides Kontrastbereiche zu Trauer und Tod), dann auf Sommer (man fühlt sich an Benns “Südwort” erinnert), eine Zeit der Fülle und Erfüllung.
Eine ganz ähnliche Konstruktion begegnet in “Meine Mutter” (169) aus der Sammlung Meine Wunder, wo ein ähnlicher Erinnerungsakt ebenfalls in Blautönen inszeniert wird: “Oder liegt meine Mutter begraben / Unter dem Himmel von Rauch – / Nie blüht es blau über ihrem Tode. Wenn meine Augen doch hell schienen / und ihr Licht brächten.” Blau als Farbe der Erinnerung und kontemplativen Trauer wird hier angespielt, aber in der Entgegensetzung von Blau und “Rauch” sowie dem Verweis auf Helligkeit und Licht, die als Kommentare dem Farbwort nachgestellt und mit dem lyrischen Ich assoziiert sind, gewinnt Blau seine eigentliche Bedeutung im Kontext eines Hoffnungs- und Erfüllungszenarios.
Das Blau der Augen des Geliebten hat dieser im Gedicht “Leise sagen –” von den Augen eines Erzengel gestohlen. Das lyrische Ich nascht “vom Seim / Ihrer Bläue” (163). Unter den Engeln ist insbesondere Gabriel, der besonders häufig im Werk der Lasker-Schüler genannt wird,(39) die Farbe Blau zugeordnet.(40) In “Ich bin traurig” (165), eine dichterische Erinnerung an die Begegnung mit Gottfried Benn, erscheint der Geliebte “blau vor Paradies”. Wie in “Der gefallene Engel” fungiert Bläue als Verweis auf Göttlichkeit, Ruhe, eine vorsündhafte, unbefleckte Ganzheit im Stande der Unschuld jedoch ohne die Akzentuierung von Verlust, Trennung oder Abwärtsbewegung. Insgesamt zeichnet sich in den mittleren Gedichten eine subtile Umdeutung des ursprünglichen Gottesbildes an. Das Göttliche wird nun in zunehmendem Maße mit den genannten Bereichen der Liebe und der Dichtung assoziiert. Blau wird die Farbe der Liebeserfüllung und der poetischen Kreativität.
Das Gedicht “Heim” (147) ist ein gutes Beispiel für die vordergründige Naivität von Lasker-Schülers Sprache, die Friedrich Dürrenmatt so zutreffend charakterisiert hat: “Sie sah die Dinge wie zum erstenmal und sagte sie wie zum erstenmal.”(41) In diesem in der Wir-Form gehaltenen Gedicht wird der eigene Lebensbereich mit den Weiten des Himmels ineinsgesetzt: “Unsere Zimmer haben blaue Wände, / Und wir wandeln leisehin durch Himmelweiten, / Und am Abend legen Innigkeiten / Mit Engelaugen ineinander unsere Hände.” In diesem, auch mit dem Titel bezeichneten “Heim” (wobei diese Überschrift doppeldeutig sowohl die substantivische als auch die adverbiale Bedeutung des Wortes präsent hält) findet, wie Vers fünf berichtet, das Erzählen von Geschichten statt. Die zweite Strophe durchmisst die Zeit der Nacht, in der sich das Geschichtenerzählen ereignet, bis zum Sonnenaufgang. Die letzte Strophe assoziiert in traditioneller Metapher das Geschichtenerzählen mit dem Bild des gewobenen Teppichs, der hier als “wiesenhell” bezeichnet wird. Glücksempfindung wird in Form des Tanzes (der Sonne) ausgesprochen. Die letzten zwei Zeilen kehren mit der Erwähnung der Stühle und Pfeiler zur realistisch-konkreten Beschaffenheit des eigenen Wohnraums zurück. Jedoch ist dieser Bereich, in dem sich das Dichterische ereignet hat, aufgeladen mit Liebe (genauer: dem liebenden Zuhören, nochmals ein Verweis auf die bereits in der Wir-Form ausgesagte Gemeinsamkeit) und exquisiter Verzauberung. Das letzte Wort “Seidenquellen” bezeichnet die Kostbarkeit dieser Erfahrung und nimmt auch die auf das Poetische verweisende Bildlichkeit des Teppichwebens wieder auf. Das eigene Zimmer wird mittels der im Eingangsvers erwähnten Farbe Blau, welche die Inbezugsetzung zum Bereich des Himmlischen vorbereitet, zur Domäne des Dichterischen, zum Bereich der Phantasie, der imaginativen Entgrenzung und der Erhebung der Seele in den Bereich dichterischer Vorstellungskraft und poetischer Kreativität.
Ähnliche symbolische Qualitäten kommen dem Farbwort im Gedicht “Gebet” (288) zu. Wiederum werden der Bereich der Dichtung und des lyrischen Ich mit der Farbe Blau in Verbindung gebracht. Das lyrische Ich zeigt sich in der ersten Strophe als Suchendes, jedoch werden die Identitätsgrenzen zwischen ihm und dem Gesuchten (“eine Stadt / Die einen Engel vor der Pforte hat”) verwischt, wenn es sich in der Schwellensituation der Eingangszeilen (“Pforte”!) selbst als flügeltragend beschreibt: “ich trage seinen großen Flügel / Gebrochen schwer am Schulterblatt / Und in der Stirne seinen Stern als Siegel”). Die zweite Strophe artikuliert die Nächtlichkeit des habituellen Wandelns: “Und wandle immer in der Nacht… / Ich habe Liebe in die Welt gebracht – / Daß blau zu blühen jedes Herz vermag, / Und hab ein Leben müde mich gewacht, / In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.” Der Herz-Topos, der im Kontext des Expressionismus zum festen rhetorischen Formelschatz gehört,(42) wird in der liebesmythischen Konzeption des “Gebets” im Zusammenhang größter Intimität und Dichtungsapotheose verwandt. Das Ich stilisiert sich zur überirdischen Liebesbotin, deren Liebe alle anderen Herzen zum blauen Blühen bringt. “Blau wird eine Qualität der Seele. Diese Fähigkeit ist initiiert durch die Liebessprache des suchenden Ich, die ihre Autorität jedoch von Gott hat.”(43) Die nächsten Zeilen weisen mit kaum zu überhörender Selbstreferenz auf den Bereich dichterischen Sprechens: “Und hab ein Leben müde mich gewacht, / In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.” Der Begriff “Atemschlag” verbindet die Nennung des zum Leben und Sprechen nötigen Atems mit dem an Rhythmus und Takt gemahnenden “Schlag”, den man als Grundlage metrisch gebundenen Sprechens bezeichnen könnte. Das Ich behauptet, den “Atemschlag” in etwas Göttliches – vielleicht das Gedicht – gekleidet zu haben. In seltsamer Umkehrung nimmt die letzte Strophe diese Bildlichkeit wieder auf: das Ich wendet sich nun mit der Bitte, seinerseits schützend umschlossen zu werden in direkter Apostrophe an Gott. Die auf den Gedichttitel zurückverweisende Gebetform der Schlussverse verdeutlicht noch einmal die enge Verbindung zwischen dem suchenden, von der eigenen Auserwähltheit überzeugten Ich, der Liebesbotschaft seines dichterischen Sprechens, und der Allmacht des Schöpfergottes. Dichterische Kreativität ist eine Form der Liebe, die den Menschen dem Göttlichen annähert. Im magisch blauen Medium der Nacht, das zur Farbe der Liebe, Poesie und Transzendenz wird, ereignet sich diese mystische Verbindung.
In der Sammlung Konzert, die Gedichte bis in die 1920er Jahre enthält, wird die Farbe Blau in drei verschiedenen Gedichten mit Gott in Verbindung gesetzt: in “Letzter Abend im Jahr”, “Gott hör” und “Aus der Ferne”. “Letzter Abend im Jahr” (317) setzt der einsamen Klage des lyrischen Ich in Form eines für Lasker-Schüler typischen Neologismus das (im Superlativ verwendete) Farbwort Blau als himmlische Farbe der Hoffnung und Göttlichkeit entgegen: “Und sah ich auch den blausten Himmel in Gottost” heißt es mit bezeichnendem Rückverweis auf das Reimwort “Trost” in der zwölften Zeile. In der genauen Gedichtmitte von “Gott hör …” (321) wird die Überschrift wiederholt, und Gott mit der Farbe Blau und mit Gesang, dem schöpferischen Akt der Dichtung, aufs Engste in Berührung gesetzt. “Gott hör … In deiner blauen Lieblingsfarbe / Sang ich das Lied von deines Himmels Dach – ”. In dem letzten Gedicht der Sammlung, “Aus der Ferne” (328), begegnet Blau wieder als Farbe der Innigkeit und Innerlichkeit und in enger Verbindung mit den traditionellen blauen Bildlichkeiten des nächtlichem Himmels und des Meeres. Zugleich wird aber auch die religiös-dichterische Aufwärtsbewegung der menschlichen Seele in den Bereich des Traumhaften und Göttlichen angespielt: “Es wachsen auch die Seelen der verpflanzten Bäume / Auf Erden schon in Gottes blaue Räume, / Um inniger von Seiner Herrlichkeit zu träumen.” (328)
Abschließend möchte ich noch auf einige Gedichte aus der Sammlung Mein blaues Klavier eingehen. Außer dem Titelgedicht, dessen Besprechung etwas umfänglicher sein wird, werde ich noch fünf andere Beispiele ansprechen, die meines Erachtens wichtige Facetten des Farbbegriffs Blau demonstrieren, werde mich dabei jedoch auf einige Kurzbemerkungen beschränken.
“An meine Freunde” (331f.) ist das erste Gedicht der Sammlung. In den Schlussversen des Gedichts wird ein Gedanke formuliert, der auch in der letzten Strophe des Titelgedichts begegnet, und dort wie hier explizit mit der Farbe Blau in Verbindung gebracht wird: “Auf Erden mit euch im Himmel schon. / Allfarbig malen auf blauem Grund / Das ewige Leben.” Die totenhafte Gegenwart wird durch die dichterisch-erinnernde Vergegenwärtigung der Freunde imaginativ in Erfüllung überführt. In der vierten Strophe wird eine Feier liebender Wiederbegegnung beschrieben, die bezeichnender Weise im Elternhaus stattfindet. Über die Erwähnung des Erzengels Gabriel ist hier bereits die Farbe Blau evoziert, die im Folgenden mit dem Gold der Staubfäden verbunden wird. Die letzte Strophe setzt der “tote[n] Ruhe” des Gedichtanfangs, die zu Beginn der letzten Strophe nochmals zitiert wird, Liebe, Leben und Lebendigkeit (“Odem” und “[d]as ewige Leben”) entgegen. Der visionäre Ausklang formuliert mit “[a]llfarbig malen” geglückte Ganzheitlichkeit im Stande der Kreativität. Der blaue Grund könnte entweder als Verweis auf die Himmelsfarbe (und damit positiv konnotierte Transzendenz) oder als melancholischer Verweis auf die Einsamkeit des Diesseits verstanden werden.
Im Gedicht “Jerusalem” (334) bildet die performative Syntax der vierten Strophe die einbrechende Präsenz des Du (wenn auch nur eine gedankliche) plastisch ab und bereitet die metaphorische Inbezugsetzung der Augen des Du, das in der dritten Strophe eingeführt aber nicht näher bestimmt wird, mit den blauen Wolken vor: “Wie einst wenn ich im Dunkel meines Herzens litt – / Da deine Augen beide: blaue Wolken. / Sie nahmen mich aus meinem Trübsinn mit.” Das Erlösung verheißende wolkenhafte Blau wird dabei der Finsternis des voranstehenden Verses (“Dunkel meines Herzens”) explizit entgegengesetzt. Blau scheint hier Errettung zu verheißen, den Durchstoß von der Einsam- in die Gemeinsamkeit. Der Folgevers, “Sie nahmen mich aus meinem Trübsinn mit”, scheint sowohl die Aufhebung der Melancholie auszusagen, als auch das gemeinschaftliche Teilen, und so beide, Gemeinsamkeit und Aufhebung, in ein enges kausales Bezugsverhältnis zu setzen.
Eine bedrückend akkurate Vorahnung des eigenen Schicksals beschreibt das Gedicht “Ich liege wo am Wegrand” (346): “Wo soll ich auch noch hin – von Grauen überschattet – / Die ich vom Monde euch mit Liedern still bedacht / Und weite Himmel blauvertausendfacht.” Blau begegnet hier wieder in Verbindung mit dem Himmel und dem Gesang des lyrischen Ich. Das Wortspiel “blauvertausendfacht” (das im “blumumblatt” des letzten Verses seine doppelsinnige, auch auf das beschriebene Blatt Paper verweisende Entsprechung findet), demonstriert in der Verbindung von Ausdrücken der Fülle, Augmentierung und Potenzierung (tausendfach bzw. vertausendfachen), mit dem Farbwort Blau Lasker-Schülers dichterische Intensivierungsstrategien.
Das erste Zeilenpaar aus dem Gedicht “Hingabe” mag in der Weise, in der hier realistische Naturbetrachtung unmittelbar auf transzendenten Sinn verweist, an Kandinskys Konnotation des Blau als Farbe körperloser Geistigkeit erinnern: “Ich sehe mir die Bilderreihen der Wolken an, / Bis sie zerfließen und enthüllen ihre blaue Bahn.” (349) Wieder wird das Blau in einem verschlüsselt poetologischen Verweisungszusammenhang verwendet. Denn Gedichte, und die Gedichte der Lasker-Schüler im Besonderen, sind ja nichts anderes als Bilderreihen. Diese Vermutung wird bekräftigt durch die Metapher des Spinnens, deren Verwendung nicht nur als Verweis auf die Schicksalsgöttinnen, sondern auf den poetischen Text selbst, das Spinnen eines Erzählfadens, the spinning of a tale, zu verstehen ist.
In “An Apollon” (369) wird die Blau-Chiffre mit den bereits im Gedichttitel angespielten Bereichen der Musik, des Kunstschaffens und des lichthaft Himmlischen in Verbindung gebracht. In der mittleren Strophe des Gedichts finden sich die Zeilen: “Ein Engel spielt sanft auf blauen Tasten, / langher verklungene Phantasie”. Die Kombination zeit-räumlicher Vorstellungen in dem Wort “langher” bezeichnet den Ursprungsort der Phantasiekunst. Die Erwähnung der “blauen Tasten”, (nicht etwa der Leier oder Harfe!), über die der Bereich der Musik explizite Thematisierung findet, mag überraschen. Vielleicht sind es die “blauen Tasten” des verwaisten Herzens aus der nächsten Strophe, auf denen hier gespielt wird. Jedenfalls stimmt die Klavierbildlichkeit mit der Metaphorik des berühmten Titelgedichts der Sammlung (337) überein, das ich abschließend besprechen möchte.(44)
Die Stimme aus der Ferne, die man in diesem letzten Beispiel von Lasker-Schülers Alterslyrik der Exilzeit vernimmt, formuliert die Dualismen, die auch ihr Gesamtwerk prägen, auf besonders eindrückliche Weise: die Spannung zwischen Ferne und Heimat, Gewalt und Freiheit der Phantasie, Immanenz und Transzendenz; eine Spannung, “die als ein existentielles Ausgeliefertsein empfunden wird”.(45) Das eigene Schicksal verweist jedoch paradigmatisch auch auf den größeren Zusammenhang der historisch-geschichtlichen Entwicklung. Persönliche Geschichte geht in kollektiver (des in Barbarei versinkenden Deutschland) auf. Trauer, Verlust und Sehnsucht nach der Kindheit als retrospektive Utopie einer heilen Welt, Ganzheitlichkeit und spielerische Freiheit der dichterischen Phantasie, die gegen Gewalt und Verfolgung gesetzt wird, sowie poetische Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit von Dichtung münden in ein Gebet von scheinbar rührend-kindlicher Simplizität, tatsächlich aber hochartifiziellem Gestaltungskalkül. Bezieht man die Überschrift mit ein, so taucht das Farbwort Blau drei Mal innerhalb des Textes auf und dominiert so dessen gesamten Charakter. Wenn man mit der Subjektivität der nicht-mimetischen, symbolischen Umwertung von Farbbegriffen in Lasker-Schülers Werk vertraut ist, vermag ein blaues Klavier kaum mehr zu überraschen. Lasker-Schülers Zürcher Tagebuchblätter bieten jedoch einen zusätzlichen, konkretisierenden Hinweis für diese spezifische Farbgebung: “Ich besitze alle meine Spielsachen von früher noch, auch mein blaues Puppenklavier.”(46) Die blaue Farbe des Klaviers kann als symbolischer Verweis auf Kindheit und Heimat verstanden werden, wird mithin wieder zum Kristallisationspunkt für Erinnerung. Die Dunkelheit des Kellers wäre dann als doppelsinniger Verweis zu verstehen: zum einen auf die nicht überbrückbare Kluft, die die Gegenwart von der heilen Vergangenheit trennt, zweitens aber auch, im Lichte des Folgeverses, auf die sich verfinsternde politische Situation Deutschlands.(47) Die dritte Strophe führt, in der grammatischen Form des Präsens, mit der Erwähnung des Spiels der “Sternenhände” und der märchenhaften Mondfrau in den Gegenentwurf einer poetischen Phantasiewelt.
Die gleichsam naive Einfachheit der Sprache des Gedichts wird gepaart mit der kalkulierten Konstruktion, die sich insgesamt nur zweier Reime (auf –ier und auf –ote) bedient. Die Reimform ist regelmäßig a/b, mit einer Abweichung in der Gedichtmitte, wo zwei a-Reime aufeinanderstoßen. Alle b-Reime, die auf dem dunklen O-Vokal basieren, sind rein. Die a-Reime auf den hellen I-Vokal gliedern sich in reine Reime (Klavier, vier, mir) und grammatische Reime (Kellertür, Klaviatür, Himmelstür). Allein das in der Mitte stehende, einen Missklang artikulierende “Geklirr” bleibt bezeichnenderweise ohne rechte klangliche Entsprechung. In dem ausgezeichneten Lasker-Schüler-Kapitel ihres 1987 erschienenen Buches “Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht” legt Angelika Overrath dar:
“Die drei Gruppen reimen untereinander unrein, da sie aber (mit der Ausnahme ‘Geklirr’/‘Klaviatür’, Vers 7/8) mit den reinen b-Reimen alternieren, wird der ‘schräge’ Klang der unreinen Reime übertönt durch den dauernden Wechsel des hellen und dunklen Tons.”(48)
Der durch die Integration des Neologismus “Klaviatür” sich spielerisch gebende Umgang mit dem Reimzwang in der achten Zeile erscheint gleichsam als performativer Protest gegen die diagnostizierte Verrohung. Overrath hat überzeugend argumentiert, dass sich die hell-dunkel alternierende Reimfolge und die graphische Struktur der Zwei- und Drei-Zeiler auf die Tastatur eines Klaviers umlegen lassen: Sie führen zur F-Dur-Tonleiter. Overrath erläutert die Harmonik der sich so ergebenden Reimklänge:
“Die erste Reimgruppe (‘Klavier’ – ‘vier’ – ‘mir’) ergibt den Sextakkord d-Moll; die zweite (‘Kellertür’ – ‘Klaviatür’ – ‘Himmelstür’) den Quartsextakkord C-Dur; d.h., die in sich rein klingenden Reimgruppen bilden auch harmonische Akkorde. ‘Geklirr’, das einzige Reimwort des Gedichts, das mit jedem Wort der anderen Reimgruppen ‘unrein’ klingt, kommt auf das ‘h’ zu liegen und bildet mit dem Grundton ‘f’ den Tritonus, der nach der klassischen Harmonielehre zu vermeiden ist.”(49)
Das Gedicht gewinnt seine narrative Qualität und raum-zeitliche Struktur im Hinblick auf das Schicksal des blauen Klaviers: signalisiert der erste Vers, dass dieses “zu Hause” sei, und berichtet der dritte von seiner (mit der Verrohung der Welt zeitlich zusammenfallenden) Verbannung in den dunklen Keller, so erscheint es im siebten und achten Vers zerbrochen, eine “blaue Tote”, Vorverweis auf die am Ende entfaltete Himmelsbildlichkeit. Zum besseren Verständnis dieser engen poetischen Assoziation des blauen Instruments mit dem Seelenzustand des sprechenden Ich sei noch einmal auf Kandinskys “Über das Geistige in der Kunst” verwiesen. Im fünften Kapitel, das der Wirkung der Farben auf das wahrnehmende Subjekt gewidmet ist, schreibt Kandinsky: “Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten.”(50) Das Instrument und die Seele des sprechenden Ich sind identisch, das Geschick des einen lediglich die metaphorische Spiegelung des anderen. Missklang, Zerbrechen und letztendlicher Tod des Instruments verweisen auf das Versiegen der poetischen Sprache des Ich.
Der Hilferuf am Himmelstor, die kindlich-naiv anmutende Bitte, schon jetzt, zu Lebzeiten, Einlass ins Himmelreich gewährt zu bekommen, artikuliert den Wunsch, der Verfolgung, der Situation des Vertriebenseins ein Ende zu setzen und in eine Heimat, jetzt eine himmlische Heimat aufgenommen zu werden. In einer in Blau inszenierten triadischen Figur überlagern sich eine politische Dimension (der Verweis auf die biographische Heimat in Deutschland), eine künstlerisch-existentielle Dimension (das freie Spiel der dichterischen Imagination), und eine religiös-existentielle Dimension (die Anspielung auf die biblische Vertreibung aus dem Paradies). Mit der Nennung der Farbempfindung Blau werden in “Mein blaues Klavier” auch alle drei Künste in Verbindung gesetzt: die visuelle Kunst, die mit der Aufrufung des Farbworts immer schon angespielt ist, die Musik, die sich in der Nennung des Instruments und seines Spiels manifestiert, und die Dichtung, die im Medium der Poesie den allgegenwärtigen Hintergrund bietet, darüber hinaus aber auch den thematischen Fokus dieses Gedichts darstellt.
So rückt die Bedeutung der Farbe Blau im Gesamtwerk der Else Lasker-Schüler am Beispiel dieses Gedichts noch einmal zusammenfassend in den Blickpunkt. Die Energie ihrer Sprachbilder entfaltet sich zwischen Sehnsucht und Erinnerung, Phantasie und Traum, nächtlicher Ahnung und Transzendenz, Trauer, Erhebung und Verklärung, in Heimkehr und Seelenflug als Farbe des Übergangs. Genauer differenzierend könnte man sieben Facetten dieses Übergangsphänomens nennen: erstens, den Übergang zwischen Gegenwart und Vergangenheit, wobei die Kluft zwischen beiden im Medium der Erinnerung (etwa an Kindheit, Mutter, Freundes- oder Liebesbegegnung) überbrückt wird; zweitens, den Übergang zwischen empirisch-biographischem, bürgerlichem Ich und dichterisch-künstlerischem Ich; drittens, den Übergang zwischen dem Ich in der Einsamkeit und seiner Teilhabe an einer liebenden Gemeinschaft; viertens, den Übergang zwischen allen drei Künsten; fünftens, den Übergang zwischen verschiedenen Seelenzuständen, der Seele in den Niederungen melancholischer Verlassenheit und im Zustand der Erhebung, des Aufschwungs- und des Himmelsfluges. In diesem Erhebungszustand werden Zeitlichkeit und Räumlichkeit in Klang, in dichterischen Gesang überführt und das lyrische Ich wird zum melancholischen Sänger, einem neuen Orpheus. Sechstens vermittelt Blau als Farbe der Versöhnung und Liebe zwischen Gegensätzen (in diesem Zusammenhang wäre beispielsweise die Bedeutung des Yom Kippur, des Tages der Versöhnung und höchsten jüdischen Feiertags, und die Rolle, welche die Farbe Blau in diesem Kontext spielt, noch weiter zu erforschen). Siebtens und letztens setzt Blau eine gottferne Welt mit dem Göttliche in Verbindung. Je nach Akzentuierung kann dieses Göttliche entweder den Schöpfergott Jehova oder die von Lasker-Schüler liebesmythisch sakralisierte dichterische Kreativität meinen.
Anmerkungen:
2.11. Ordnung im Übergang. Zur Verwendung des Farbwortes Blau im dichterischen Feld der Lyrik der Moderne
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