Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 2.3. | Minoritäre Sprachen und Kulturen Sektionsleiter | Section Chairs: Raschid S. Alikajew (Naltschik, Russische Förderation) | Fritz Peter Kirsch (Universität Wien) | George Guţu (Universität Bukarest) |
Aspekte der Darstellung von „Zigeunern“(1)
im multikulturellen Reiseland Rumänien
George Guţu (Bukarest) [BIO]
Email: gutugeorge@yahoo.de
In seinem 1999 veröffentlichten Band geht Jakob Ternay(2) der Frage nach, woher die Zigeuner kommen, wie sie sind, wie sie dargestellt werden, warum sie uns so fremd sind. Durch seine persönlichen Begegnungen und Gespräche mit den „Söhnen des Windes“ und anhand historischer Aufzeichnungen zeigt er sachlich und informativ auf, welche Vorurteile diesen Menschen seit jeher entgegengebracht werden und warum es nie wirklich gelang, diese uns so rätselhafte Völkergruppe sesshaft zu machen. Ihre Lieder drücken oft das Leid und das Unrecht aus, das diese Menschen, am Rande der Gesellschaft lebend, zu ertragen hatten. Auch er plädiert dabei dafür, den Zigeunern mehr Verständnis und Toleranz entgegenzubringen. Höhepunkte des Unrechts an diesen Menschen werden von Heike Krokowski(3) beleuchtet, die in einer ersten ausführlichen Darstellung und Analyse der durch KZ-Haft und Verfolgung bedingten Spätfolgen-Problematik bei den deutschen Sinti und Roma untersucht. Das Buch weist auf der Grundlage von Interviews auf Formen der Traumatisierung und der Erfahrungsverarbeitung bei den Überlebenden hin. Darüber hinaus beleuchtet es den Einfluss der Verfolgungserfahrung auf das Familienleben und auf das Selbstverständnis der nachgeborenen Sinti in der Bundesrepublik.
Die Herkunft dieser in Europa verstreut lebenden Bevölkerung ist immer noch umstritten, obwohl z.B. der Sinti-Stamm seit etwa 600 Jahren in Zentraleuropa, insbesondere in Deutschland seinen traditionellen Lebensraum hat. Die völkerkundliche Wissenschaft befasste sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit dieser Problematik. Es wird wegen Sprachähnlichkeiten vermutet, dass die Roma aus dem nordwest-indischen Raum stammen und dort in mehreren Wellen seit dem 5. Jahrhundert auswanderten. Die größte Flucht wird für das 11. Jahrhundert angenommen, als dieses Gebiet von Muslimen besetzt wurde. Die Wanderungsroute kann sprachwissenschaftlich über Persien, Kleinasien bis in das Gebiet der heutigen Türkei rekonstruiert werden.
Im Mittelalter folgte die Streuung nach Europa, insbesondere auf die iberische Halbinsel, aber dort endete die Freiheit im Jahr 1492, als die Herrschaft der Mauren zerbrach. Mit zahlreichen Gesetzen und willkürlicher Gewaltanwendung wurden Sinti und Roma unterdrückt. Aus England wurden sie 1563 unter Androhung der Todesstrafe vertrieben. In Rumänien wurde für die dort sehr zahlreich angesiedelten „Zigeuner“ 1855 die „Leibeigenschaft“ aufgehoben, während neuere Stellungnahmen die historische Schuld der rumänischen Fürstentümer am Schicksal der Roma und Sinti auf dem Hintergrund der aktuellsten Auseinandersetzungen in Europa zu beleuchten versuchen. (Herausragt dabei die Anti-Roma-Kampagne der italienischen Medien, die auf eine Kollektivschuld aller nach Italien emigrierten Rumänen ausgeweitet wurde.)
In unserem Vortrag geht es uns nicht um größere historische Zusammenhänge, sondern um die zeitlich und räumlich, freilich auch mentalitär bedingte Darstellung von „Zigeunern“ bei einigen Reisenden, die nach Rumänien verschlagen wurden und dort mit dieser Bevölkerung ihre umstandbedingte Erfahrungen machen, die selbstverständlich von den seit längerem in Europa kursierenden Fremdenbildern geprägt wurden. So schrieb Sebastian Münster in seiner im 16. Jahrhundert erfolgreichen „Cosmographie“(4): „Man weiß wohl, daß dieses elende Volk auf der Wanderschaft geboren ist: es hat kein Vaterland, zieht arbeitslos und arbeitsscheu im Land umher, ernährt sich mit Stehlen, lebt religionslos wie die Hunde, obgleich es seine Kinder unter den Christen taufen läßt.“ Münster hat vermutlich gesehen oder davon gehört, dass die Zigeuner herumziehen, nicht arbeiten und nicht in die Kirche gehen. Statt nach den Gründen zu fragen und darauf zu stoßen, dass sie sich nirgends niederlassen, also auch keine festen Berufe ausüben dürfen und von keiner kirchlichen Gemeinde aufgenommen werden, schreibt er dieses Verhalten ihrer Natur oder ihrem völkischen Charakter zu und setzt die Vorurteile in die Welt, dass sie eine angeborene Neigung zum Vagabundieren und zum Stehlen hätten, „arbeitsscheu“ wären und „religionslos“ lebten. Diese althergebrachten stereotypen Vorstellungen geistern merkwürdigerweise noch heute in Europa herum.
Dämonisierung, Kriminalisierung und Stigmatisierung gehen dabei mit dem Vagabundieren Hand in Hand. Dennoch wurde manchmal versucht, zunächst entdämonisierende Tendenzen zu artikulieren, bevor die Romantiker andere Stereotype entwickelten. In der Erzählung „Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter“ (1815) hat Clemens Brentano unter ausgiebiger Benutzung von Gedanken H. M. G. Grellmanns(5) die Bilder der „jungen und der alten Zigeunerin“ gegenübergestellt. Der Erzähler kommt mit seinen Kumpanen des Nachts in einem Gebirgswald an der rumänischen Grenze „zu einer Zigeunerherberge“, die ihnen wie eine „Wohnung des Teufels“ vorkommt. Als sie anklopfen, da „ging die Tür auf, ein schwarzbraunes, zerlumptes, sonst glattes und hübsches Mägdlein, glänzend und schlank wie ein brauner Aal“, empfängt sie und erhält vom Anführer sogleich einen Schmatz“. Später wird das Mädchen „das schöne, unschuldige und geistvolle wilde Naturkind“ genannt. Sie ist ein Kind der Natur und zugleich voller Geist, sie besitzt Schönheit und zugleich Tugend, sie ist aufreizend und zugleich unschuldig, also kein wirkliches Wesen, sondern ein romantisches Idealbild. Die Großmutter ist, wie der Anführer in Erfahrung bringt, „eine alte Zigeunerin, welche außer ihren Privatgeschäften: der Wahrsagerei, Hexerei, Dieberei, Viehdoktorei, auch eine Hehlerin der Contrabandiers macht.“ Und so sieht sie auch aus: „die Großmutter (...) trat sodann zu uns in die Stube. Ihr Schatten sah aus wie der Teufel, der sich über die Leiden der Verdammten bucklich gelacht, und wäre er nicht vor ihr her in die Stube gefallen, um einen ein wenig vorzubereiten, ich hätte geglaubt, der Alp komme, mich zu würgen, als sie eintrat. Sie war von oben und rings herum eine Borste, eine Pelz und eine Quaste und sah darin aus wie der Oberpriester der Stachelschweine.“
Beide Portraits gehören, wie Großmutter und Enkelin, zusammen; das eine ist die Kehrseite des anderen. In ihrer Jugend ist die Zigeunerin „hübsch, schlank, flink und wirkt wie eine Zauberin“, im Alter jedoch ist sie „häßlich, bucklich“, halblahm und wirkt wie eine Hexe „oder des Erzfeinds Großmutter“. Und beide Portraits, das der schönen jungen Zauberin und das der hässlichen alten Hexe, ergeben zusammen das Zigeunerinnenbild der Romantik. Dieses Bild ist ein Produkt von Leseeindrücken und eigenen Phantasien, hat also ursprünglich mit einer Sintezza oder Romani nichts zu tun, wird aber von den Lesern, die die „Zigeunerin“ nur aus solcherart Literatur kennen, auf diese bezogen. Deshalb erscheint oft das „Zigeuner“bild als romantische Reminiszenz weit verbreiteter Stereotypen, u. zw. Als Verkörperung einer poetischen Existenz(6), als Metapher der gefährdeten romantischen Poesie oder des menschlichen Daseins überhaupt.
An eine Darstellungsart, die mit realistischen Details durchsetzt ist, mahnen auch die Texte zweier Rumänien-Reisender, mit denen wir uns im Folgenden etwas ausführlicher auseinandersetzen wollen.
Der erste Text besteht aus den „Reise-Erinnerungen“ einer Schauspielerin namens Minna Wohlgeboren-Wohlbrück, die in Berlin im Jahre 1846 erschienen sind(7). Diese Erinnerungen sind bislang der Reiseforschung über Rumänien nicht bekannt gewesen. Sie wurden von uns in der reichhaltigen Eutiner Bibliothek für Reiseliteratur entdeckt.
Nach einigen nicht sehr erfolgreichen Auftritten in Russland, vor allem in Petersburg, trat die Schauspielerin die mühsame Rückreise über die Rumänischen Fürstentümer Moldau und Walachei sowie Siebenbürgen an. Von zu Hause erreicht sie die Nachricht, sie solle sich möglichst schnell aus der Walachei nach Kronstadt in Siebenbürgen begeben. Obwohl sie gewarnt wurde, dass die Wege „so unfahrbar seien, dass die Briefpost nur durch reitende Boten, oft sogar nur durch Fußgänger befördert werden könne“ (S. 46), entschied sie sich für die Reise und zwar auch deswegen, weil „gerade die zu überwindenden Schwierigkeiten einen Reiz für meinen nach Abentheuern und selbst Gefahren strebenden Sinn“ (S. 46) hatten.
Betrunkenen „Fuhrleuten“, sumpfigen Gebirgsgegenden, schlechten, holprigen Wegen, schlechten Herbergen sowie heulenden Wölfen gesellte sich auf einer weiteren Reise aus der Moldau nach Galizien Finsternis und heftige Regenfälle hinzu: „Von Nässe und Kälte erstarrt, von Hunger ermattet sehnten wir uns von ganzem Herzen nach einer gastlichen Stätte und hätten ein warmes Mahl und ein weiches Bett gern mit Gold aufgewogen. Doch vergebens; wir fuhren und fuhren immer weiter auf’s Geratewohl, ohne Pfad und Ziel.“ (S. 67) Der die Schauspielerin mit einer Pistole in der Hand begleitende Arzt und der ortunkundige, meist betrunkene ungarische Kutscher vergaßen aber bald – ebenso wie die Schauspielerin – „alle Angst, alles Leiden“, da in nicht zu weiter Entfernung „ein helles, großes, flackerndes Licht“ in Sicht war. Der Wald wurde jedoch immer dichter, die Reisenden fürchteten, „von neuem zu verirren“. Sie fingen alle an zu schreien, und der Arzt „feuerte ein Pistol ab“: „Sogleich ertönte ein Schuss als Antwort“. Als sie dem Licht näher kamen, bot sich Ihnen „ein wenn nicht gerade sehr erwünschter, so doch höchst eigenthümlicher und malerischer Anblick dar. Ein hohes, helles Feuer flackerte ziemlich in der Mitte der Lichtung und beleuchtete mit grellen Farben die Scene, die in diesem rothen Lichte gegen das finstere Schwarz des angränzenden Waldes einen scharfen und schreienden Kontrast bildete.“ Die müden Reisenden stellten fest, sie standen vor einem „Zigeuner“lager: „In der Nähe des Feuers und um dasselbe herum bildeten leicht und nachlässig aufgeschlagene Zelte einen Kreis, innerhalb dessen braune, unsauber aussehende Männer, lumpige, wenn auch mitunter hübsche Weiber und halb oder ganz nackte Kinder in buntem Gemisch durch einander lagen. Wir waren“ – berichtet die sich erinnernde Schauspielerin – „auf eine Zigeunerbande gestoßen, und freuten uns dieser Begegnung auch nicht allzu sehr, so waren wir doch froh, nicht in schlimmere und gefährlichere Hände gerathen zu sein.“ (S. 69-70).
Freundlich baten die mit Hilfe denkbar gängiger Stereotype beschriebenen Leute die Reisenden auszusteigen und sich am Feuer zu wärmen. Minna fürchtete sich, jedoch der mit dem Umgang mit derlei Volk unter ungewöhnlichen Umständen gewohnte Arzt „redete mir Muth ein, und so beschlossen wir auszusteigen.“ Vorsichtshalber feuerte der Arzt einen Schuss ab, um eventuell zu Gewalt Neigende abzuschrecken. Später sollte die Schauspielerin erfahren, man habe vor diesen Leuten „eigentliche Gewalttathen fast nie zu fürchten; nur ihre List und Schlauheit beim Stehlen macht sie gefährlich.“ Gastfreundschaft verband sich mit einem am offenen Feuer zubereiteten Mahl aus Kartoffen und etwas Speck sowie mit Gesang und verschiedenen Kunststücken. Eine „alte Zigeunerin“ sagte der Schauspielerin aus der Hand wahr. An die Szene sollte sie sich später oft erinnern. Nicht wahrgesagt wurde ihr dabei, „dass, während sie mit mir sprach, ich um meine Ohrringe kommen sollte. Und doch geschah dies in der That; wie, das ist mir noch heute ein Rätsel.“ (S. 71)
Nach dem Essen musizierten die Gastgeber „mit Pfeifen und Triangel“, es erklang „eine eintönige und sehr unharmonische Musik“; sie „begannen um das Feuer zu tanzen; auch wir mussten, wir mochten wollen oder nicht, ein paar Mal mit springen“. Doch allmählich breitete sich Müdigkeit aus, „die Kinder lagen zerstreut auf dem Boden und auf Stroh, meist schon in tiefem Schlafe“ (S. 71). Allmählich lagen sich alle Zigeuner schlafen. Die müden Gäste jedoch „blieben … wach, bis der Morgen graute“, als sie mit ihrem Karren auf und davon fuhren, „ohne erst unsere Wirthe zu wecken und uns bei ihnen zu bedanken“. Durch das in jener Nacht Geschehene schien eine Verabschiedung auch nicht gerade motiviert gewesen zu sein: „denn außer durch meine Ohrringe hatten sie sich noch durch manches andere weniger Werthvolle, was wir später erst vermissten, für das, was sie uns geboten, sehr reichlich bezahlt gemacht.“ (S. 72)
Das hier dargestellte „Zigeunerlager“ hat allerdings kaum die dämonische Dimension, die der Darstellung von Clemens Brentano als einer „Wohnung des Teufels“ anhaftet.
Überhaupt stellt die reisende Schauspielerin überall in dieser Region die Naturverbundenheit der hier auf dem Lande, in den Wäldern oder in den Bergen Lebenden fest, und was sie von Zigeunern, Rumänen, Deutschen, Ungarn behauptet, will als allgemeiner Charakters verstanden werden: „Wir lernten hier eine Menschenklasse kennen, die, fern und völlig unberührt von der Cultur, im unmittelbarsten und rohesten Naturzustande lebten, die con der Civilisation der ihnen doch ziemlich nahe wohnenden modernen Völker, die von der Geschichte und von den geistigen Interessen, welche die Welt bewegen, keine Vorstellung, ja auch nicht die entfernteste Ahnung hat.“ (S. 122)
Das romantische Requisit – Wald, Finsternis, Irrlichter, musizierende, wahrsagenden, kontaktfreudige dunkle Gestalten, die zwar gastfreundlich, zugleich jedoch schlau-diebisch veranlagt seien und vor denen man sich in Acht nehmen müsse – ist in den Erinnerungen der Schauspielerin Minna Wohlgeboren-Wohlbrück eben so mit Abenteuerlust und Entdeckungsfreude wie mit nicht gerade aufrichtig zu nehmender Bewunderung angeblich zu beneidender Naturverbundenheit eng verflochten. Am Ende gewinnt die abschätzende, kolonial gefärbte Sicht des „Kultur“menschen eindeutig die Oberhand.
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Auch bei unserem nächsten Text haben wir vorwiegend mit stereotypischen Vorstellungen, Bildern und Darstellungen des beschreibenden Ziganismus zu tun, doch die Bemühung um eine möglichst realistische, gegenstandsnahe und -gerechte, um eine aufrichtige, verständnisvolle Schilderung entbehrt liegt deutsch auf der Hand. Es handelt sich um die zwei Bände, die der Bukarester katholische Erzbischof Raymund Netzhammer 1907-13 unter der Überschrift „Aus Rumänien“(8) veröffentlichte, in denen er ein ganzes Kapitel mit der Überschrift: „Die Zigeuner unter meinem Fenster“ einbaute.
Das Interesse für die Zigeuner erweist sich bei dem in Rumänien, in einem Land mit mehreren Völkerschaften amtierenden Erzbischof als eine Dominante seins Umgangs mit den Bewohnern des ihm zunächst fremden, dann immer mehr vertrauten südosteuropäischen Landes. Sein Interesse gilt – in einer Zeit starker nationalistischer Bestrebungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die in zwei blutigen Weltkriegen gipfelten, galt gleichermaßen Rumänen, Ungarn, Deutschen, Italienern, Bulgaren, Lipowanern, Ukrainern, Polen, Juden und Zigeunern. Er selbst leitete als Vertreter des Papstes eine multinationale Kirche, stammte aus Deutschland und war schweizerischer Staatsbürger.
Im Vorwort zum zweiten Band seiner Schrift „Aus Rumänien. Streifzüge durch das Land und seiner Geschichte” (1913) berichtet Raymund Netzhammer über die Erlebnisse in Rumänien mit seiner vielfältigen Natur- und Völkerlandschaft: „Auf den vielen Reisen und Ausflügen durch Rumänien begegnete mir so viel Schönes, Interessantes und Angenehmes, daß es mir eine Freude war, diese Fahrten und die dabei gewonnenen Eindrücke zu skizzieren. [...] Meine Ausflüge in Rumänien haben mir stets Freude und Genuß bereitet.”(9)
Rumänien war für den Schweizer Mönch - wie er sich in der anfangserwähnten Schrift “Aus Rumänien” äußert - „jenes ferne, unbekannte Land”, das er nach einer langen und ermüdenden Reise(10) erreichte. Einem Freund schrieb er aus Bukarest, er befände sich „am anderen Ende Europas”, im „Orient”(11). Das ist keinesfalls Ausdruck einer Enttäuschung oder gar negativen Wahrnehmung, sondern die Feststellung, in einer differenten Welt mit unterschiedlichen Ethnien und differierenden, einander ergänzenden und sich oft überlappenden kulturellen Traditionen und Gepflogenheiten angekommen zu sein. Pater Netzhammer geht von Anfang an offenen Auges durch diese neue Welt und nimmt mit unerschöpflicher Neugier und Entdeckungslust die alteritäre Vielfalt der südosteuropäischen Region wahr. Sein „Tagebuch”(12) legt Zeugnis davon ab.
Von 1905 bis 1924 war Netzhammer Erzbischof in Bukarest. Fast 20 Jahre wirkte Netzhammer in Rumänien und verwirklichte den Rat, den ihm sein Einsiedelner Abt mit auf den Weg gegeben hatte, u. zw. zu versuchen, in seinem Amt auch „ein guter Rumäne”(13) zu sein. In jeder Hinsicht konnte der römisch-katholische Erzbischof in Rumänien den Ruf eines weltoffenen und wachen Geistes genießen, der sich stets Land und Leuten zuwandte.
Sein gewissenhaft geführtes, umfangreiches Tagebuch sowie seine Schriften und Zeitungsbeiträge geben deutlich Kunde von seinem wachen Interesse für Menschen, Landschaften, für Kultur- und Geschichtszeugnisse, denen er seine volle Aufmerksamkeit geschenkt hat. Stets verstand sich Netzhammer nicht als Fremder, sondern als ein sich die Fremde aneignender und die Fremde bereichender Zeitgenosse.
Die Beschäftigung mit der Thematik einer damals in Rumänien zwar bereits 1855 aus der Leibeigenschaft entlassenen, jedoch immer noch verfemten Minderheit, der Zigeuner(14), zeitigte eine erste Frucht: 1903 veröffentlichte Netzhammer den Beitrag „Zigeuner”, der im Organ der schweizerischen katholischen Jünglingsvereine „Die Zukunft” erschien(15).
Es muss von Anfang an hervorgehoben werden, dass Netzhammers Interesse für die Zigeuner nicht der Exotik dieses in Europa lebenden Volkes außereuropäischer Herkunft gilt, sondern seiner gesamten sozialen, ethnischen und kulturellen Lage, eben so wie Netzhammer allen anderen ethnischen Minderheiten seiner Kirche uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkte. Rumänien erwies sich als ein interessantes ethnisch-soziales und geistig-kulturelles Umfeld, wo Mehrheit und Minderheit einander ohne große Auseinandersetzungen vertragen, akzeptieren und ergänzen und somit eine besondere, in vielerlei Hinsicht beispielhafte europäische Landschaft prägten.
Der zuerst erwähnte Beitrag Netzhammers über die Zigeuner war für Jugendliche bestimmt. Ihn hatte ein junger Mann geschrieben. Er verfällt nicht dem zeittypischen Stereotyp verklärender Mythisierung, sondern lässt sich von der orientalisch anmutenden Bukarester Realität zu Beginn des 20. Jahrhunderts regelrecht vereinnahmen: „Zu Anfang meines Aufenthaltes in der rumänischen Hauptstadt fiel mir nichts mehr auf als die lumpigen und verlumpten Zigeuner. Nicht nur in den schmutzigen, vielfach an Asien anmutenden Vorstädten Bukarests konnte man sie treffen, sondern selbst in den besten Straßen der Innenstadt, wo sie sich flink durch die vornehm gekleideten Spaziergänger der rumänischen Aristokratenwelt hidurchzudrücken verstehen.”(16)
Die Zigeunermänner widmen sich als “Lautari” (rum. Spieler und Sänger zugleich) “der edlen Kunst der Musik”, sie reißen “wilde Melodien”, wenn das tanzlustige Volk die Hora (rum. Reigen) dreht. Sie spielen auf Hochzeiten und auf Volksfesten, in Wirtshäusern und Kneipen, auf dem zu Pfingsten veranstalteten Bukarester Jahrmarkt.
In allen Fällen “kann man … eine herrliche Musik hören, die bald zart und lieblich, bald wild und rasend ist, die gewaltig ergreift und hinreißt und wieder in einschmeichelnden Tönen zum Herzen spricht.”
Netzhammer hatte eine besondere Neigung zu Fremdsprachen, er war immer bemüht, turnusmäßig in der Sprache der einen oder anderen nationalen Minderheit zu predigen. Daher rührte auch sein hohes Interesse an der Sprache der Zigeuner, der er aufmerksam lauschte: “Hört man den Zigeunern zu, so versteht man von ihrer Sprache auch kein Wort. […] Unter sich sprechen diese Leute eine nur ihnen verständliche Sprache, das Zigeunerische, lernen aber mit Leichtigkeit die Sprache des Landes, in welchem sie sich herumtreiben.”(17)
Netzhammer bezeichnet die Geschichte dieses Volkes als “traurig”, da sie lange keine bürgerlichen Rechte genossen und verfolgt wurden. Als sie feste Landsitze bekamen, gerieten sie in ein Dilemma, da “das Zigeunervolk […] durch und durch ein Wandervolk /ist/.” Deswegen sei ihre Wohnung “das Zelt” oder ein “Wagen mit einem oder zwei Pferden […], der als Zelt, als Küche und Wohnung dient.”(18)
Schließlich geht Netzhammer einen heiklen Aspekt an und stellt noch einmal seine realistische Schilderung dieses Volkes unter Beweis: Man werfe sehr oft “den Zigeunern diebischen Sinn, Betrug und Erpressung” vor. Dies erkläre den Umstand, dass sie “verhaßt und allenthalben gefürchtet sind”. Dennoch hatte er weder die Gelegenheit, noch eher “das Unglück”, sie “in dieser Weise” kennen zu lernen. Zum Schluss seines Beitrags zitiert der Verfasser die “herrliche Schilderung, welche [der Arzt, Politiker und Dichter] F.[riedrich] W.[ilhelm] Weber [1813-1894](19) von ihrer Ankunft auf dem Bauernhof” entworfen habe(20).
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Dem Bild des „landfahrenden” Volkes begegnet der Erzbischof recht oft auf seinen Fahrten durch manche Gebiete Rumäniens, wie er es oft in seinem umfangreichen „Tagebuch“ schildert. Er ist nun in der Lage, diese Menschentypen direkt, als wirkliche Kreaturen kennen zu lernen und dadurch die ihm bekannten literarischen Klischees zurechtrücken zu helfen. Stets versucht er eine realitätsadäquate, nie einseitige, idyllisch-exotische, auf alle Fälle keineswegs rassistische Schilderung des Erlebten darzubieten, in der die angenehmen Aspekte, Eigenschaften und Gepflogenheiten mit den nachteiligen einhergehen. Netzhammer schildert keine exotischen Bilder von ‚Zigeunern’”, die „lachen, singen oder weinen, sich prügeln oder sich umarmen und die Engel oder Hexen, Clowns oder Verbrecher darstellen”, sondern – um weiterhin mit Wilhelm Solms zu sprechen – Bilder von „normalen Menschen”.(21) Die “Zigeuner” – ebenso wie die Juden – waren für viele Zeitgenossen von Netzhammer gängige Projektionsfiguren für das “Andere” oder das unverstandene “Fremde” einer Gesellschaft. Auch für den Erzbischof gilt weitgehend diese Sichtweise, doch er entgeht immer der Gefahr, die einzelnen Gestalten oder Gruppen von Zigeunern zugeschriebenen Merkmale zu typischen Eigenschaften ihres ganzen Volkes zu stilisieren. Netzhammers Aufzeichnungen beruhen auf persönlichen Wahrnehmungen, er vermittelt Bilder von der realen Lebensweise dieses Volkes und wirkt dadurch schriftlichen und literarischen Quellen entgegen, die tradierte, meist dämonisierende Zigeunerbilder verbreiteten.
Rumänien blickt auf eine lange Geschichte als Gebiet der Begegnung mehrerer Völkerschaften. Noch in der Antike zeigte das „alte Skythien ... genau wie die heutige Dobrudscha ein Mischmasch von Völkerschaften, damals haben sich einheimische Stämme gemischt mit Griechen und Römern, und heute Türken und Tataren, Lipowaner und Zigeuner, Bulgaren und Rumänen, Italiener und Schwaben. Auch die neueste Menschheitsgeschichte wirft Völkersplitter in der Welt herum!“(22)
Bereits in Ungarn erweckt die östlichere Landschaft während der nächtlichen Zugfahrt in Richtung Rumänien Bilder früherer Lektüren, die im Traum auftauchen: die „leidenschaftlichen Weisen zerlumpter Zigeuner“(23) dürfen dabei freilich nicht fehlen. Realiter hört Pater Netzhammer im rumänischen Râmnicu Vâlcea „eine Zigeunerbande“ (S. 53) spielen, im Moldautal wird „neben einer höchst einfachen, in den Erdboden gegrabenen Zigeunerschmiede“(24) eine Rast eingelegt, um die Pferde ruhen zu lassen (S. 76). In der bereits erwähnten Dobrudscha, dem Gebiet zwischen dem Schwarzen Meer und der Donau, begegnet er während eines „Ausflug(s) in das Pompeji der Dobrogea“ unmittelbar neben den Überresten einer antiken Schutzwall des Kaisers Trajan einem „Zigeunerlager“, das er fotografiert und in seinem Band reproduzieren lässt. (S. 82) Ebenfalls in der Dobrudscha sieht er auf der Landstraße „eine wenig angenehme Reisebegleitung“, eine „lange Zigeunerkarawane, welche sich für Landarbeiten in die Nähe von Mangalia verdingt hatte und nun auf dem Wege zum neuen Arbeitsfelde war. Ich hatte auch schon Zigeuner gesehen und einmal sogar bei Medgidia einem größeren Lager einen längeren Besuch abgestattet, aber so schmutzig, verlumpt und armselig wie diese waren jene noch lange nicht“ (S. 227).
Die unterschiedlichen sozialen Befindlichkeiten entgehen Netzhammers scharfem Blick nicht. Dass die Zigeuner keinesfalls nur musizieren oder faulenzen, wie die gängigen Vorstellungen besagen, sondern auch hart arbeiten, entnehmen wir folgender späteren Eintragung: „Da und dort wurde in dem jung aufgeschossenen Mais gearbeitet, und auf einer ausgedehnten Länderei war eine fünfzig- bis sechzigköpfige Zigeunerbande, deren gedeckte Wagen in der Nähe standen, ebenfalls im Mais beschäftigt.“ (S. 269).
Armut wird auch von Netzhammer mit Zigeunern assoziiert: Als er am Dorf Camena vorbeifährt, meint er, dass das „prächtig schön zwischen Wald und Hügel“ gelegene Dorf „nach Anlage und Bauart der Hütten den Eindruck einer Zigeunerniederlassung machen könnte“ (S. 384). In Bukarest sieht er Zigeunerinnen, die im Frühjahr am Bau des Staatsarchivs arbeiteten, und hebt das Merkwürdige an diesem Volk hervor: „Die Zigeunerinnen mischten hurtig Sand und Kalk und trugen im Wettlauf mit den Ziegelträgern den Mörtel die Baugerüste hinan. Wirklich ein merkwürdiges Völklein, diese Zigeuner. Im Herbste verkriechen sie sich wie die Dachse in ihre Erdlöcher und mit dem ersten Drosselschlag erscheinen sie wieder in unzähligen Scharen auf der Bildfläche als die zuverlässigsten Frühlingsboten.“ (S. 409)
Der Erzbischof hält einige von den vielen von ihm gesehenen Bildern mit Hilfe der fotografischen Technik fest, die er im „Tagebuch“ sowie in seinen Bänden „Aus Rumänien“ einfügte.
Im zweiten Band der Schrift „Aus Rumänien“ finden sich ebenfalls kurze, tagebuchartige Belege für Zigeuner-Begegnungen des Erzbischofs: Vor dem Kloster Govora im Olttal sieht der Reisende inmitten der herrlichen Natur „drei halberwachsene Zigeunermädchen“ und „zwei kleine Zigeunerbuben“; „sie jagten dem Wagen nach und bettelten ein Almosen. Ich ließ sofort anhalten und wollte diese Kinder der Natur im Bilde mitnehmen.“ Beim Anblick des hervorgeholten Photoapparates erschreckten die Kinder und versteckten sich; es bedurfte langer Überzeugungsarbeit, bis die Kinder mit ihren Eltern zurückkamen: „Zitternd faßten sie sich bei den Händen und erwarteten mit Angst und Bangen den entscheidenden Augenblick, immer fürchtend, das schwarze Kästchen könnte sich schließlich doch als eine Mordwaffe entpuppen. Als ich aber nach verrichteter Tat das geheimnisvolle Instrument zusammenklappte und der Herr Pfarrer den klingenden Lohn austeilte, da heiterten sich die angstumwölkten Gesichter zu hellstem Sonnenscheine auf. Wir stiegen ein, um dem munteren Betelvolk rasch zu entfliehen. Die Mädchen blieben tanzend zurück; die Buben aber sprangen dem Wagen nach, bis sie uns noch eine zweite Löhnung abgerungen hatten.“ (S. 28) Auf der Landstraße nach Vălenii de Munte tauchen „drei Zigeunerkarren“ auf: „Wie Katzen sprangen flugs die lustigen Zigeunerkinder von den gemächlich dahintrottenden Gefährten und setzten uns nach. Sie lachten und schrieen, schlugen Räder und Purzelbäume, tanzten und klatschten in die Hände. Als sie alle nach ziemlich langer Vorstellung den gewünschten Obolus erhalten hatten, setzten sich einige an den Straßenrand, und ein Grüppchen tanzte vergnügt auf der Straße weiter, bis sie die Karren erreicht hatten. Ich liebe sie, diese Naturkinder.-“ (S. 269f.)
Das sind alles Begegnungen und Erlebnisse bis zum Jahre 1912. Parallel dazu schildert Raymund Netzhammer Ähnliches in seinem „Tagebuch“. So etwa wurde am 4. Mai 1918 der Erzbischof in Constanţa von Major Bletzinger mit einem „große(n) Essen“ begrüßt, „bei welchem sogar die Zigeunermusik nicht fehlte“(25). In Cataloi in der Dobrudscha wurden – wie die Tagebucheintragung vom 10. Mai 1918 belegt – antike archäologische Funde entdeckt, in deren Nähe eine Zigeunerniederlassung zu sehen war. Anteilnahme, Bedauern, Anziehung mischen sich mit Entsetzen und Abstoßung: „Was dieses Zigeunerlager für ein Anblick ist! Es steht Hütte an Hütte; keine in Reih und Glied, sondern alle kunterbunt durcheinander. Sie sind halb in die Erde eingegraben und einige Sparren, die mit Reisig, Schilf und Erde bedeckt sind, bilden ihr Dach. Überall sieht man ekelhaft schmutzige Weiber; sie kauern vor den Hütten um das Feuer herum, oder waschen ihre Fetzen oder sitzen nichtstuend und rauchend, plaudernd und kichernd in Gruppen zusammen. Männer erblickt man wenige; die man sieht, sind sehnige und stämmige Menschen. Kinder gibt es eine Menge; sie balgen und zanken sich oder steigen an den Hütten und auf den Karren herum. Bissige Hunde bellen und heulen. Da steht ein mageres Pferd vor einigen Maisstengeln und dort liegt ein Schwein an einer Kette. Alles sieht schwarz aus, und über dem ausgedehnten Zigeunerdorf liegt ein schwerer Dunst und Rauch. In dieser Gesellschaft, die uns und unseren Wagen dicht umdrängte, kam es uns schließlich recht unheimlich vor, und wir waren froh, bald weiter zu kommen.“ (S. 816f.)
Wie so oft während seiner Besuche stellt der Erzbischof immer Vergleiche an – so auch hier zwischen der Niederlassung der Zigeuner und jener anderer Mitbewohner der Region an: „Einen angenehmen Gegensatz zum Zigeunerleben bildete das Leben und Treiben, das wir nach einer einstündigen Fahrt im Dorf Slava Cerchesă trafen. Das langgestreckte Dorf liegt in einem schönen Engtal. Es war dort Feiertag. Aufgeputzte Mädchen gingen auf der Dorfstraße spazieren, vor zwei Schenken ergötzte sich die Jugend beim Tanze der Hora, und vor den schmucken Häuschen saßen die Weiber bei stiller Unterhaltung. – Heimelig und gemütlich war es dann abends im ganz deutschen Dorfe Ciucurova, wo wir im gastlichen Haus des Herrn Ulbrich freundlichste Aufnahme fanden. Er ist vor dem Kriege wohl der reichste Bauer der Gegend gewesen.“ (S. 817)
In der ferneren Umgebung von Bukarest meidet er während einer Fahrt, auf der er im Oktober 1918 den Generalfeldmarschall von Mackensen begleitete, „die Dörfer Grădiştea, Gagul und andere Weiler mit Zigeuner- oder Bulgarenbevölkerung“ nicht. (S. 842) Im Juli 1920 fuhr der Erzbischof zu seiner Sommerresidenz im katholischen Dorf Popeşti bei Bukarest und sah arbeitende Zigeuner auf den Feldern: „Die Bauern waren mit der Ernte beschäftigt und der Großgrundbesitzer hatte auf dem freien Felde eine Dreschmaschine im Betrieb, um welche viel Zigeunervolk beschäftigt war und neben welcher sich hohe Strohhaufen aufzutürmen begannen.“ (S. 924).
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Nach all diesen bezeichnenden Stellen, die auf Lebensweise, Charakter und Treiben der im Sinne der Zeit als „Zigeuner“ bezeichneten Menschen, kommen wir nun auf das Kapitel 13 des zweiten, 1913 erschienenen Bandes der Schrift „Aus Rumänien“ zu sprechen. Auf 23 Seiten (219-242) baute Raymund Netzhammer eine regelrechte Novelle ein, die durchaus literarische Qualität besitzt. Abgeschlossen wurden die Aufzeichnungen am 15. Dezember 1911. (S. 242)
Vom Anfang dieses Abschnittes an erweckt der Verfasser die Aufmerksamkeit der Leser durch einen scheinbar für ihn bedeutenden Szenenwechsel: Der Betrachter schaute oft vom Fenster der erzbischöflichen Bukarester Residenz auf das Grün eines auf der anderen Straßenseite gelegenen Platzes, um sein „müdes Auge“ ausruhen zu lassen und sich „an dem vergnügten Springen und Spielen der braven Kinder“ (S. 219) zu erfreuen. Doch im Frühjahr 1911 musste er feststellen, dass er von nun an anstelle des gewohnten Bildes vom Alltag der unter bescheidenen Verhältnissen lebenden kinderreichen Familie eine Baustelle zu sehen bekam. Das hieß, „daß das schöne Idyll der Wiese der Prosa eines nüchternen Gebäudes“ weichen musste. Doch bald entsteht neue Hoffnung, und zwar „die erfreuliche Aussicht, daß nun die handlangenden Zigeuner für einige Monate vom Platze Besitz ergreifen und mir aus der Nähe das Beobachten ihres Lebens und Treibens gestatten würden.“ (220) Diese kamen auch, und von nun an hat der Erzbischof die einmalige Gelegenheit, dieses Volk nicht nur in kurzen Auftritten, wie sie von anderen Autoren kurz, meist schablonenhaft wahrgenommen worden waren, sondern über eine doch recht lange Zeit hindurch zu beobachten und somit besser kennen zu lernen.
Symbolträchtig wird der zugvögelartige Auftritt der Zigeuner registriert. Suggeriert wird dabei das rastlose, nomadenhafte Ortsungebundenensein des sich frei Bewegenden: „Als die Tage mit Frühlingsahnungen und linden Lüften über Stadt und Land dahingegangen waren, erschienen Zugvögeln gleich die ersten Vorposten auf der Bildfläche“: „ein altes, runzeliges Zigeunerweib“, ein Mann, „eine jüngere Zigeunerin mit schmutzigem Flechtengesicht“. Zeichen der Sesshaftigkeit machen sich auch sichtbar: „eine aus einem Baumstamm gehöhlte Waschmulde“, eine Feuerstätte, wo Maisbrei gekocht wurde: „Es waren dies die sicheren Anzeichen der endgültigen häuslichen Niederlassung auf dem Baugrunde.“ (220) Dass dies doch nur eine zeitweilige Niederlassung war, darauf deutet der Hinweis, dass das sich Einrichten auf einem Baugrund geschah, der dann der Dauerniederlassung des Gebäudeeigentümers überlassen werden sollte. Ein „halbgewachsenes Mädchen“ richtet die „Ruhestätte“ der alten Dame ein, „ein schöner stämmiger Bursch“ und „ein bleicher schwachbärtiger Mann“ nähern sich und spielen der Alten „Matrone“ auf der Geige und auf der Mandoline. (221) „Andere Männer und Weiber gesellen sich dazu, und so ist bald eine bunte Gesellschaft beisammen, die vergnügt raucht und kocht, plaudert und lacht.“ (221)
Ein unerwarteter Kälteeinbruch bringt den neuen Grundbewohnern große Schwierigkeiten – die Behausung ist dürftig, sie helfen sich so gut sie können: sie zogen sich warm an, umwickelten ihre Füße mit Lappen und steckten diese „in verlöcherte, irgendwo aufgelesene Schuhe“, schichten Ziegel auf und errichten Feuerherde, deren Flammen „ein geisterhaftes Hochrot und dann sogleich wieder ein grelles, blasswirkendes Weiß“ „auf die ausdrucksvollen Gesichter dieser Naturkinder“ warfen (221). Dabei war das Besorgen des Brennholzes alles andere als einfach, denn Grünholz erzeugte dabei einen schwer erträglichen dicken Rauch.
Der Frühling zeigt sich bald von der angenehmeren Seite, „farbige und duftende Gaben“ machen sich auch bei den jungen Mädchen und Müttern bemerkbar, die sich mit Frühlingsblumen schmückten. Doch nach den Erdarbeiten kamen endlich auch die Arbeitstage dran, so dass nach dem christlichen Ritual der „Einsegnung des Grundsteines“ die schwere Arbeit begann. Nach etwa zehn Tagen jedoch war den Leuten durch Mangel an Baumaterial dennoch ein „untätiges Schlaraffenland“ beschieden, doch das angenehme, dafür aber „unbezahlte, verdienstlose Nichtstun“ bewirkte, dass manche sich nach Arbeit auf anderen Bauplätzen umschauten.
Der Beobachter hält mit Staunen fest, dass diese hier zeitweilig Hausierenden eigentlich mit ihrer fern liegenden Heimatgegend oder mit anderen Menschen Kontakte pflegten. Oft brachte ihnen der Briefträger Post. Köstliche Szenen spielen sich vor den Augen des Erzbischofs ab: Die nicht lesekundigen Zigeunerinnen bitten den Briefträger oder sonstige Vorbeigehende darum, dass man ihnen den Inhalt des Briefes wiedergibt. Einmal war eine Schar von auf der Baustelle spielenden Gymnasiasten angehalten worden, die Botschaft zu entziffern, was sowohl Lesenden als auch Zuhörenden oft Anlass zum Kichern und zu schallendem Gelächter bot. Sie wurden dann gebeten, auch die Antwort zu schreiben auf einer Postkarte, die ein Zigeunermädchen auf Geheiß und mit Geld von der älteren Zigeunerin geholt hatte. Dabei lauschten die Kinder „dem Diktat der geschwätzigen Zigeunerinnen“. (226f.)
Auch die Besuche insbesondere zu Feiertagen, vor allem zu Ostern zeigen ein intensives gemeinschaftliches Leben. Man wünschte sich nicht nur Gesundheit und Wohlergehen, sondern man brachte auch „Essgeschenke“ mit: bunt gefärbte Eier, süßes Brot und sonstige Gaben. Dann saß und aß man zusammen, man griff zur herumgereichten Flasche, man erzählte und plauderte, während Musikanten heiße Rhythmen anstimmten. Dabei beobachtet Netzhammer „acht oder zehn Frauen und Mädchen“, die „ein gleiches Merkmal trugen, nämlich zwei blaue tätowierte Punkte im Gesichte“, das er für ein „Stammeszeichen“ hält (228).
Diese Beobachtungen veranlassen den Betrachter der Szenerie unter seinem Fenster zu verallgemeinernden Erkenntnissen und Schlussfolgerungen. Denn dadurch stellt er fest, „wie sehr der Familiensinn und das Gefühl der Zusammengehörigkeit bei den Zigeunern entwickelt ist“. (227)
Die breite Skala der Beschäftigungen und Arbeiten, die die Zigeuner zu verrichten haben, wird vom Erzbischof mit großer Akribie, zugleich auch mit viel Einfühlungsvermögen und verständnisvoller Sympathie beschrieben. Die Arbeit auf der Baustelle ist hart, beginnt ganz früh und dauert bis spät an, Anfang und Ende der Arbeitszeit wird mit einer „Toaca (Klopfbrett), wie man sie vor den rumänischen Dorf- und Klosterkirchen sieht“. Beim Beschreiben solcher interkulturell anmutenden Erscheinungen sieht sich der deutschsprachige Erzbischof genötigt, auch Einmalbildungen zustande zu bringen, um den besonderen Realitäten beizukommen – so wenn er die eingenartigen rhythmischen Schläge auf das Holzbrett als ein „Toakenstück“ bezeichnet, was ein Kompositum darstellt, das aus dem rumänischen Wort „Toaca“ (Klopfbrett) und dem deutschen Wort „Stück“ besteht.
„Im allgemeinen wurde flink und fleißig gearbeitet“ – stellt der Würdenträger beeindruckt fest (229). Die „jungen kräftigen Burschen“ tragen Ziegeln zu den Maurern, am schwersten hat es aber der Mörtelbereiter, der „Wasser, Kalk und Sand zu einem gleichmäßigen Gemisch“ zusammenzurühren hatte (230). Die „barfüßigen Frauen und Mädchen“ wurden „förmlich die Gerüste herauf- und heruntergehetzt. Und ihre Arbeit war keine leichte und doppelt ermüdend, wenn die heiße Sommersonne auf sie herniederbrannte“ (230). In den Pausen bevorzugten alle das Rauchen einer Zigarette, die sie selbst ansteckten: „Diesem wichtigsten Geschäfte ist der erste freie Augenblick gewidmet“, wobei schlechter, mit „sorgsam von der Straße aufgehobenen Zigarettenstummeln“ aufgebesserter Tabak verwendet wurde. Der Erzbischof musste besorgt feststellen dass auch viele Kinder diesem Laster verfielen: Er sah ein „sechs- oder siebenjähriges Mädchen“, das seiner Mutter die Zigarette entwendete und „an dem duftenden Kraut“ zog, „bis eine energische Handbewegung der Mutter dem genußvollen Spiele ein trauriges Ende bereitete.“ (323)
Jede arbeitsfreie Zeit wurde für Hauarbeiten ausgenutzt: „zum Flicken der Kleider, zum Ausbessern der gesteppten Schlafdecken, zum Sticken der Hemden und zum Stillen der Kinder, alles Beschäftigungen, welche den gleichzeitigen Genuß des Tabakrauchens nicht ausschließen.“ Zugleich beobachtet der Autor, wie die Zigeuner ihren Feuerherd einrichten, wie sie den Maibrei und das sonstige meist vegetarische Essen zubereiten. „Frisches Fleisch“, merkt er an, „ließ sich bei den armen Leuten nur zu den höchsten Feiertagen sehen“, häufiger aßen sie Fische oder gesottenes Eingeweide. „Den erquickenden Trunk spendete der viel benutzte Brunnen. Einfach war die Nahrung, aber gesund und genügend.“ (233)
Nach den schweren Arbeitstagen kommt die verdiente sonntägliche Ruhe, die vormittags vorwiegend der „gründlichen körperlichen Sonntagswäsche“ gewidmet ist. Nachdem sich die Männer gewaschen und sich das Haar mit Öl und Fett gut eingerieben haben, gehen sie spazieren, so dass die Frauen, „die schönere Hälfte ungestört bei den Hausgeschäften und bei der Besorgung der Toilette“ gelassen werden. Nach dem Besuch von Kneipen und fremden Bauplätzen gab es nicht selten abends „Weibertränen, lautes Gezänke und handgreiflichen Streit“ (234), dem manchmal durch das Eingreifen der Polizei ein Ende bereitet wird. Nur einmal wird der Erzbischof Augenzeuge einer „schrecklichen Szene“: ein „handfester Bursche“ drangsaliert dermaßen brutal ein Mädchen, dass die zahlreichen Zuschauer eingreifen und den Polizeimann holen mussten. Netzhammer hält den Tatbestand fest, tendiert in keiner Weise, hier etwa die später von Hermann Hesse („Narziß und Goldmund“) reproduzierte „bürgerliche Doppelmoral“(26) zu bemühen (236 f.).
Die Welt der Zigeuner wäre unvollständig, wenn es dabei nicht auch um Geheimnis umwitterte Handlungen ginge. Der aufmerksame Beobachter sieht, wie sich die jüngere Zigeunerin um ihre kranke Mutter kümmert: „Meine Sympathie hatte sie aber deshalb, weil sie der alten wunderlichen Zigeunerin während deren Krankheit Pflege und Dienstleistung nicht versagte und zwar auch dann nicht, wenn die Alte sie anschrie oder ihr gar Schläge erteilte.“ (237) Sie rief auch eine Wunderheilerin herbei, die „kräftige Kräuter“ absot und den Trunk der Kranken gab. Diese wehrte sich, „doch die kundige Aeskulapstochter ließ sich nicht abschrecken, nahm das Protestieren und Schimpfen ohne Nervenzucken entgegen, und die Alte mußte doch alles bis auf den letzten Tropfen verschlucken.“ Infolge dieser Behandlung konnte die Alte wieder auf die Beine gestellt werden. (237f.)
„Leben und Stimmung in die Leute“ brachte eine zweite weibliche Gestalt, die auch als hervorragende Erzählerin auftrat. Die jungen und älteren Frauen hören ihr dermaßen intensiv zu, dass sie ihre Arbeit vergessen und dadurch die Maurer verärgern: „Offenbar erzählte die ernst und wichtig tuende Frau in lebhaft anziehender Form und fesselte deshalb ihre Zuhörer auch über die Zeit ihrer kleinen Ruhepause hinaus.“ Mit Maiskörner bildet sie unter „zauberischem Gemurmel“ „Konstellationen“, aus denen heraus „das rauchende Pfeifenweibchen den Umstehenden die Zukunft“ verkündete (238f.) Durch ein sachkundiges Lesen der Handfurchen wird die Prophezeiung dieser Frauengestalt ergänzt, die mit der Gestalt der von Georges de La Tour(27) dargestellten, in adligen Kreisen auftretenden und adlig gekleideten Wahrsagerin auffallend kontrastiert. (240) In Netzhammers wirklichkeitsgetreu geschilderten Frauenbildern ist keine Spur von dem gegenwärtig oft dominierenden „Bild von der armen ‚Zigeunerin’, die von ihrem Mann schrecklich unterdrückt ist“ zu finden. In Netzhammers gesamter Haltung mischt sich keinerlei stereotypischer und geschlechterspezifischer Antiziganismus.(28)
Die das Kapitel 13 von Band II der Schrift „Aus Rumänien“ abschließenden Seiten sind eine beeindruckende Bekundung der Sympathie und der Wertschätzung des beobachteten Volkes durch den Bukarester römisch-katholischen Erzbischof Netzhammer, der in einer Zeit nationalistischer Aufwiegelungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und nach dem Ersten Weltkrieg auch mit diesen Aufzeichnungen sein Bekenntnis zur Anerkennung und Wertschätzung der verschiedenen zusammenlebenden Völkerschaften in Südosteuropa und der von ihnen geschaffenen und getragenen multikulturellen Landschaft kund tat.
Es imponierte ihm vor allem die Stärke des Zusammengehörigkeitsgefühls der Zigeunerfamilien, insbesondere der Fürsorge der Mütter für ihre Kinder, von denen sie sich ungern trennen, um den Pflichten auf der Baustelle nachzukommen. Dies veranlasst den Erzbischof, eine echte Hymne auf die Zigeunermutter anzustimmen: „Unbeschreibliche Zartheit und Innigkeit schlossen oft die Bilder in sich, welche die Mütter mit ihren Kindern boten. Nie in meinem Leben sah ich größeres Mutterglück und hellere Mutterfreuden als bei den Zigeunerinnen unter meinem Fenster.“
Mit einem „schönbeschriebenen Schlußblatt“ und mit einem „stimmungsvollen, von Leben und Handlung trotzenden Gemälde“ schloss sich „das poesievolle Zigeunerbuch unter meinem Fenster endgültig“: Voller Begeisterung nehmen die Arbeiter auf der Baustelle die reichlichen Geschenke des Bauherrn entgegen: Unter erschallenden Jubelrufen und bei hinreißender musikalischer Darbietung reichen sich alle die Hände und tanzen „spät am Abend ihre rhythmische, elegante Hora. Mit einer schönern Schlußvignette hätte das Buch dieser ungekünstelten Poesie nicht enden können!“ (241f.)
Doch kurz vorher drückte der wissensdurstige Erzbischof, der sich kaum eine Gelegenheit nehmen ließ, Leben, Alltag und Kultur der vielen ihm anvertrauten Völkerschaften oder der anderen in Rumänien lebenden Mehrheits- oder Minderheitenangehörigen unmittelbar kennen zu lernen, seine Freude darüber aus, dass er das authentische Treiben auf dieser echten Lebensbühne beobachten konnte. Dabei stellt der Leser deutlich fest, dass er ein starkes inniges Verhältnis zu den Beobachteten entwickelt hatte, dass er dabei innerlich reicher geworden ist: „Frühlingswochen und Sommermonate waren dahingeflogen, und ich war nicht müde geworden vom Hinausschauen auf das bewegte und bunte Leben und Treiben der Zigeuner. Ohne ihre Namen zu wissen, kannte ich sie alle, und ohne je ein einziges Wort mit ihnen gesprochen zu haben, standen sie mir nahe und waren mir lieb. Viele Stunden stand ich verborgen am Fenster; diese Zeit betrachte ich aber keineswegs als verloren, denn ich las wie in einem poetischen Buche und hatte daneben den reizenden Schmuck lebenswarmer, naturechter und farbenprächtiger Bilder. Jetzt erst verstand ich einen Grigorescu(29) und alle die Maler, die sich Zigeunerlager und Zigeunertypen zum Vorwurf genommen, und ich begriff Dichter wie Lenau, welche sich in die melancholische Volksseele dieser freiesten Menschen verlieren konnten, und endlich einen Liszt und so viele andere Musiker, welche mit Begeisterung für die leidenschaftliche, zarte und schmeichelnde, wilde und rasende Zigeunermusik schwärmten.“ (241)
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Bekanntlich werden traditionelle Typisierungen des „Zigeuners“ bzw. der „Zigeunerin“ in der Literatur und anderen Künsten erst seit kurzem, wenn auch in noch ungenügendem Maße, hinterfragt. Darstellungen wie jene der schönen Esmeralda (Victor Hugo, „Der Glöckner von Notre-Dame“, 1831) oder der rassigen Carmen (Prosper Mérimée, 1847), der bunten herumfahrenden Zigeunerwagen, der wilden Zigeunermusik, der unheimlichen Wahrsagerin, des Diebs oder des arbeitsscheuen Vagabunden (Alexander Sergejewitsch Puschkins „Цыганы“, dt. Die Zigeuner, 1824) entsprachen dem damaligen Erwartungshorizont und entsprangen konservativen, verfestigten Vorstellungen. Meist wurden die Zigeuner-Gestalten auf ihre Funktion als Spannung erhöhende und die Handlung vorantreibende Instanz reduziert, sie gehören seit dem 18. Jahrhundert zum Figurenbestand der populären Literatur ( Sagen, Märchen, Balladen, Schauerromane und Abenteuergeschichten). Neben den klassischen Behandlungen des Zigeunerstoffes diente der vagabundierende Fremde als bloße Randfigur einer exotischen Kulisse.(30)
Mit seinen vielfältigen Aufzeichnungen über die Zigeuner, die er in deutscher Sprache verfasste und der deutschen interessierten Öffentlichkeit zugänglich machte, trug Erzbischof Raymund Netzhammer wesentlich dazu bei, dass einerseits die pluriethnische, multikulturell geprägte Landschaft der südosteuropäischen Region den Mitteleuropäern näher gebracht und verständlicher gemacht wurde und andererseits dass die romantischen Stereotypen vom Leben und Lebenseinstellung der Zigeuner durch realistische, lebensnahe, authentische plein-air-Beobachtungen ergänzt und zurechtgerückt wurden. Netzhammer hängt nicht gängigen Klischees vom Zigeuner nach, wie sie in den oft kolonial infizierten oder zumindest oberflächlichen, aus der literarischen Tradition herrührenden Zigeunerdarstellungen seiner Zeit Gang und Gäbe waren.(31) Seine Neugier hat einen wissenschaftlichen Impetus, der für ihn generell charakteristisch war, sie beruht auf echtem Interesse und aufrichtiger Sympathie.
In der Literatur des Westens stellen Forscher die immer noch starke Tendenz dazu, „Bilder von ‚Zigeunern’ /zu/ verbreite(n), die lachen, singen oder weinen, sich prügeln oder sich umarmen und die Engel oder Hexen, Clowns oder Verbrecher darstellen, nur ja keine normalen Menschen“(32), obwohl die Sinti und Roma im Westen Europas größtenteils normal sesshaft geworden sind. Wenn aber Netzhammer bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bilder von Zigeunern präsentiert, die in den vielfältigsten Umständen ihres authentischen Lebens festgehalten wurden, so kann der Leser oder Forscher leicht feststellen, dass sie jeglicher Exotik entbehren, weil sie aus der Beobachtung realer Gestalten und realer Geschehnisse herrühren. Von Realitätsnähe zeugen auch Netzhammers photographischen Aufnahmen, die in seinen Schriften oft einen bedeutenden Platz einnehmen – so auch im zuletzt besprochenen Kapitel 13 aus der Schrift „Aus Rumänien”, in dem ein „Blick auf den Bauplatz” (S. 219), Szenen wie „Beim Feuer” und „Junges Volk” (225), „Bei der Arbeit” (229), „Lautari” (Musikanten; S. 235), „Wahrsagerin” (239) und „Feierabend” (242) die Authentizität der aufgezeichneten Beobachtungen bezeugen.
Netzhammers größtenteils jeglicher Romantik bare Schilderung der damaligen gesellschaftlichen, sozial-ökonomischen und kulturellen Situation der Zigeuner in verschiedenen Gebieten Rumäniens bildet eine tragfähige Grundlage für zeitgerechte Rekonstruktionen von Leben und Mentalität sowie der gesamten Problematik dieser Bevölkerung im multikulturell geprägten südöstlichen Teil Europas.
Benützte und weiterführende Literatur:
Ausführliche Angaben zu ausgewählter deutschsprachiger Literatur zu Sinti und Roma: Europäisches Migrationszentrum, http://www.emz-berlin.de/projekte/pj06_5.htm.
Anmerkungen:
2.3. Minoritäre Sprachen und Kulturen
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-02