Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Februar 2010 |
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Sektion 2.4. | Jiddisch auf der internationalen Bühne im 21. Jahrhundert, auf dem Gebiet der Erziehung, Bildung und Kunst Sektionsleiterin | Section Chair: Astrid Starck-Adler (Basel) |
Jiddisches Theater in Frankreich heute:
Charlotte Messers Troïm-teater
Astrid Starck-Adler (Universität Basel) [BIO]
Email: astrid.starck@uha.fr
Über das jiddische gegenwärtige Theater in Paris gibt es noch keine Studie, ist doch das Troïm-teater von Charlotte Messer kaum ein paar Jahre alt. Über das jiddische Theater in Frankreich hingegen wurden mehrere Untersuchungen unternommen. Eine kürzere, interessante, The World of Yiddish Theater in France, wurde von Pnina Rosenberg verfasst. Eine längere, wohl dokumentierte Studie wird von Cyril Robinson dem frühen und späteren jiddischen Theater in Paris gewidmet. Er hat nicht nur das Pariser Theaterarchiv benutzt, sondern auch Interviews geführt mit Regisseuren und Schauspielern. Auf Internet ist von ihm folgendes zu finden: eine Studie über Gérard Frydman und dem jiddischen Theater von 1944 bis 1983.(1) Die Arbeit ist aber nicht abgeschlossen, denn es werden weiter Dokumente gesucht, z.B. über die Kostüme, die Rezeption, das Publikum u.a.m. Es wird immer schwieriger, denn die Betroffenen nach und nach verschwinden oder schon nicht mehr da sind. Eine dritte wurde vom Spezialisten der Juden in Frankreich und des Theaters in Paris, Zosa Szajkowski, verfasst; mit dem Titel „Yiddish Theatre in France“, ist Teil einer umfassenderen Untersuchung.(2) Da heutzutage das jiddische Theater ausserst rar ist, ist es am besten, sich von Anfang mit der vorhandenen Truppe zu beschäftigen: mit den Schriftstellern, dem Repertoire, den Inszenierungen, den Schauspielern, den Kostümen, dem Publikum), obwohl es eine ausgezeichnete Technik gibt. Aber wie alt werden solche Aufzeichnungen?
Das Troïm-teater von Charlotte Messer ist ein Amateurtheater, in dem jiddischsprachige Schauspieler auftreten. Hinter dem Namen verbirgt sich das Ziel, das sich die Regisseurin gesetzt hat: in der französischen Metropole wieder ein jiddische Theater einzuführen – was nicht leicht ist – mit Liebhabern, die die Sprache kennen und sie auf diese Weise weitergeben können. Denn es geht vor allem darum, das wieder wachzurufen, was in der jiddischen Kultur am meisten gefährdet ist, nämlich das Mündliche und ihm dank dem Theater eine Stellung im öffentlichen Raum zu verschaffen und zu gewähren; die Bühne wird zum „Tatort“ dessen, was es schon immer gewesen ist: eine Plattform des lebendigen Wortes. Hier, wo das gesprochene Wort gefordert wird, wird es gefördert, hier kann es gedeihen, hier muss es zu Worte kommen. Und siehe da: dieses Theater hat sogar eine Zukunft; denn es kommt nächstens auf die europäische internationale Szene, wo es einmal zu Hause war. Im November nämlich, anlässlich der jiddischen Kulturwoche in Wien, wird es mit einem Klassiker des Goldfadenrepertoires, Di tsvey kune lemel, auftreten.(3) Ferner hat die Regisseurin vor, in nicht zu entfernter Zeit auch gegenwärtigen Theaterstücken den Vorrang zu geben; sie befasst sich zurzeit mit der vom jiddischen Schriftsteller, Dichter und Dramaturg Michael Felsenbaum verfassten Komödie, die 1997 vom Rocktheater in Dresden unter seiner Regie uraufgeführt wurde: Bonzje Schweiger (oder Halt dem zak und shhit kartoflyes);(4) es handelt sich um eine postmoderne, postjiddische Bearbeitung einer der wohl berühmtesten Erzählungen von Jizchok L. Perez (Zamość, 1852 –Warschau 1915), Bontshe Shveig.(5) Als das jiddische Theater noch in voller Blüte stand und in den Weltmetropolen auftrat, sei es in Osteuropa (Warschau, Moskau, Bukarest, Vilnius u.a.) oder in den verschiedenen Emigrationsländern wie Westeuropa (London, Paris, Berlin, Prag, u.a.), Nord- und Südamerika (New York, Buenos-Aires u.a.), Südafrika (Johannesburg, Kapstadt u.a.) oder Australien (Melbourne u.a), vor dem Holocaust also, schöpfte es, wie jedes andere Theater, seinen Stoff aus der Gegenwart oder aus einer Vergangenheit, auf die wegen ihrer Aktualität zurückgegriffen wurde. Dies war auch noch nach dem Holocaust der Fall (man denke an Sloves, vom dem bald die Rede sein wird), aber leider nicht allzu lange. Nun sind sechzig Jahre seit der radikalen Vernichtung der jiddischen Kultur verstrichen, und es wird weiter gekämpft, um die jiddische Kultur am Leben zu erhalten. Am schwierigsten hat es das Theater, das, wenn es mit den andern wetteifern will, etwas Aktuelles bieten muss. Sehr oft aber geben sich die Amateurtruppen der Nostalgie hin anstatt ihr endgültig den Rücken zu kehren, ist sie doch ein beträchtlicher Hemmschuh, sei es für die Neubelebung eines jiddischen Theaters – an modernen, gegenwärtigen guten Theaterstücken fehlt es keineswegs, sie werden nur nicht wahrgenommen, ja man könnte sogar behaupten, dass sie „totgeschwiegen“ werden – sei es für die Qualität und Modernität des Schauspiels. Hat man nun die Nostalgie auf immer abgeschüttelt, taucht auch schon ein neues, wichtiges Problem auf: woher nimmt man Jiddischsprecher, die zum Theater taugen? Und ein jiddischsprachiges Publikum, oder ein solches, das sich für jiddisches Theater interessiert? Zum Glück gibt es eine praktische Lösung; das sind die Übertitel: einerseits ermöglichen sie dem nicht jiddischsprachigen oder –verstehenden Publikum das Verständnis dessen, was auf der Bühne vorkommt, andrerseits lassen sie einem gleichzeitig die Originalsprache hören und kosten. Oft stellt man fest, dass schlechtes jiddisches Theater unterstützt wird, und dies aus einem ganz einfachen Grund: nur weil es auf Jiddisch ist. Natürlich gibt es in allen Sprachen schlechtes Theater. Aber daneben gibt es auch gutes. Angesichts der geringen Zahl der jiddischen Theater, ist es viel schwieriger, in dieser Sprache ein gutes, zukunftorientiertes Theater zu finden.
Von Charlotte Messers Auswahl ausgehend werde ich versuchen zu zeigen, wie ihr Troïm-teater sich in die Tradition des jiddischen Theaters einzugliedern versucht, ist doch die Wahl ihres Repertoires nicht zufällig. Sie hängt mit den zwei wichtigsten Ereignissen in der Welt des jiddischen Theaters, und zwar des jiddischen Theaters in Paris, zusammen: mit dem wirkichen Anfang und mit dem Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg, Insofern kann diese Auswahl als eine Brücke, als eine Art „goldene keyt“ zwischen den Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert und der unmittelbaren Zeit nach der Schoah angesehen werden. Die zwei Stücke, die bis jetzt gespielt wurden, tragen folgenden Titel:
Das erste Stück erinnert an die Neubelebung des jiddischen Theaters in Paris durch Henri (Khayim) Sloves (Bialystok 1905 - Paris 1988).(6) 1926 kam er nach Paris und spielte eine hervorragende Rolle in der jiddischsprachigen Welt vor und nach dem Krieg. Als Dramaturg, Publizist und Advokat war er stets um das Los des jüdischen Volkes besorgt. Es ging ihm darum, ein fortschrittliches modernes Theater zu schaffen, das sich mit den Problemen seiner Zeit auseinandersetzte. In den Fünfziger und Sechzigerjahren wurden einige seiner Stücke in West- und Osteuropa, Nord- und Südamerika von einheimischen jiddischen Theatern gespielt. Wie Brecht war Sloves ein engagierter Schriftsteller. Als Dramaturg und Kommunist versuchte er, die traditionelle jüdische Kultur mit dem kommunistischen Ideal zu vereinen. Dies bildete den Grundstein, auf dem er sein Theaterstück, Di yoynes un der valfish, aufbaute, in dem er danach strebte, „eine Synthese zwischen einem neuen, modernen Inhalt – den Ereignissen in der Nazizeit – und einer erneuerten archaisch-jüdischen Form – dem Purimspiel– , herzustellen; dem Ganzen wird ein authentisch-erhobener Hauch von Volkskultur verliehen“. Das Stück, ein „folks-shpil in 3 aktn“, das gegen Ende der Vierzigerjahre verfasst wurde, erschien 1953 im jiddischen Verlag in Paris „Oyfsnay“. Es wurde 1949 vom YFT, vom „yidishn folks teater“ aus Buenos-Aires gespielt. Die Regie führte David Licht und das Schauspiel wurde mit dem Kastner-Preis ausgezeichnet. Der Titel des Stückes verweist auf die Bibelgeschichte Jona, die fünfte Schrift in der Reihe der „Zwölf kleinen Propheten“. Diese Schrift enthält keine prophetische Rede, sondern sie ist eine Wundererzählung: Jona wird zum Propheten „auserkoren“ und als solcher wird er von Gott aufgefordert, nach der Heidenstadt Ninive zu fahren, um dort die Sünder vor Gottes Zorn und Strafe zu warnen und sie zur Busse zu bekehren. Jedoch fühlt er sich keineswegs dazu berufen, diese Botschaft zu überbringen und ergreift die Flucht: er schifft sich nach Tarsis ein. Während der Seereise bricht ein heftiger Sturm aus; das Los fällt auf ihn: er wird für schuldig erklärt, über Bord geworfen – worauf sich der Sturm sofort legt – und von einem Walfisch verschlungen, in dessen Bauch er drei lange Tage verweilt, bevor er wieder ausgespieen wird. Auf diese biblische Geschichte baut Sloves eine Tragikomödie auf, welche sich in der Zeit der antisemitischen Unruhen und Verfolgungen der Dreissiger und Vierzigerjahren abspielt. Er fügt einige Nebenhandlungen bei, die auf der internationalen Folklore beruhen, wie z. B. die Suche nach einem Schatz, die sich hier im Bauch des Walfischs abspielt. Die ablenkenden, humoristischen Episoden, die einen starken Lebenswillen versinnbildlichen, lassen aber nicht vergessen, dass es in diesem Stück vor allem um das universelle Thema der Verfolgung eines Volkes geht, das in Lebensgefahr steht. Die Theaterfiguren sind Angehörige des Jonavolkes („Yoynes“); ihr Erzfeind ist Ninive, der Walfisch der Vollstrecker der feindlichen Macht. Dieses Monstrum bringt überall Verwüstung und Vernichtung mit sich. Überall ist es den „Yoynes“ auf der Spur und versucht sie umzubringen.
Als Sloves sein Theaterstück verfasste, war die Tragödie des jüdischen Volkes in der Erinnerung der Überlebenden äussert akkut. Inszeniert wurde diese Zeit jedoch mit Humor; der Humor ist aber das Hauptmerkmal der „Yoynes“, was ihnen wiederum die Fähigkeit und Kraft verleiht, weiterzuleben und nicht zu verzweifeln, während dieser Charakterzug bei den Feinden ganz und gar abwesend ist. Durch den Humor wird eine notwendige, existentielle Distanz geschaffen. Dieser Humor hat nichts zu tun mit der schwankartigen Inszenierung der KZs in Benignis Film, Das Leben ist schön (1997)(7) oder der karikaturalen, lächerlichen Hitlerfigur, in Daniel Levys Film, Mein Führer, die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler (2006). Hier muss jedoch erwähnt werden, dass Sloves in seinem ersten Stück, Homens Mapole („Hamans Untergang“), sich mit Hitlers Ende befasst, und dass dieser, so wird berichtet, noch lächerlicher erscheint als in Charly Chaplins Film „Der Diktator“.(8) Es wäre interessant, die damalige Auffassung mit der heutigen zu vergleichen und wesentliche Schlüsse daraus zu ziehen. Homens Mapole wurde vom YKUT, dem „yidishn kunst teater“ aufgeführt und von Oscar Fessler, einem aus Argentinien stammenden berühmten Schauspieler und Regisseur inszeniert.(9) Gespielt wurde das Stück im Theater Les Bouffes du Nord, in dem heute Peter Brook seine Theaterstücke aufführt. Dieses Spiel, das auch mit dem ehemaligen Purimspiel anknüpft und typisch jüdisch ist, hat gleichzeitig Anspruch auf Universalität. Der Tradition des jiddischen Theaters verpflichtet, huldigt es auch der Modernität, indem es im Geiste Brechts das Verfremdungseffekt integriert: die Ausstattung wird bei jedem Akt von den Schauspielern selber mitgebracht und ausgewechselt. Dieses Stück wurde eine längere Zeit aufgeführt.
Als2004 Sloves’ Stück Di yoynes un der valfish von Charlotte Messer neu inszeniert und im Pariser Theater Bazajet am 24. Januar 2004 auf Jiddisch aufgeführt wurde, war es ein Riesenerfolg. Alle Plätze waren ausverkauft. Auch Charlotte Messers interessante und durchdachte Inszenierung steht unter dem Einfluss des Purimspiels. Auf einem Video, und jetzt einem DVD, ist sowohl das Theaterstück als auch das begeisterte Publikum zu sehen, was ein Gesamtbild der Aufführung bietet und für die Rezeptionsgeschichte einen wichtigen Beitrag liefert. Zwei weitere Aufführungen fanden statt, die eine am 19. Juni 2004 in der Cartoucherie de Vincennes (im Theater Epée de Bois) und die andere am 27. Juni 2005 im Café de la Danse in der Nähe der Bastille.
Entspricht Sloves’ Theaterstück dem heutigen Zeitgeist und der erneuten Beschäftigung mit dem Holocaust und den Überlebenden, so geht das zweite Stück auf den Anfang des modernen jiddischen Theaters zurück, nämlich auf dessen Gründer oder „Vater“, Abraham Golfaden (1840 - New York 1908), der aus der Ukraine stammte. Bevor Paris sein eigenes jiddisches Theater besass, wurden immer wieder Truppen eingeladen, denn das rege Emigrantenleben, das hauptsächlich zwischen der Place de la République und der Place de la Bastille stattfand, sorgte dafür, dass nach dem osteuropäischen Vorbild jiddisches Theater gespielt wurde. So kam es, dass im Jahre 1888 Goldfadens Stück, Di tsvey kune lemel, zum ersten Mal in Paris aufgeführt wurde. Dieses Schauspiel wurde ein solcher Erfolg, dass kurz darauf Goldfaden, der in Russland immer wieder auf grosse Schwierigkeiten stiess, selber nach Paris kam, in der Hoffnung, er würde hier eine permanente Theatertruppe ausbilden und erhalten können. Leider erfüllte sich sein Wunsch nicht, nicht das erste und auch nicht das zweite Mal. Daraufhin verliess Goldfaden endgültig Paris, um sich in Amerika niederzulassen. Goldfadens Schicksal könnte als Metapher für das Schicksal des jiddischen Theaters in Paris gelten: es schwankte zwischen Erfolg und Misserfolg, zwischen Enthusiasmus und Kritik. Eines seiner Verdienste war es, die Frauen als Schauspielerinnen im Theater aufzunehmen und auszubilden. Noch bevor Goldfaden diesen Schritt unternommen hatte, lebte in Frankreich eine der markantesten Schauspielerinnen aller Zeiten, Rachel (Elisabeth Rachel Felix, Aargau 1821-Le Cannet 1858). Von einer Elsässer-jüdischen, jiddischsprachigen Familie aus dem Sundgau (Südelsass) abstammend, wurde sie zu einer weit über die Grenzen hinaus berühmten Racine- und Corneilleinterpretin, und spielte in der berühmten Comédie Française. Das jüdische Museum in Paris hat ihr vor ein paar Jahren eine interessante Ausstellung gewidmet.(10) Sie ist aber nie in einem jiddischen Theater aufgetreten. Auch wurde sie von ihren Glaubensgenossen wegen ihrer „unjüdischen“ Lebensweise kritisiert. Es sei hier noch erwähnt, dass das 19. Jahrhundert eine andere weltberühmte französische Schauspielerin hervorbrachte: Sarah Bernardt (Rosine Bernard 1844-1923), die in Paris geboren und gestorben ist und auch Schriftstellerin war. Interessanterweise hatte sie in New York Kontakt zu jiddischen Schauspielern.(11)
Goldfaden war äusserst begabt, besass eine grosse Einbildungskraft und war von einer unermüdlichen Tätigkeit. Den fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, denen er beim Schaffen eines jiddischen Theaters begegnete, sind wohl bekannt: er spielte in Scheunen, er hatte keine richtigen Schauspieler, und vor allem war die jiddische Sprache verboten. Aber er schaffte es. Man könnte in Charlotte Messers Vorhaben eine Parallele zu Goldfaden herstellen, denn auch sie hat heutzutage um die Existenz eines jiddischen Theaters zu kämpfen. Goldfadens Theater entstand in Jassy, im Jahre 1876. Da fand er die günstigen Voraussetzungen vor. Zu Goldfadens Zeit bot nämlich die Stadt, die von einer grossen jüdische Minderheit bewohnt war, ein interessantes Gebilde, das später auch auf Itzik Manger einen entscheidenden Einfluss ausübte. Da war natürlich die Tradition des Purimspiels, des jüdischen Fastnachtsspiels, und des „Badkhones“, des Lobgesangs auf die Braut während der Hochzeitszeremonie. Neuerdings verweilten hier auch „engagierte“ Sänger. Der berühmteste unter ihnen war Velvl Zbarzher, ein jiddischer satirischer „Bänkelsänger“, sowie die Broder Zinger, eine Art „Wandermusikanten“, die von Stadt zu Stadt gingen, um ihre komischen Lieder und Balladen vor einem Arbeiterpublikum zu singen.(12) Goldfaden, wie später Manger, hatte Folkslieder und Gedichte gesammelt und veröffentlicht. In Osteuropa war eigentlich die Musik allgegenwärtig und dies nicht nur im Judentum; deswegen bildet sie ein ausgezeichnetes Forschungsfeld für die starken Wechselwirkungen und das Herausschälen des Eigenen und des Fremden. Sich auf den Chassidismus berufend, wo Gesang und Tanz als Ausdruck des Gebets im Vordergrund stehen, sagte der französische viersprachige Dichter Claude Vigée (der auch auf Elsässerjiddisch geschrieben hat), Descartes berühmten Satz parodierend: „Ich tanze, also bin ich“. Dabei wusste er nicht, dass lange vor ihm einer der grössten afrikanischen Dichter, Leopold Sedar Senghor, der Erfinder der Négritude, dasselbe geschrieben hatte!
Goldfaden war alles in einem: Dramaturg und Librettist, Komponist und Choreograph, Schriftsteller und Regisseur. Die zahlreichen Theaterstücke, die er schrieb, sind als wahre, totale Kunstwerke anzusehen, denn sie integrierten Musik und Tanz. Er schuf die jiddische Operette, das jiddische Singspiel, das später in New York zum Broadway Musical wurde.(13) Seine Theaterstücke stehen ganz im Zeichen der Haskalah, der jüdischen Aufklärung. Sie setzten sich mit dem Chassidismus, dem ostjüdischen Mystizismus und Pietismus auseinander. Wir erwähnen nur drei seiner Stücke, durch die er sehr berühmt wurde: Shulamis (Singspiel/Operette 1880), Bar Kokhba (Tragödie 1883) und Di tsvey kune lemel (Komödie 1880). Shulamis, das als Singspiel aufgeführt wurde, beruht auf einer talmudischen Geschichte (Taanith 8a), welche die Unwiderruflichkeit des Versprechens unterstreicht. Diese Geschichte wurde auf Jiddisch ins Mayse bukh (Nr. 101) aufgenommen , mit dem Titel, „Man soll Wort halten!“. Es geht darin um das Vergessen des Versprechens und seine tragischen Folgen. gegebene Wort. Das zweite Stück, Bar Kokhba, erzählt den Aufstand des heldenhaften Kämpfers gegen die römische Besatzungsmacht in Palästina. Er starb als Märtyrer im Jahre 135. Rabbi Akiba sah in ihm den Messias. Beide Stücke spielen in Eretz Israel und Goldfaden wurde von den Bundisten, den Gegnern der Zionisten, wegen seiner zionistischen Ideen scharf kritisiert. Denn obwohl beide Handlungen im Altertum stattfinden, stehen sie unter dem Zeichen einer Vergegenwärtigung der Vergangenheit im Hinblick auf die Zukunft. Das letzte Stück, Di tsvey kune lemel, war sicher das populärste und meistgespielte. Es ist eine typische Heiratsgeschichte, wie es sie seit der Antike gibt. Zwei junge Verliebte stossen auf das Unverständnis der Eltern und müssen sich etwas einfallen lassen, um heiraten zu können. Das Stück wird ins jüdische Milieu, d. h. ins shtel, versetzt, mit einem altmodischen jüdischen Heiratsvermittler, dem shadkhn, versehen, vom Antagonismus’ zwischen den „Maskilim“, den Aufgeklärten, und den „Chassidim“, den fromm-mystischen, geprägt. Das Ganze steht im Zeichen des Streites zwischen Tradition und Modernität. Alles, was zur Komiksituation gehört, ist hier vorhanden. Man könnte aber behaupten, dass das, was die Komik ausmacht, im 20. Jahrhundert als existentielle Angst und Identitätsverlust erscheint. Charlotte Messer bietet dem modernen Publikum ein eher traditionelles Stück. In der Inszenierung wird die damalige Atmosphäre witzig heraufbeschworen: dabei der unerbittliche Kampf zwischen den „Maskilim“ und „Chassidim“ etwas gedämpft. Das Stück wurde fünfmal gespielt :am 18. März 2007 im Auditorium von Boulogne-Billancourt (Vorpremière), am 13. Mai, 7. und 14. Oktober 2007 im Théâtre Ménilmontant, und am 5. Februar im Théâtre des Deux Portes (zurzeit Théâtre Marcel Marceau). Und im November, wie angekündigt, in Wien.
Charlotte Messer ist eine wunderbare Regisseurin, und ihre Arbeit mit den Amateurschauspielern eine sehr produktive, weil sie mit einer „verschütteten“ Sprache die Spontaneität des Ausdrucks und des glücklichen Einfalls bewirkt. Durch das losgelöste Wort wird ein wirkungsvolles, lebendiges und überzeugendes Spiel erreicht. Vor allem entspricht das troïm-teater dem Ziel, das sich Charlotte Messer gesetzt hat.
Als Anhang möchte ich noch ein kurzes Interview wiedergeben, das ich mit der Regisseurin Charlotte Messer schriftlich geführt habe.
Astrid Starck-Adler (ASA): Wieso spielst du heute jiddisches Theater?
Charlotte Messer (CM): Zuerst um dem berühmten Satz vom jiddischen Schriftsteller Moyshe Nadir gerecht zu werden: „Das jiddische Theater hat nicht die Kraft zu sterben“. Der ernste Grund für mich ist natürlich, das kulturelle und sprachliche Erbe meiner Eltern und meiner Vorfahren zu bewahren. Und natürlich auch derjenigen, die von den sechs Millionen umgebrachten Juden Jiddisch sprachen.
Man kann sich die Frage stellen, wieso erst am Ende der Neunziger Jahre? Wieso ausgerechnet dann? Das weiss ich nicht. Vielleicht hing dieser Wille in der Luft. Ich bin keine Psychologin und ich habe keine Antwort auf diese Frage. Aber ich weiss, dass es für mich dringend, ja bitter notwendig wurde, in dieser Sprache Zuflucht, Schutz und Sicherheit zu finden. Ich wollte unbedingt „nach Hause“.
Als diplomierte Theaterwissenschaftlerin an der Université Paris III unterschrieb ich meinen ersten Vertrag als Regisseurin anlässlich der Feier „200 Jahre Französische Revolution“. Danach schuf ich ein Amateurtheater, „La Porte entr’ouverte“ (Die halboffene Tür), (14) das mehrere Schauspiele gab.
Mein Hauptanliegen jedoch ist es, meine Leidenschaft fürs Theater zu übermitteln. Seine positive oder negative Anziehungskraft. Alles was wir daraus schöpfen können und was das Theater mit Recht von uns verlangt – den Reichtum der Wörter, Liebe, Hass, Humor, Fantasie, Fantastisches…mit einem Worte, die Geschichte des menschlichen Geschlechts, die Bedingungen der menschlichen Existenz.
ASA: Wo steht das troïm-teater innerhalb der Tradition des jiddischen Theaters?
CM: Im Jahre 1999 belegte ich den Jiddischkurs von Renée Kaluzsynski. Sie war davon überzeugt, das ich eine Theaterwerkstatt öffnen sollte, was im Jahre 2001 auch tatsächlich geschah. Ziel dieser Werkstatt war es, das Theater zu benutzen, um die jiddische Aussprache zu verbessern, und dafür jiddische Theaterstücke zu verwenden. Vom jiddischen Theater weiss ich nicht allzu viel. So viel ich mich erinnern kann, waren die Aufführungen, denen ich in den Fünfzigerjahren im Theater an der Rue de Lancry beiwohnte, nichts als Musikalische Komödien. An dieser Art von Theater bin ich nicht interessiert. Ich bin eher eine Anhängerin dessen, was man das „yidishe kunst teater“ (YKUT) nannte. Meine Vorbilder, was die Inszenierung betrifft, sind Tadeusz Kantor. Ariane Mnouchkine, Peter Brook u.a.
ASA: Wie hast du deine Auswahl getroffen?
CM: Gespielt haben wir Di yoynes un der valfish nach dem Theaterstück von Khayim Sloves, das nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst wurde und von der Erfahrung der Shoah tief geprägt ist. Ausgesucht habe ich dieses Stück, weil es wie ein Purimspiel gegliedert ist. Der Autor hat sich von der biblischen Geschichte inspirieren lassen und anschliessend seine eigene Geschichte verfasst.
Nach diesem Theaterstück war eine Komödie an der Reihe. Wir dachten an Abraham Goldfaden, dem „Vater“ des jiddischen Theaters suchten uns einen Klassiker aus: Di tsvey kune lemel. Das Stück wurde modernisiert und ziemlich gekürzt. Wir versuchten, den ausgeprägten antichassidischen Charakter des Stückes zu verringern, denn heutzutage hat dies keinen Sinn mehr. Wir haben die zahlreichen „daytshmerizmen“ (deutsche, heut veraltete Wendungen oder Wörter) durch die gegenwärtig üblichen Wörter und Ausdrücken ersetzt.
Das Theater ist zweifellos ein vortreffliches Medium, die jiddische Kultur zu verbreiten und die Liebe zur Sprache zu wecken. Alle Teilnehmer an unserer Werkstatt sind davon überzeugt. Und was das Publikum betrifft, so haben uns sehr viele Zuschauer mitgeteilt, wie bewegt sie waren, als sie Jiddisch auf der Bühne hörten.
ASA: Hat das jiddische Theater im 21. Jahrhundert eine Zukunftsperspektive?
CM: Das jiddische Theater ist an sich nicht notwendig. Aber es hat einen guten Grund da zu sein und zu existieren: es muss dem jüdischen und nicht jüdischen Publikum (dank der Technik der Übertitel) die Schätze der jiddischen Kultur übermitteln, und zwar in der ursprünglichen Melodie. Ob es eine Zukunft hat? Es wird überleben, solange es Schauspieler gibt, die fähig sind, Jiddisch zu sprechen, und Regisseure, die diese Sprache leidenschaftlich lieben. Sonst…
Anmerkungen:
2.4. Jiddisch auf der internationalen Bühne im 21. Jahrhundert, auf dem Gebiet der Erziehung, Bildung und Kunst
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