Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Juni 2010 |
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Sektion 2.11. |
Ordnung im Übergang. Zur Verwendung des Farbwortes Blau im dichterischen Feld der
Lyrik der Moderne Sektionsleiter | Section Chair: Hartmut Cellbrot ( Herford, Deutschland) |
Sektionsbericht 2.11.
Ordnung im Übergang. Das Farbwort Blau im modernen Gedicht
Hartmut Cellbrot (Herford, Deutschland) [BIO]
Email: Hartmut.Cellbrot@gmx.de
Im Eröffnungsreferat Ordnung im Übergang. Zur Verwendung des Farbwortes Blau im dichterischen Feld der Lyrik der Moderne umriss Hartmut Cellbrot unterschiedliche Funktionsmöglichkeiten, die das Farbwort Blau im modernen Gedicht einzunehmen vermag. Vorab wurde kurz der kulturhistorische Bezugsrahmen des Themas vergegenwärtigt, der darin zu sehen ist, dass die Geschichte der besonderen Symbolik der Farbe Blau bis in die Anfänge der Weltkulturen zurückreicht, wobei die Konjunktion von Blau und Transzendenz in der Tradition der religiösen europäischen Malerei bereits in der Spätantike erscheint. Die Karriere des Farbwortes in der neueren deutschsprachigen Literatur beginnt um 1800 und ist dort vor allem mit dem Namen Novalis, aber auch Goethe und Schiller verknüpft. Es wird Gegenstand ästhetischer Reflexion wie Medium der „Potenzierung“. Im 20. Jahrhundert gewinnt der Gebrauch des Farbwortes in der Lyrik eine eigene textkonstituierende Dynamik; ihm wird eine eigenwertige Ausdrucksfunktion zuteil, die unterstützt wird durch eine syntaktische Verselbständigung, wodurch es zum multiplen Zeichen wie Anzeichen purer Grenzphänomene wird. Diese Funktion erhält Blau aber nicht durch einen ihm anhängenden semantischen Wert - eher figuriert es als semantische Kategorie, unter der etwas fraglich wird -, sondern primär aufgrund der Verwendung im dichterischen Feld, nach der spezifischen Situierung im Textzusammenhang. Damit verbunden ist die Realisierung von Ordnungszusammenhängen wie deren Überschreitung. Dem Farbwert Blau ist dann die Funktion einer Schwelle, Grenze oder Passage eigen. Anhand von ausgewählten Textbeispielen von Georg Trakl, Stefan George und Georg Heym wurde das Augenmerk darauf gerichtet, auf welche Weise sich in den herangezogenen Auszügen auf Grund unterschiedlicher Verwendungen des Farbwortes Blau entsprechend eigene textkonstituierende Konstellationen von Natur und Kultur, von Sinnlichem und Nichtsinnlichem, Ich und Nicht-Ich, Eigenem und Fremden, überhaupt von Ordnungen und deren Überschreitung verdichten.
Das 1913 entstandene Gedicht „Kindheit“ von Georg Trakl erwies sich hierbei als ein subtiles Beispiel für Grenzüberschreitungen, die die Selbstzeitigung des Ich und seines In-der-Welt-Seins betreffen. Die Interpretation konnte zeigen, wie hinsichtlich der im Gedicht thematisierten Selbstzeitigung von Subjektivität infolge der Verwendung des Farbwortes Blau der Versuch der Selbstaneignung misslingt, da die Sphäre der Intrasubjektivität mit einem unaufhebbaren Mangel an Präsenz behaftet ist. Dieser Selbstentzug scheidet nicht nur das gegenwärtige Ich vom gewesenen, sondern durchzieht als Spalt auch das präsentische Ich. Das Entscheidende liegt nun darin, dass dieses doppelte Differenzgeschehen im Bereich der Intrasubjektivität nicht in erster Linie thematisch wird, sondern aufgrund der syntaktisch spezifischen Verwendung des Farbwortes Blau im dichterischen Feld strukturell vollzogen wird.
Anhand der Gedichte „Nachtseele“ und „Abendland“ konnte aufgezeigt werden, dass dem Farbwort Blau, das Trakl in ganz gegensätzlichen Bezügen verwendet, primär eine transitorische Funktion zukommt, wodurch vor allem die Grenzen kategorialer Unterscheidungen wie die von Innen und Außen, Sinnlichem und Nichtsinnlichem, Subjektivem und Objektivem überschritten werden und Gegensätze im Übergang miteinander verspannt werden. Auch hier war es wichtig zu sehen, dass ein solches Geschehen, das kaum sagbar ist, sich im Wesentlichen durch die kompositorische Setzung des Farbwortes Blau strukturell gestaltet. Es entstehen unterschiedliche Ordnungszusammenhänge, ohne dass eine übergreifende Ordnung sich herstellte.
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen gelangten anschließend anders gelagerte Verwendungsmöglichkeiten des Farbwortes Blau bei Stefan George in den Blick. In Georges Gedicht „Blaue Stunde“ ist der blauen Stunde ein Schwellencharakter zu eigen. Ihre Gegenwart ist Übergang und ihr Erleben vollzieht sich an der Schwelle von gegenwärtiger Wahrnehmung und Erinnerung. Zum einen ist ihr eine Verzögerung eingeschrieben, das heißt die Unmittelbarkeit ihres Erlebens ist allein im Modus der Nachträglichkeit zugänglich, zum anderen zeigt sie deutlich den Doppelsinn, der in der Selbst-Zeitigung liegt. Die Zeit der blauen Stunde ist es, die eine ausgezeichnete Gestimmtheit hervorbringt, welche im erlebenden Ich im Entschwinden erst sagbar wird.
Das Motiv der blauen Stunde erscheint explizit zum ersten Mal 1890 in der Malerei in Max Klingers Gemälde „Blaue Stunde“. Fortan wird mit der tageszeitlichen Dämmerung oftmals ein seelisches Dämmern verbunden. Fernwirkung und Transparenz des Blaus lassen es zur Farbe von Seelenräumen werden, die indes nicht losgelöst von äußeren Landschaften sind. In diesem Sinne stellt sich die Verwendung des Farbwortes Blau in der Lyrik bei Georg Heym vor. Der wichtigste Unterschied zu Trakls Verfahren besteht in dem Grad, wie der sinnlich-optischen Qualität der Farbe eine ungleich stärkere Bedeutung zukommt. Damit hängt zusammen, dass bei Heym das im Gedicht gestaltete Geschehen zumeist von einem festen Blickpunkt aus erfasst wird. Dieser fungiert dabei als Konstruktionsprinzip, indem die Elemente eines Phänomens von einem gemeinsamen Punkt aus ihre Ordnung erfahren. Der Umstand des Blickpunktes ist es, der bewirkt, dass bei Heym auch bei vom Substantiv losgelösten Farbwörtern immer eine raum-zeitlich zu verortende Sinnlichkeit des Farbwertes mitschwingt. Das Gedicht „Träumerei in Hellblau“ lässt das erkennen.
Das in den ersten beiden Strophen berufene Landschaftsbild vermag von einem Betrachter widerspruchfrei sinnlich vorgestellt zu werden. In den beiden Schlussstrophen wendet sich der Blick und eröffnet eine innere Landschaft, die das substantivierte Blau des zweiten Verses mit der äußeren verknüpft, was rückwirkend der Gedichtanfang „Alle Landschaften“ zum Ausdruck bringt. Auch wenn sich das Gedicht vordergründig einer übersichtlichen Ordnung unterstellt, so bewirkt die isolierte Stellung des Farbwortes Blau eine nicht zu hintergehende Verspannung von Subjektivem und Objektivem. „Blau“ fungiert hier gewissermaßen als „Scharnier“ (Schuster), das Inneres und Äußeres verbindet. Dieser Gebrauch des Farbwortes Blau bei Heym führte in der Diskussion zur modernen Malerei, wo – neben van Gogh, der bekanntermaßen auf Heym äußerst anregend wirkte - generell die Bedeutung der Farbe in ihrer eigenwertigen Ausdrucksfunktion eine gewichtige Rolle spielt. Zur Sprache kam die Farbe als künstlerisches Mittel zur Bewältigung der neuen Wirklichkeitskrise, die im Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt ihren Ausdruck fand. Hierbei wäre an die Einsicht des späten Husserl in das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaften zu erinnern, dass deren geschichtlich gewordener Objektivismus die konsequente Eliminierung des Subjektiv-Relativen aus dem erkennenden Denken bewirkt habe. Dem entgegenzuwirken, darin sahen Dichter wie Maler eine ihrer vordringlichsten Aufgaben. Beispielsweise ist für den „Zurückgekehrten“ Hofmannsthals in van Goghs Kunst die Kluft zwischen Subjekt und Objekt überbrückt. Der geistig anspruchsvollste Versuch, diese Kluft zu überwinden, findet sich zweifellos bei Robert Musil.
Der sich hieran anschließende Vortrag von Doris McGonagill (Dalhousie University, Halifax, Canada) knüpfte im Verlauf ihrer Ausführungen daran an, indem sie auf Kadinsky verwies, der den geistigen Ausdrucksmöglichkeiten der Farbe, ihrersinnlich-sittlichen Wirkung, große Aufmerksamkeit schenkte, und diese in Beziehung zu Else Lasker-Schüler setzte. Frau McGonagill widmete sich in ihrem Vortrag „Die Farbe Blau im lyrischen Werk Else Lasker-Schülers“ dem Farbwort Blau vornehmlich als Schnittstelle verschiedener zentraler Bereiche, die es in der Lyrik der Dichterin markiert: das Spiel mit verschiedenen Identitäten und Geschlechterrollen; den Übergang von Realität und Imagination, von Liebeserfüllung und Liebesverlust; von Irdischem und Himmlischem (wobei Blau auch als Zeichen der Potenz des zeugenden Jehovas auftritt); von jüdisch-hebräischen Überlieferungstraditionen und Einflüssen der literarischen Romantik. Das Farbwort charakterisiert auch den spezifischen Tonfall vieler zwischen Ekstase und Melancholie changierenden Gedichte Lasker-Schülers. Ihre poetischen Neologismen (wie etwa die Fügung „himmelblauer Mensch“ oder „blauvertausendfacht“) reflektieren als sprachliche Innovationen die Grenzüberschreitung, die sich an dem semantischen Feld um das Farbwort Blau kristallisiert. Hierbei vermag es Zentrum poetischer Selbstaussprache zu sein, indem es genau genommen eine Schwelle anzeigt, auf der das Verhältnis von empirischem Ich, Autoren-Ich und lyrischem Ich thematisiert wird. Die einlässliche Befragung des Gedichts „Mein blaues Klavier“ zeigte die einzelnen Aspekte auf. Der Umfang einer so gefassten Selbstaussprache erweitert sich bei Lasker-Schüler zuweilen derart, dass er Transzendenz und damit Gott mit einbegreift. Hierbei figuriert Liebe, existentiell verwurzelt, als poetische Energie. Infolge des .transitorischen Charakters des Farbwortes Blau werden Bezüge zwischen Mensch, Kunst und Gott gestiftet, die die Dichterin in ihrem Spätwerk immer mehr umkreist. Darüber hinaus erläuterte Frau McGonagill anhand weiterer konkreter Textbeispiele aus dem Werk der Dichterin die komplexe Bedeutung der Farbe in ihren Sinnbezügen zwischen Sinnlichkeit und Spiritualität, Vertrautem und Fremdem, Leidenschaft und Sehnsucht. Dabei zog sie zur literaturhistorischen Verortung Linien bis zur Romantik und ging auf die Idee des Gesamtkunstwerks im Expressionismus ein, die für die Lyrikerin stets eine starke Anziehung besaß.
In Marc-Oliver Schusters Vortrag (Universität Wien) „wie ein enzianblaues Kleid“: Das Farbwort Blau in H. C. Artmanns Lyrik stellte sich die Verwendung des Farbwortes Blau wieder aus einer anderen Perspektive dar. Das lyrische Werk von H. C. Artmann erstreckt sich über ein halbes Jahrhundert und umfasst in seiner stilistischen Vielfalt unterschiedliche Gattungen und Formtraditionen. Die Frage nach dem Wert des Farbwortes Blau erfordert daher, wie Schuster betonte, neben der textimmanenten Funktionsbestimmung die Berücksichtigung der jeweiligen Textzusammenhänge einschließlich der kulturgeschichtlichen Werte der Farbe Blau. Artmanns intertextuelle Arbeitsweise lädt zahlreiche seiner Blau-Versionen mit zusätzlichen Bedeutungen auf, die sich nicht nur auf deutschsprachige und europäische Literatur- und Kultursysteme beziehen (z.B. christliche Symbolik, Symbolismus, Surrealismus), sondern auch außereuropäische Deutungssysteme integrieren (z.B. nordamerikanische Lyrik und Mythen). Zudem situiert sich Blau in Artmanns Werk im verbindlichen Rahmen einer radikalen Autonomie-Poetik (“dichtung um der reinen dichtung willen”).
Der Wortgebrauch von Blau unterliegt damit komplexen Verweisen zu alltagsüblichen, literarischen und allgemein-kulturellen Ordnungszuschreibungen, wobei diese Verweise in den jeweiligen Textzusammenhängen oft ordnungsüberschreitend wirken. Als spezifisch moderne Geste zeigt sich das Zusammenspiel von Ordnung und Überschreitung gerade in solchen ästhetischen Bedeutungen des Farbwortes, wo Artmann die christliche Blau-Symbolik, etwa in Gestalt der Jungfrau Maria, in Richtung auf eine textzentrierte, strukturalismusnahe Kunstautonomie umdeutet. Vom Begriff der Kunstautonomie aus, der sich bei Artmann zudem mit einem gewissen Pathos der Distanz verknüpft, zuweilen verbunden mit Kälte, die wiederum das Farbwort Blau evoziert, kam in der anschließenden Diskussion die Rede auf Gottfried Benn. Bei allem Unvergleichlichen, das die Dichtung Artmanns von der Benns trennt, bildet der Autonomie-Begriff, verknüpft mit dem Pathos der Distanz, den gemeinsamen Bezugsrahmen. In einem Exkurs, ausgehend von Blau als dem „Südwort“ und Dichtung als „Zusammenhangdurchstoßung“ (für Benn ist Blau die Farbe, die diese vornehmlich bewirkt) ergaben sich Linien zum Benn-Leser Rolf Dieter Brinkmann, dem wichtigen Vermittler der amerikanischen Underground- und Pop-Literatur der späten sechziger Jahre. Dessen Dichtung, die unterwegs ist auf ein „anderes Blau“, ist ausgerichtet auf einen Bereich, der ebenfalls analog zu Benn erst zugänglich wird durch die Durchstoßung von habituellen Zusammenhängen. Dieses andere Blau erkennt Brinkmann offenbar gerade in jenen Gegenbildern, wie sie ihm singuläre Alltagsdetails,kulturelle Diversität und gewisse Naturphänomene und nicht zuletzt Rockmusik vermitteln (wobei auch dort wie bei den Doors das Farbwort Blau z. B. in Gestalt des „blue bus“ aufscheint).
Zusammenfassend konnte als Ergebnis festgehalten werden, dass das Farbwort in der modernen Dichtung, wie sie Thema geworden ist, da am Wirkungsvollsten ist und eine nicht zu ersetzende Funktion einnimmt, wo es strukturell verwendet wird, d. h. wo es unterschiedliche Ordnungszusammenhänge transitorisch in Beziehung setzt und damit Ordnungen hervortreibt, ohne selbst in eine zu passen.
2.11. Sektionstitel
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