Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Februar 2010 | |
Sektion 2.3. | Minoritäre Sprachen und Kulturen Sektionsleiter | Section Chairs: Raschid S. Alikajew (Naltschik, Russische Förderation) | Fritz Peter Kirsch (Universität Wien) | George Guţu (Universität Bukarest) |
Die Minoritärensprachen und ihr funktionales Paradigma
Raschid S. Alikajew (Naltschik, Russische Förderation) [BIO]
Email: ralikaev@mail.ru
Im Rahmen dieses Beitrages wird der heutige Zustand der sogenannten neuschriftlichen Sprachen und ihre funktionalen Besonderheiten am Beispiel zweier Sprachen der nordkaukasischen Region von Südrussland analysiert: der kabardinisch-tscherkessischen und der karatschaisch-balkarischen Sprachen.
Die absolute Mehrzahl der heute in Russland lebendigen Sprachen gehören im Vergleich mit dem Russischen zu den minoritären Sprachen des Landes. Es muß aber präzisiert werden, was hier unter dem Bergriff „minoritär” verstanden wird. Traditionell wird als minoritäre Sprache bzw. sprachliche Minderheit eine “zahlenmäßig kleinere Sprachgemeinschaft, die mit [einer) größerer(n) Sprachgemeinschaft(en) in einem Gemeinwesen zusammenlebt”, bezeichnet [1,580].(1) Wenn man von dieser Definition bei der Bestimmung der sprachlichen Minorität in Bezug auf den Sprachraum der Russischen Föderation ausgeht, so werden alle anderen Sprachen Rußlands außer dem Russischen unter ein Dach gebracht mit dem Namen “minoritär”, was aber die funktionale und sozial-kulturelle Realität kaum wiedergibt. Denn es ist klar, daß das funktionale, sozial-kulturelle und politisch-administrative Potential dieser Sprachen ziemlich unterschiedlich und verschiedenartig hierarchisiert ist. Beispielsweise kann man das Tatarische und das Baschkirische in Ihren kommunikativen, sozial-kulturellen und politischen Funktionen in den Teilrepubliken (oder administrativen Subjekten) der Russischen Föderation keineswegs mit denen des Balkarischen, Nogaischen und Abasinischen vergleichen. Das bedeutet: die Sprachen wie das Tatarische und das Baschkirische sind in Russland keine minoritären Sprachen, wenngleich sie zahlenmäßig wesentlich kleiner sind als das Russische, denn sie erfüllen praktisch alle Funktionen einer nationalen Sprache bzw. einer nationalen Literatursprache, wenngleich das auf eine administrativ-politsche Bildung des Landes begrenzt ist.
Charakteristisch für die Sprachsituation in Rußland im allgemeinen ist eine auffallende Dominanz des majoritären Russischen über andere in Rußland vertretenen Sprachen. Aber es gibt unter den Sprachen Rußlands eine Reihe von Sprachen, wie oben genannt, die in Ihren Funktionen mit dem Russischen vergleichbar sind, was als Ergebnis der historischen Entwicklung und Traditionen zu betrachten ist. Von diesen Sprachen unterscheidet sich eine andere, zahlenmäßig wesentlich größere Gruppe der in Rußland vertretenen Sprachen, die man gewöhnlich „neuschriftlich” oder “jungschriftlich” bezeichnet. Als Beispiel für diese Reihe der Sprachen - allein aus der nordkaukasischen Region von Südrussland - kann man das Balkarische, Kabardinische, Abasinische, Awarische, Tschetschenische, Inguschische, Nogaische nennen.
Daneben muß auch eine dritte Gruppe der Sprachen genannt werden, die kein Schrifttum besitzen und nur in kompakten Siedlungsorten oder Migrationsgebieten als Sprache des alltäglichen Verkehrs unter den Vertretern einer konkreten ethnischen Gruppe funktionieren. Dazu gehören beispielsweise die Zigeunersprache, das Assyrische, eine Reihe von Sprachen des Bergdaghestan, das Truchmenische (in der südrussischen Verwaltugseinheit Stawropol), das Tofalarische bzw. Karagassische (in Sibirien), das Dolganische(im autonomen Kreis Taimyr) und andere mehr.
Wenn die funktionale Breite der Sprachen der ersten Gruppe vom Standpunkt der Fuktionen einer Literatur- bzw. Standardsprache als ausreichend eindeutig zu bewerten ist, so hat die letzte, dritte Gruppe in dieser Hinsicht keine Aussichten. Diese Sprachen - wenn auch für einige von ihnen ein orthographisches System zusammengestellt ist - sind Sprachen der aussterbenden oder von den Nachbarvölkern assimilierenden ethnischen Einheiten. Um die Sprachen von diesen ethnischen Einheiten zu fördern, braucht man zielgerichtete Unterstützungs- und Förderungsprogramme im nationalen Maßstab mit den Bedingungen, die einem Sprachinkubator vergleichbar ist. Von besonderer Bedeutung auf diesem Wege ist auch der innere Wille und Wunsch der eigentlichen Träger dieser Sprachen. Dies aber ist gerade nicht zu beobachten: die heranwachsende jüngere Generation dieser ethnischen Gruppen gebraucht die eigene Sprache nicht einmal im Familienverkehr und kommuniziert weitgehend in allen Lebensbereichen in russischer Sprache.
Was die Lage der obengenannten zweiten Gruppe der in Rußland vertretenen Sprachen unter dem Titel “neuschriftlich bzw. jungschriftlich” betrifft, so ist sie nicht so eindeutig wie die Lage der ersten und der letzten Sprachgruppen. Diese Sprachen sind meistens Muttersprachen der Titelvölker der Teilrepubliken der Russischen Föderation. Ihre Lage und Entwicklungsgeschichte ist typologisch gleich und das kann man am Beispiel des am Anfang des Beitrages genannten Karatschaisch-Balkarischen (im weiteren kurz: Balkarisch) und des Kabardinisch-Tscherkessischen (im weiteren kurz: Kabardinisch) veranschaulichen.
Es ist nicht zufällig, daß wir für Veranschaulichung des funktionalen Status der minoritären Sprachen die beiden Sprachen heranziehen. Das Kabardinisch-Tscherkessische, in der Fachliteratur [2,207] oft auch als kabardinische bzw. tscherkessische Sprache bezeichnet und das Karatschaisch-Balkarische, in der Fachliteratur[2, 212] oft als balkarische bzw. karatschaische Sprache bezeichnet, sind zwei Titelsprachen zweier Teilrepubliken der Russischen Föderation: der Kabardinisch-Balkarischen und der Karatschaisch-Tscherkessischen Republik.
Die Bevölkerung der Republik Kabardino-Balkarien (KBR) umfasste 2002 laut Volkszählung 901.494 Personen: Die fast 500.000 Kabardiner stellen rund 55 Prozent der Bevölkerung, und das Turkvolk der Balkaren zählt etwas mehr als 100.000 Angehörige. Ein Viertel der Bevölkerung sind Russen.
In der KBR sind Russisch, Kabardinisch und Balkarisch laut Verfassung gleichberechtigte Amtssprachen der Republik. Das sollte bedeuten, die genannten Sprachen haben in allen offiziellen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in Verwaltung, Gesetzgebung, Massenmedien, Literatur, Theater und Kunst, in allen Lehranstalten der Republik den gleichen Status. Das wird in den am Ende der 90er Jahre verabschiedeten Gesetz über den Status der örtlichen Sprachen wiederum betont. Wie funktioniert diese Gleichberechtigung aber in der Realität?
Die in allen möglichen Dokumenten wiederholt deklarierten gleichen Rechte dieser drei Sprachen in der KBR existieren realiter nicht. Russisch ist die wirkliche Amtssprache der KBR. Das Balkarische und Kabardinische finden als Amtssprachen ihren Ausdruck in Form der Niederschriften auf den Titelseiten der offiziellen Papiere und als Übersetzung der Namen verschiedener staatlichen Institutionen. In diesen Institutionen wird offiziell nur Russisch geschrieben und gesprochen. Die einheimischen Sprachen werden so gut wie nicht akzeptiert. Nur in Sonderfällen, wenn man auf sein Recht besteht, die Muttersprache als Amtssprache zu gebrauchen, werden Dolmetscher eingeladen. Aber das Endresultat einer solchen Amtshandlung wird immer in Russischer Sprache fixiert.
Als Sprache der Gesetzgebung funktioniert auch ausschließlich Russisch. Neben dem russischen Text wird der parallele Text in Balkarisch und Kabardinisch veröffentlicht, dessen Metasprache schwerfällig ist. Aus einem solchen Text ist es ziemlich schwer, die Sachverhalte adäquat und richtig zu verstehen. Dasselbe geschieht vor Gericht. Auch hier wird russisch gesprochen und geschrieben. Nur in Sonderfällen ist man offiziell gezwungen, in der gerichtlichen Verhandlung fragmentarisch mit Hilfe eines Dolmetschers kabardinisch oder balkarisch zu gebrauchen. Aber der Gerichtbeschluß wird russisch formuliert und erklärt, obwohl auch in diesem Bereich die Gleichberechtigung dreier Sprachen der Republik deklariert wird.
In allen Lehranstalten der Republik - vom Kindergarten bis zur Universität - ist die offizielle Kommunikationssprache (mündlich und schriftlich) ausschließlich Russisch. D.h., im Kindergarten ist die Sprache des Umganges mit den Kindern Russisch, in der Schule, der Fachschule und an der Universität wird ausschließlich russisch unterrichtet. Die Dienstpapiere und Dokumente in diesen Anstalten werden in russischer Sprache ausgefüllt. Die einheimischen Sprachen haben keine Chancen in diesem Bereich wegen des Fehlens der entsprechenden Metasprachen oder der mangelhaften, daher unverständlichen, künstlichen Metasprachen.
In den Zeitungen und anderen Massenmedien werden die einheimischen Sprachen Kabardinisch und Balkarisch gebraucht: es handelt sich dabei um je eine Zeitung [3] und eine Zeitschrift [4]. Die kabardinische und balkarische Sprachen der Zeitung und der Zeitschrift klingen an vielen Stellen sehr fremd und sind unter starkem Einfluß der russischen Terminologie und Syntax als Folge der Übersetzung aus aktuellen russischen Quellen. Im Fernsehen und Rundfunk ist dasselbe Bild zu beobachten. Das Kabardinische und das Balkarische im Fernsehen und Rundfunk sind so belastet mit russischen Elementen, daß ohne Kenntnisse dieser beiden Sprachen (besonders aber des Kabardinischen) ein Großteil des Inhalts der entsprechenden Sendung verstanden werden kann.
Wie ist die Lage in der Wissenschaft? Die Antwort ist eindeutig: es existiert keine wissenschaftliche kabardinische und balkarische Sprachen. Es gibt hartnäckige Versuche, auf dem Gebiet der Wissenschaft als patriotisches Zeichen Kabardinisch und Balkarisch zu gebrauchen [5]. Dies sind aber populär-wissenschaftliche Publikationen oder wissenschaftliche Arbeiten in Geschichte, Sprache und Literatur, die kein großes Ansehen bei den Lesern wegen der mangelhaften Sprachdarlegung haben. Die Besonderheit dieser wissenschaftlichen Sprache kann man an folgendem Beispiel veranschaulichen: Beim Versuch der Wiedergabe des Satzes aus der russischen Grammatik “ Это подлежащее и сказуемое, а это дополнительный член предложения- Das sind Satzgegenstand und Satzaussage, das ist aber Nebenglied”, werden alle informationswichtigen Bestandteile des Satzes mit denselben russischen Wörtern ausgedrückt. Kabardinisch ist nur ein Bindeelemente des Satzes und die Flexionen, und das sieht wie folgt aus: “ Ap подлежащэрэсказуемэрэщ, мыр псалъэухам и дополнительнэчленщ”(die russischen Wörter mit kabardinischen Flexionen sind von mir hervorgehoben - R.A.). Eine solche Sprache ist schwer als Kabardinisch zu bezeichnen, aber das ist das typische Bild für die einheimische Wissenschaftssprache.
Der einzige Kommunikationsbereich, in dem das Kabardinische und Balkarische verhältnismäßig erfolgreich funktionieren, ist der Alltag und in den Familien. Aber auch hier ist über die Qualität der einheimischen Rede nachzudenken. Sie ist oft - besonders unter jungen Leuten im Dorf und in der Stadt von russischen Lexemen und syntaktischen Konstruktionen belastet. Es entwickelt sich heute sogar eine Jugendsprache auf der Basis des Russischen.
Eine andere erfolgreiche Funktion der minoritären Sprachen, die uns bei der Analyse des Kabardinischen und Balkarischen auffällt, ist ihre kulturtragende Funktion in der letzten Zeit als Zeichen des erwachenden nationalen Bewusstseins. Die minoritäre Sprache in ihrer kulturtragenden Funktion reagiert auf ihre Ausgrenzung typischerweise mit der Ausbildung einer trotzig-stolzen, in der Sprache verbalisierten, kulturellen Widerstandsidentität. Aber man bekommt von solchen Aktionen den Eindruck einer kurzfristigen und vergänglichen Show.
Es muß offen und ehrlich betont werden, dass in der Sowjetzeit viel Nützliches für die Förderung und Entwicklung der minoritären Sprachen unternommen wurde. Das Wichtigste darunter ist die Entwicklung des Schrifttums. Aber alle anderen deklarierten Maßnahmen trugen den Charakter einer schlecht durchdachten kurzfristigen Werbeaktion ohne Aussichten auf Erfolg.
Es muß noch eine Besonderheit der Sprachsitution unter den Minderheiten erwähnt werden. In Kabardino-Balkarien leben neben den Kabardinern und Balkaren noch kleinere Minderheiten mit jeweils kaum 10.000 Angehörigen wie Osseten, Türken, Bergjuden, Zigeuner, Geogier und Ukrainer. Außerdem leben mehr als 5.000 Armenier in der Region. Die Sprache dieser örtlichen Minoritäten wird in der Republik nirgends unterrichtet und in den offiziellen staatlichen Institutionen akzeptiert. Sie bleiben als Minderheiten unter anderen Minderheiten in ihren sprachlichen Möglichkeiten begrenzt ausschließlich auf Familien und Verwandtenkreis.
Abschließend muß gesagt werden, daß das funktionale Paradigma der minoritären Sprachen sehr beschränkt ist, indem sie nur als Kommunikationsmittel im Alltagsverkehr unter den eigentlichen Sprachträgern und im begrenzten Familienumgang gelten und als besonderes Zeichen der nationalen und kulturellen Identität gebraucht werden, und um die aussichtslose Situation in diesem Bereich positiv wesentlich zu fördern und zu beeinflussen, ist eine zielgerichtete, allseitig tief durchdachte, sprachökologisch-kollektive Arbeit notwendig.
Literatur.
2.3. Sektionstitel
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-02