Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 2.6. | Übersetzung als Kulturkontakt. Übersetzungsverfahren am Beispiel von Ingeborg Bachmanns Prosa SektionsleiterInnen | Section Chairs: Kurt Bartsch (Graz, Österreich) und Larissa Cybenko (Lviv / Lemberg, Ukraine) |
Sektionsbericht 2.6.
Übersetzung als Kulturkontakt.
Übersetzungsverfahren am Beispiel von Ingeborg Bachmanns Prosa
Kurt Bartsch (Graz, Österreich) [BIO], Larissa Cybenko (Lviv / Lemberg, Ukraine) [BIO]
Email: kurt.bartsch@uni-graz.at und larissa.cybenko@gmail.com
Obwohl die Fragen unserer Sektion sich vor allem auf die Prosadichtung von Ingeborg Bachmann bezogen, standen im Zentrum der Aufmerksamkeit der ReferentInnen auch die Persönlichkeit und das gesamte Oeuvre der österreichischen Schriftstellerin. Die Vortragenden und DiskutantInnen kamen aus fast einem Dutzend Länder, darunter aus Rumänien, der Slowakei, der Türkei, der Ukraine, Russland, Norwegen, Japan, Korea, Italien und Österreich, sind vorwiegend GermanistInnen, die sich mit der Theorie der Übersetzung und Medienkunde beschäftigen sowie renommierte Übersetzerinnen von Ingeborg Bachmanns Prosa in andere Sprachen. Deren Engagement und aktive Teilnahme an der Sektionsarbeit während des ganzen Sitzungstages zeugen von der Anziehungskraft und der Aktualität des Bachmannschen Werkes.
Es ging um das Übersetzungsverfahren der Texte der österreichischen Autorin, dabei wurde literarische Übersetzung nicht nur im sprachlich-textlichen Paradigma verstanden, sondern auch im Rahmen der Kulturwissenschaften als ein Begriff des interkulturellen Kontakts. Die Beiträge der ReferentInnen bezogen sich auf die Beispiele, die in folgenden Stichworten wiedergegeben werden können: Kulturelle und sprachliche Herausforderungen bei der Übersetzung, Übertragung des Lokalkolorits in Ingeborg Bachmanns Texten, Übersetzbarkeit der topographischen Poetologie, Deutungsprobleme des Zerfalls des Gemeinplatzes und des Gemeinsinns, Übersetzungsproblematik der mehrsprachigen Texte, Dichterin als Lyrikübersetzerin, Rezeption des Bachmannschen Werkes in nicht deutschsprachigen Ländern und Kulturen. Der eigentliche Schwerpunkt der Sektion lag bei der Erläuterung der Frage, wie bei den durch Sprache, Geschichte und kulturelle Differenzen bedingten Unterschiedlichkeiten zwischen den verschiedenen geistigen und poetischen Welten - die der Bachmannschen Texte und der Zielsprachen, Literaturen und Kulturen – eine adäquate Übersetzung eines souveränen ästhetischen Kunstwerkes geleistet werden kann. In der Sektion wurden Darlegungen zu diesem Thema aus verschiedenen Perspektiven zur Diskussion gestellt.
Vorerst sprach Ramona Trufin aus Rumänien (Universität Konstanz/Jassy) über kulturelle und sprachliche Herausforderungen in Ingeborg Bachmanns Roman Malina, den sie auch ins Rumänische übersetzte (2007). Im Zentrum der Fallstudie stand die Analyse des bekannten Romans unter Berücksichtigung der poetischen Korrespondenzen zwischen dem biographischen Interesse der Autorin an süd-östlich liegenden kulturellen Landschaften (Topoi Kärnten und Böhmen) sowie der Rolle der Begegnung mit Paul Celan und der Bezüge auf seine Dichtung, die mit mehreren Codes und Chiffren im Text des Romans verbunden sind. Dabei wurden drei Arten der Landschaften im Text von Malina genannt: kodierte, imaginierte (wie z. B. "Ungargassenland" als Beispiel einer imaginierten Topographie) und literarisierte Sprachlandschaften. Hauptüberlegungen dieser Darlegung bezogen sich auf formale und inhaltliche Grenzüberschreitungen zwischen Westen und Osten, Sprache als Vermitteltes, Toposforschung im Lichte der Utopie, wenn es um "Ort der Dichtung geht". Der Prozess der Übersetzung, insbesondere des fragmentierten sprachlichen Materials (Codes, Worte als Erinnerungsorte, Dialogfetzen, "erratische Monologe", Traumsprache) in eine andere Sprache, in dem Fall ins Rumänische, wurde als Relativierung der Fremdheit bezeichnet. Dabei stellt Bachmanns Roman Malina, so resümierte die Referentin, "eine reiche Quelle von kulturellen und sprachlichen Herausforderungen dar, die Impulse für neue Übersetzungsversuche gibt und immer wieder neue Wege für Interpretationen oder 'Übersetzungen von Übersetzungen' eröffnet."
Anhand der Übersetzung des Romans Malina ins Türkische (1985) hat die Übersetzungstheoretikerin Sevdiye Köksal aus der Türkei (Dokuz Eylül Universität) über die Übertragung des Lokalkolorits – der örtlich und zeitlich gefärbten Elemente in einem Text, welche Träger des National-Spezifischen in ihm sind - in Ingeborg Bachmanns Roman gesprochen. Vor allem ging es um Wien und seine Gedächtnisorte, innere Landschaften, wie "Ungargasse" sowie Bezeichnungen von Orten, Bauten, Speisen etc. Die Referentin analysierte die Vorgehensweise des Übersetzers von Malina ins Türkische bei der Wiedergabe dieser Elemente in die eigene Sprache und ihre Anpassung an die eigene Kultur. Es wurden die diesbezüglichen Übersetzerentscheidungen gezeigt; u. zw.: das Stehenlassen der Elemente des Lokalkolorits, ihre Einbürgerung in die Zielsprache oder die Erklärung durch den Übersetzer selbst. Alle drei Zugänge haben sich als relevant erwiesen – die Übersetzungsverfahren richten sich danach, ob die Zweckmäßigkeit der Übertragung solcher kulturspezifischen Elemente oder die Erhaltung von deren Koloritwert im Vordergrund steht. Kommentiert wurde auch die Wirkung der entsprechenden Entscheidungen während der Übersetzung auf den Sprachfluss des Zieltextes, in dem Fall des Malina-Textes ins Türkische. Dem Vortrag folgte eine rege Diskussion: es wurden Meinungen zu den genannten Übersetzungsstrategien ausgetauscht.
Larissa Cybenko von der Iwan Franko Universität Lwiw (Lemberg) in der Ukraine, die Übersetzerin der Werke von Ingeborg Bachmann ins Ukrainische (der Roman Malina /2003 und Drei Hörspiele /2005) untersuchte die Übersetzbarkeit der topographischen Poetologie des slawischen Kulturraumes in Malina. Die topographische Poetologie wurde nach Sigrid Weigel als "thematische Fokussierung" gedeutet, die in eine "Kulturgeschichte des Raumes eingebunden ist". Die Referentin betonte vor allem, dass Malina in der Tradition von Rilkes Prosadichtung zu den Texten gehört, die im Sinne von Jurij Lotmans Semiotik vielschichtig sind und Fäden mehrerer Kulturen zu einem komplizierten und dichten Geflecht von Aussagen zusammenbringen. Solche Texte haben die Fähigkeit, Information zu kondensieren und ein eigenes Gedächtnis zu gewinnen. So bestehe der Text von Malina aus vielen einzelnen Texten, die, einem Plexux ähnlich, netzartige Nervenverbindung darstellen. Er zerfällt in einzelne Fragmente, die als innere Zitate, Motive, Allusionen, Referenzen etc. funktionieren. Der Übersetzer soll diese "Kerne" der anderen strukturellen Konstruktionen in die Texte entfalten (so Lotman). Die Referentin betrachtete den Text des Romans als Schnittpunkt mehrerer kultureller Verflechtungen, unter denen auch Topoi des slawischen Kulturraumes präsent sind. Sie sprach über literaturgenetische Kontakte zu den Denkweisen der Autoren aus dem slawischen Kulturraum, die durch konkrete Beispiele im Text von Malina ausgewiesen sind (Bachmanns produktive Rezeption des Werkes der russischen Schriftsteller Leo Tolstoj und Dostojewski), aber auch über Referenzen zum osteuropäischen Kulturraum, die „auf Umwegen“ übermittelt wurden, wie z.B. infolge der Kommunikation und poetischen Korrespondenzen mit Paul Celan. Danach war die Rede von den typologischen semantisch-strukturellen Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen, wie das im Fall des Bachmannschen „Fortschreibens“ der Texte von Joseph Roth zu verfolgen ist. In ihrem "Raumdenken", das sich auf konkrete Landschaften, Räume und geographische Orte sowie auf mythische und literarische Schauplätze bezieht, wendet sich Bachmann an die topographische Metaphorik (wie z.B. "Übersetzung" als eine Fähre, die einen quer über den trennenden Fluss zum anderen Ufer bringt). Ihre Berücksichtigung soll bei der Übersetzung nicht außer Acht gelassen werden und der Überwindung der Grenze zwischen den Kulturen verhelfen.
Kyoko Tokunaga, eine Germanistin aus Japan (Sophia Universität, Tokio / Universität Graz), sprach einleitend über die Übersetzungssituation der Bachmann-Werke in ihrem Land. Im Hauptteil ihres Beitrags referierte sie über die Übersetzung der Wörter "Gemeinplatz" und "Gemeinsinn", aber nicht im sprachlichen Sinne, sondern im Sinne der Übersetzung der Sprache der "Kranken" und "Irren", durch die Ingeborg Bachmann in ihrer Büchner-Preisrede "Ein Ort für Zufälle" die Stadt Berlin im Kalten Krieg darstellt, in die Sprache der Wissenschaft – "sodass die Sprache der Wahnsinnigen nicht ungehört bleibt". Mit den Schlüsselworten "Gemeinplatz" und "Gemeinsinn" versuchte sie den Zusammenhang zwischen der Poetik und der räumlichen Wahrnehmung zu untersuchen und die enge Wechselbeziehung zwischen der gesellschaftlichen und der körperlichen Bedeutung des Gemeinsinnes festzustellen. Die Referentin nimmt Bezug auf zwei japanische Wissenschaftler, den Psychologen Bin Kimura und den Philosophen Yujiro Nakamura und entdeckt dadurch Querverbindungen zwischen verschiedenen Kultur- und Wissensbereichen. In der darauf folgenden Diskussion wurde das Stichwort "Steinhof" evoziert und sein Ort in der österreichischen Philosophie ab der Jahrhundertwende (Ernst Mach, Sigmund Freud) und der Literatur (bei Robert Musil, Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard) besprochen. Betont wurde die Fähigkeit Bachmanns, viel über Bilder zu transportieren.
Lebhaftes Interesse hat der Beitrag von Giulia Radaelli aus Italien (Bonn/Florenz) zur Übersetzungsproblematik der mehrsprachigen Erzählung Simultan erregt, in der Ingeborg Bachmann die unlösbare Spannung zwischen Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit thematisiert. Es ging im Vortrag um die Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzung im Sinne sowohl einer interlingualen als auch einer intersubjektiven Übersetzung. Zur Diskussion wurde die Mehrsprachigkeit bzw. die Verwendung von Fremdsprachen in Simultan gestellt, denn das Problem, das Bachmanns Erzählung schon im Original aufweist, tritt erneut und verschärft bei deren Übertragung in eine andere Sprache auf. Die Referentin versuchte die Antwort auf die Frage zu geben, inwiefern Fremdsprachen integriert werden und wie sie dem Leser vermittelt werden können. Sie verglich verschiedene Übersetzungen von Simultan unter besonderer Berücksichtigung derjenigen ins Italienische und zeigte, wie die zahlreichen fremdsprachigen Elemente des Ausgangstextes in der jeweiligen Zielsprache wiedergegeben werden können. Es wurden die in Bachmanns Erzählung explizit und implizit formulierten, implikationsreichen Reflexionen über Übersetzung, Mehrsprachigkeit und Einsprachigkeit, vor deren Hintergrund sich jeder Übersetzer von Simultan zu bewegen hat, dargelegt. Wichtig war auch die Berücksichtigung der poetologischen Aussagen der Autorin, in denen die Sprache stets als „Eigenart“ bestimmt wird, zugleich jedoch als einziges Mittel einer kritischen und weltoffenen Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen. Bezüglich der Sprachphilosophie erwiesen sich die Überlegungen von Walter Benjamin als relevant. Im Sinne seiner philosophischen Ansichten wurde im Beitrag die Dialektik zwischen der Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit gezeigt.
Der Tagungsbeitrag der norwegischen Germanistin Ingvild Folkvord (NTNU, Trondheim) beschäftigte sich mit den Übersetzungs- und Kanonisierungsstrategien am Beispiel der Übersetzung von Ingeborg Bachmanns Hörspiel Der gute Gott von Manhattan ins Norwegische, die 1957 erschien und 1961 im Rundfunk gesendet wurde. Die Referentin betonte, dass diese frühe Phase der Bachmann-Rezeption in Skandinavien bisher kaum Berücksichtigung gefunden hat. Im Rahmen ihres Forschungsprojektes, das die Prämissen avantgardistischer und poststrukturalistischer Radioästhetik diskutiert und sie mit Ernst Cassirers Verständnis vom „Primat der Ausdrucksperzeption“ konfrontiert, problematisierte die Forscherin den engen Textualismus, der Teile der Bachmannforschung stark geprägt hat. Die Zentralfrage des Beitrages lautete: Welche Transformationen finden statt, wenn ein Hörspiel übersetzt wird, und inwiefern können Untersuchungen zur Hörspielgattung zur Perspektivierung verschiedener Rezeptions- und Kanonisierungsstrategien beitragen? Besonders geeignet für die Beantwortung dieser Frage findet die Referentin das Beispiel der Ausstrahlung der Übersetzung von Bachmanns bekanntestem Meta-Hörspiel im norwegischen Radiotheater, eines Funkstücks, das vor allem als Text rezipiert werden soll ("zum Hören und zum Lesen gedacht", so Bachmann). Es wird betont, dass schon die Übersetzerin (die Lyrikerin Inger Hagerup) Strategien wählt, die als komplexitätsreduzierend verstanden werden können: das übersetzte Stück bricht mit den etablierten Erwartungen an die Hörspielgattung. Ein ähnliches Vorgehen könnte man auch bei der norwegischen Hörspielfassung verfolgen, wenn der Regisseur Bernhardt Halle das Hörspiel rezeptionslenkend einleitet: Bachmanns Hörspiel, heißt es, sei sehr dicht geschrieben und der Zuhörer könne möglicherweise nicht alles mitbekommen. Im Beitrag wird die Funktion dieser Einleitung mit Vorworten und Rezensionen der späteren Bachmann-Rezeption in Norwegen verglichen, bei denen gerade die „dichte“ Konstruktion der Texte als Qualitätsindiz funktioniert und unter Verweis auf die akademische Bachmannforschung hervorgehoben wird.
Gustav-Adolf Pogatschnigg aus Bergamo (Italien) ging der Frage der Übersetzung im Sinne des Kulturkontaktes aus anderer Perspektive nach: er sprach über Ingeborg Bachmanns Übersetzungen der Lyrik von Giuseppe Ungaretti aus dem Italienischen. In seinen Überlegungen ging es nicht primär um eine Übersetzungskritik an Bachmanns Ungaretti-Versionen, sondern um Bachmanns spezifische „Übersetzermaxime“, den Grundsatz der aneignenden Vermittlung von kulturellem Wissen, um Übersetzung als poetologisches und ethisches Axiom. Vom Referenten wurde betont, dass, obwohl übersetzerische Tätigkeit im Gesamtwerk von Bachmann einen relativ kleinen Raum einnimmt, die Übersetzung für sie im Dialog der Kulturen eine besonders wichtige Rolle gespielt hat. Die Dimension des Sprachkontakts (im weitesten Sinne des Wortes) gehörte dabei zu den entscheidenden biografischen und poetologischen Voraussetzungen der Dichterin. Mit der Bezugname auf Walter Benjamins Essay Die Aufgabe des Übersetzers wurde von der aneignenden Funktion der Bachmannschen Übertragungen gesprochen, von der Rolle der dialogischen Beziehung ihrer Versionen der übersetzten Gedichte. In den Überlegungen des Referenten zu dem von ihm vorgeschlagenen Thema traten folgende Schwerpunkte hervor: die Möglichkeit, den Geist der Sprache der Lyrik wiederzugeben, ein Gedicht als Ganzes zu übersetzen, eine aneignende Übersetzung zu schaffen, "Schmerz" als poetologisches Programm bei Ingeborg Bachmann (aber auch bei Georg Trakl, Paul Celan) zu verstehen. Am Beispiel der Bibelübersetzung wurde die Frage nach der Unübersetzbarkeit gestellt und dabei Bezug auf Bachmanns Erzählung Simultan genommen, in der die Autorin Erfahrungen ihrer Italienjahre literarisch verarbeitet. Diesem Vortrag folgte eine spannende Diskussion über den Sinn der Übersetzung von Gedichten oder eher der Nachdichtung von Lyrik.
Abgeschlossen wurde die Sektion mit zwei Beiträgen, die von der Rezeption des Bachmannschen Oeuvres in verschiedenen Ländern und Kulturen berichteten. Die geographischen Entfernungen waren dabei auffallend weit: es ging um die Slowakei und Korea. Die slowakische Germanistin Eva Höhn (Matej-Bel-Universität in Banská Bystrica) bot einen Überblick über die Übersetzungen der Werke von Ingeborg Bachmann in der Slowakei. Sie sprach von der verspäteten Rezeption der Lyrik und der Prosadichtung der Autorin im Nachbarland Österreichs und der Gründe dieser Verspätung. Die Referentin nannte zwei Faktoren dafür: die literarische Situation der fünfziger Jahre und der damalige Zustand der Rezeption der österreichischen Literatur in der Slowakei. Sie erklärte, dass eine durch den sozialistischen Realismus geprägte Kunst kaum Interesse an der Literatur der modernen jungen Autoren zeigte, der Ingeborg Bachmann verpflichtet war. Man bevorzugte in den offiziellen literarischen Kreisen, wie die zahlreichen Übersetzungen bezeugen, die Schriftsteller der älteren Generation - Stefan Zweig und Franz Werfel. Die österreichische Literatur wurde außerdem selten getrennt von der deutschen rezipiert. An der Diskussion nahmen die Zuhörer aus anderen postkommunistischen Ländern aktiv teil, unter anderem, aus Russland und der Ukraine. Sie berichteten von ähnlichen, von der herrschenden Ideologie abhängigen Bedingungen der Annäherung an die europäische Moderne und, dementsprechend, von der dadurch entstandenen zeitlichen Distanz der Übersetzung und Veröffentlichung der Werke von Ingeborg Bachmann vor der Wende.
Das räumliche Panorama der Rezeption und Übersetzung Ingeborg Bachmanns in weit entfernten Ländern und Kulturen hat der Beitrag von der koreanischen Germanistin Jung-Nam Kim (Graz) abgeschlossen. Ihr Beitrag hat den zeitlichen Rahmen von Anfang der 1970er Jahre bis Ende der 1990er Jahre umfasst. Vorerst ging es um den Beginn der Bachmannrezeption in Korea im genannten Jahrzehnt und um die gesellschaftlichen Veränderungen, die die Situation in der Germanistik und die anfängliche Rezeption der österreichischen Autorin beeinflussten. Am Anfang dieser Rezeption stand die Übersetzung des Hörspiels Der gute Gott von Manhattan (1974), der als Lesestoff Erfolg hatte und für die Imagebildung Bachmanns in Korea eine große Rolle spielte. Dieser Erfolg stellte die nächsten Übersetzungen – des Romans Malina und des Erzählbandes Das dreißigste Jahr – in den Schatten. Die Referentin erklärte auch objektive Gründe dafür: das Thema der Sprachskepsis oder Sprachutopie blieb koreanischen LeserInnen damals eher fremd. Für die 80er Jahre waren daher Übersetzungen von Liebeslyrik typisch. Der Rezeption der geschichts- bzw. gesellschaftskritischen Gedichte der Dichterin stand mangelndes Verständnis für die Nachkriegssituation in Europa im Wege. Eine neue Art der Rezeption Bachmanns als einer gesellschaftskritischen und politisch engagierten Autorin begann, so die Referentin, in den 90er Jahre, als neue Übersetzungen und wissenschaftliche Abhandlungen zu ihrem Werk erschienen. Dabei betonte sie, dass der Schwerpunkt der vertieften und detaillierten Bachmannforschungen in dieser Zeit bei der feministischen Interpretation lag, was gesellschaftliche Hintergründe hatte. Zum Schluss des Beitrages war die Rede von der reproduktiven Rezeption Bachmanns in Korea, u. zw., im Werk der koreanischen Lyrikerin Moon-Yol Lee. Als Fazit betonte die Vortragende die Aktualität des Werkes von Ingeborg Bachmann im heutigen Korea, seine Wichtigkeit als Diskussions- und Forschungsthema. Sie meinte, dass dieses Werk "sehr viel Interpretationsmöglichkeiten enthält" und dass es ein literarischer Reichtum sei, "der in ihrer Heimat geschätzt wird".
Diese Worte waren ein angemessener Ausklang der spannenden und kreativen Arbeit während des Tages, der in einer angenehmen und produktiven Stimmung verlief. Das Wiener Treffen von BachmannforscherInnen aus unterschiedlichen Kulturen, die ihr Wissen und Ideen über Übersetzungsverfahren austauschten, wurde zum Beweis der Rolle der Übersetzung als eines weltweiten Kulturkontaktes. Die gelungene Arbeit in der Sektion zeugte erneut vom großen geistigen Potenzial des Oeuvres der Dichterin und seiner allgemeinmenschlichen Bedeutung.
2.6. Übersetzung als Kulturkontakt. Übersetzungsverfahren am Beispiel von Ingeborg Bachmanns Prosa
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-06-04