Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 2.6. | SektioÜbersetzung als Kulturkontakt. Übersetzungsverfahren am Beispiel von Ingeborg Bachmanns Prosanstitel |
Der Zerfall des Gemeinplatzes und des Gemeinsinns
„Ein Ort für Zufälle“ von Ingeborg Bachmann
Tokunaga Kyoko (Tokio, Graz)
Email: kyoko.tokunaga@gmail.com
Es sollte zuerst über die Übersetzungssituation der Bachmann-Werke in Japan gesprochen werden. Auf den ersten Blick fällt auf, dass ihre zwei Gedichtbände, „Die gestundete Zeit“ und „Anrufung des Großen Bären“, immer noch unübersetzt sind. Dies kann man nur verstehen, wenn man den nicht kleinen Unterschied zwischen der deutschen Sprache und der japanischen beachtet. Vor allem die gebundene, lyrische Sprache syntaktisch vollständig ins Japanische zu transformieren, ist auf Grund des sprachlichen Unterschieds nicht leicht. Im Gegensatz zu den Gedichten wurde der Erzählband „Das dreißigste Jahr“ schon vier Jahre nach dem Erscheinen im Jahr 1961 übersetzt(1) und der Roman „Malina“ (1973)(2) mit einem noch knapperen Zeitabstand von zwei Jahren. Der 1972 erschienene Erzählband „Simultan“ hingegen wurde merkwürdigerweise erst 2004 übersetzt(3). Was noch zum Thema Übersetzung bemerkt werden soll, ist das Problem der Titelangabe in der übersetzten Sprache. Der japanische Titel des Erzählbandes „Simultan“ wurde wortwörtlich im japanischen Alphabet für fremde Wörter, dem katakana, in der deutsch ähnlichen Aussprache wiedergegeben. Infolge dessen ist es vorstellbar, dass japanische Leser ein Verständnisproblem haben, wovon das Buch eigentlich handelt, da das Wort „Simultan“ in der japanischen Sprache nicht existiert. Wenn das Wort im engeren Sinne von „Simultan Dolmetschen“ interpretiert und dies direkt ins entsprechende japanische Wort übersetzt worden wäre, dann hätte das Buch mehr Aufmerksamkeit erwecken können.
Im folgenden Beitrag wird über einen Teil meiner Doktorarbeit gesprochen, der das Thema „Übersetzung“ zum Inhalt hat. Es geht dabei genauer um die Übersetzung der Wörter „Gemeinplatz“ und „Gemeinsinn“. Dabei wird der Begriff „Übersetzen“ in erster Linie nicht im engen Sinn von Text- oder Wortübersetzung zweier Sprachen verstanden. Ingeborg Bachmann hat in ihrer Büchner-Preisrede „Ein Ort für Zufälle“ die Stadt Berlin im Kalten Krieg durch die Sprache der Kranken und der Irren dargestellt, die für Leser sehr schwer verständlich ist. Diese Sprache, die vom Anderen der Vernunft gesprochen wird, soll wieder in die wissenschaftliche Sprache übersetzt werden, sodass die Sprache der Wahnsinnigen nicht ungehört bleibt. Um diese Übersetzung zu ermöglichen, wird auf zwei japanische Wissenschaftler Bezug genommen, den Psychologen Bin Kimura und den Philosophen Yujiro Nakamura. Dadurch können die unsichtbaren, indirekten Querverbindungen der verschiedenen Kultur- und Wissensbereiche hervortreten.
Bachmann bezeichnet einmal in einem Interview die Stadt Berlin als „einen gestörten Ort“. Aber wie hat sie diesen „gestörten Ort“ in ihrem Text räumlich dargestellt? Auf diese Frage antwortet Peter Handke in seiner Bachmann gewidmeten Büchner-Preisrede. Sie beginnt mit folgenden Sätzen: „Wie wird man ein politischer Mensch? Die Dunkelheit ist jetzt wieder finsterer als noch vor zwei Monaten, der Fußboden in dem Raum, wo man sich befindet, abschüssig. [...] Als ich eine Wasserwaage auf den Boden legte, rutschte die Blase darin aus der Mitte, der Boden war tatsächlich schief.“(4) In diesem Ausdruck erfasst Handke das Merkmal der Raumdarstellung in „Ein Ort für Zufälle“. Wie er bemerkt, wird tatsächlich in Bachmanns Text die Stadt Berlin als „abschüssig“, „schief“ und „schräg“ dargestellt. Die Stelle in „Ein Ort für Zufälle“, auf die sich Handke bezogen hat, lautet: „Wegen der Politik heben sich die Straßen um fünfundvierzig Grad, die Autos rollen zurück“.(5) Die Autorin bringt in diesem Text mit dem wirbelnden Schreibstil die kreisende Stadt Berlin zum Ausdruck: „Die ganze Stadt kreist, das Restaurant hebt und senkt sich, bebt, ruckt, es kommt alles immer mehr ins Rutschen, Potsdam ist mit allen Häusern in die Häuser von Tegel verrutscht, die Kiefern hängen mit allen Nadeln verkrallt ineinander. Im Restaurant klammern sich alle an die Stuhllehnen und sprechen weiter, keiner gibt es zu, jetzt schaut einer den anderen an, wie das letzte, was er sehen wird, jetzt sind die Augen von allen ineinander, [...] dann steht der Einsturz bevor“.(6)
Alles in dieser Stadt wird bis zum Einsturz gedreht und ge-/ver-rückt. Die im Riss zwischen West und Ost liegende Stadt hat keine tektonische Stabilität. Berlin, die Sammelmulde für Ablagerungen der geschichtlichen Ereignisse, wird wegen des Gewichts der Segmentation der Erinnerungen von Vergangenheit zum mobilen Ort. Die zeitgenössische Erdoberfläche wird verbogen, die Erdschichten der Vergangenheit werden gehoben. Wegen des Erdrutsches wird alles aufeinandergeschichtet, sogar die Augen der Menschen verkrallen sich ineinander. An diesem kreisenden Ort verliert man den eigenen Körper, und die Umrisse des Individuums verschwinden. „Ein Ort für Zufälle“ ist also der Ort, der räumlich entrückt ist. Er ist ein ver-rückter Ort, wo man aus der Balance kommt und schließlich verrückt wird. Aber warum hat die Autorin zur Darstellung der Stadt die Sprache der Wahnsinnigen verwendet, welche die Balance verloren haben? Was ist der Zusammenhang zwischen Politik und räumlicher Entrückung?
Um diese Frage zu beantworten, sollte ein Exkurs über die Rhetorik eingefügt werden, da sie den Zusammenhang zwischen „Ort“ und „Politik“ plausibel macht. Der Begriff „Ort“ spielt eine entscheidende Rolle in der rhetorischen Tradition. Das wird deutlich, wenn man das Wort „Ort“ ins Griechische „tópos“ übersetzt und das englische Wort „topic“ in Betracht zieht, das heute in der Bedeutung von „Gesichtspunkt“ oft in den Massenmedien verwendet wird. „Topos“ ist in der Rhetorik ein Ort, an dem Argumente zu holen sind. Er ist ein Fundort, an dem die Gesichtspunkte der Rede erst gefunden werden. „Topos“ bedeutet im Weiteren die Argumentation, die wegen ihrer Allgemeinheit auf mehrere Fälle anwendbar ist und deswegen in vielen Reden übernommen werden kann. Das lateinische Wort „locus communis“ bringt mit dem Adjektiv „communis“ diese allgemeingültigen Aspekte von „tópos“ ans Licht. Das deutsche Wort „Gemeinplatz“ wurde im 18. Jahrhundert vom lateinischen „locus communis“ und vom englischen Wort „commonplace“ abgeleitet. Die deutsche Übersetzung verweist mit seinem Wortteil „gemein“ auf Banalität und Vulgarität. Der „Gemeinplatz“ wurde wegen seiner Allgemeingültigkeit und Selbstverständlichkeit mit banalen Gesprächsthemen und klischeehaften Denk- und Sprachschablonen gleichgesetzt. Er wurde zur abwertenden Bezeichnung für „abgenutzte Redensart“. Wenn man jedoch den Wortteil „gemein“ im Sinne von „gemeinschaftlich“ versteht, dann gewinnt der „Gemeinplatz“ wieder die positiven, kommunikativen Aspekte. Er ist „gemeinschaftlich“, weil er jedem gehört. „Gemeinplatz“ wird so zum vielbegangenen öffentlichen Platz, auf dem die Wege der verschiedenen Reden sich kreuzen. Er ist ein Ort, an dem die öffentlichen Meinungen, der Konsensus, der „commonsense“, entstehen und fortbestehen können. „Commonsense“, deutsch „Gemeinsinn“ ist ein gemeinschaftlicher Sinn, der die Individuen auf dem „Gemeinplatz“ verbindet.
In der Stadt Berlin zur Zeit des Kalten Krieges besteht kein Gemeinsinn, der den jeweiligen Eigensinn der Individuen zum gemeinsamen Interesse führen könnte. Hans Magnus Enzensberger, der ein Jahr vor Bachmann den Büchner-Preis erhalten hat, spricht in seiner Preisrede über den Verlust der Selbstverständlichkeit, mit anderen Worten, über den Zusammenbruch des Gemeinplatzes: „Oh, es versteht sich alles von selbst. Nur dass das Selbstverständliche undenkbar und das Undenkbare selbstverständlich geworden ist“.(7)In Berlin ist die Mauer zwischen Ost und West nicht mehr undenkbar, sondern selbstverständlich geworden. Der „Gemeinplatz“, der allen gehören soll, ist durch die Mauer gespalten. Die Wege zum „Gemeinplatz“ werden, mit Bachmanns Worten, „wegen der Politik“ „um fünfundvierzig Grad“ gehoben und sind unbegehbar geworden. Die Autorin thematisiert in ihrem Berliner Text durch die räumliche Darstellung des entstellten Ortes den Zusammenbruch des Gemeinplatzes und den Verlust des Gemeinsinns.
Bemerkenswert ist, dass die Autorin nicht nur die äußerliche, gesellschaftliche Funktion des Gemeinsinns in Frage stellt, sondern auch die innere Funktion, welche die körperliche Wahrnehmung betrifft. Der Gemeinsinn, lateinisch „sensus communis“, galt seit Aristoteles als gemeinschaftlicher Sinn, der die fünf Sinne, nämlich Gesichtsinn, Gehörsinn, Geruchsinn, Geschmacks- und Tastsinn in Einheit bringt und sie zusammenhält. Der japanische Philosoph Yujiro Nakamura, der die enge Wechselbeziehung zwischen der gesellschaftlichen und der körperlichen Bedeutung des Gemeinsinns untersucht, ist der Meinung, dass der die fünf Sinne bündelnde Gemeinsinn nichts anderes als die kinästhetische Wahrnehmung sei. Dabei bemerkt er auch, dass das Wort „Kinästhesie“ wörtlich den Gemeinsinn bezeichnet.(8) Die Kinästhesie (coenesthesia) besteht aus „coen“ = communis und „esthesia“ = sensus. Die Kinästhesie bedeutet folglich Gemeinsinn. Nakamura zufolge sei die Kinästhesie der dunkle Wahrnehmungssinn, da sie mit den inneren Organen verwandt sei und mit dem Unterbewusstsein viel zu tun habe.(9) Hingegen tragen der Gesichtssinn und der Gehörsinn dazu bei, einen Menschen zu Bewusstsein zu bringen, sich selbst als das wahrnehmende Subjekt zu stabilisieren. Nakamura nennt dabei zwei Integrationsarten, die durch die Wahrnehmungen hergestellt werden.(10) Die Integration, die von Gesichtssinn und Gehörsinn bereitgestellt wird, nennt er die subjektive Integration. Die Integration, die vom kinästhetischen Sinn vermittelt wird, bezeichnet er als prädikative Integration.
Diese Idee von den zwei verschiedenen Arten der Integration hat Nakamura von dem japanischen Psychologen Bin Kimura(11) übernommen, der sich mit dem Krankheitsbild Schizophrenie beschäftigt. Dieser behauptet, dass das „Ich“ eigentlich kein Substantiv, kein fassbares Ding sei. Für ihn ist es viel mehr ein Medium, durch das der Sachverhalt der Welt gezeigt wird. Das Ich sei ein Ort, an dem die Prädikate bezeichnet werden. Die Symptomatik der Depersonalisation, die befremdliche Wahrnehmung der Welt, sollte nach Kimura so verstanden werden, dass das Ich, das die Kranken verloren zu haben scheinen, nicht irgendein substantives Ding sei. Was ihnen fehlt, sei der prädikative Wirklichkeitsbezug, der am „Ort als Ich“ durchgeführt wird. Das Symptom der Depersonalisation ist die gestörte Wahrnehmung der Wirklichkeit, somit bezeichnet er die Schizophrenie, vor allem die Depersonalisation, als die Krankheit des Gemeinsinns. Dieses Symptom zeigt sich nach Ansicht von Nakamura sensorisch in der Beschädigung des kinästhetischen Sinns.
In „Ein Ort für Zufälle“ thematisiert Bachmann nicht nur den Verlust des Gemeinsinns als gesellschaftliche Urteilskraft, sondern auch den Zusammenbruch des Gemeinsinns als Wahrnehmungssinn, als Kinästhesie. Sie beschreibt die Stadt Berlin in einem kreisenden Schreibstil, der auf der Textebene Schwindelgefühl erzeugt. Berlin „hebt und senkt sich, bebt, ruckt“. An diesem ver-rückten Ort wird der kinästhetische Sinn vollkommen zerstört. Wenn die Kinästhesie, die fünf Sinne bündelnde Grundwahrnehmung, die den Menschen zur prädikativen Integration bringt, zerstört ist, dann wird das Ich als Ort automatisch zusammenbrechen. „Ein Ort“ im Titel ihrer Rede, bezeichnet nicht nur die Stadt Berlin, sondern auch das Ich selbst. Hier geht es auch um den Zusammenbruch des Ichs als Ort. Der „Wahn-sinn“ ist nichts anderes als die Störung der Sinne.
Der „Wahn-sinn“, der zerstörte Gemeinsinn als Wahrnehmungssinn fungiert in diesem Text als künstlerisches Mittel, durch die Sprache der Schizophrenie-Kranken den Zerfall des gesellschaftlichen Gemeinsinns wahrnehmbar zu machen. Es ist kein Zufall, dass die Autorin durch die Sprache der Irren die politische Gewaltsamkeit am ver-rückten Ort zum Ausdruck bringt.
Anmerkungen:
2.6. Übersetzung als Kulturkontakt. Übersetzungsverfahren am Beispiel von Ingeborg Bachmanns Prosa
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