TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 2.9. Der neoliberale Markt-Diskurs. Zur Kulturgeschichte ökonomischer Theorien im Alltagsdiskurs
Sektionsleiter | Section Chair: Walter Ötsch (Zentrum für Soziale und Interkulturelle Kompetenz und Institut für Volkswirtschaftslehre, Johannes Kepler Universität, Linz)

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Die Rolle der universitären Agrarpolitik und Agrarökonomie
in agrarpolitischen Diskursverläufen

Katrin Hirte (Universität Kassel) [BIO]

Email: katrin.hirte@uni-kassel.de

 

Abstract:

Im nachstehenden Beitrag wird auf die Rolle der deutschen Agrarökonomen in agrarpolitischen Diskursverläufen eingegangen. Der Anlass zur analytischen Durchdringung der agrarpolitischen Diskurse und darin die Rolle der universitären Agrarökonomie ist ein zweifacher: Zum einen demonstrierten die universitären Agrarpolitiker gegenüber der Agrarpolitik 2001 mit neoliberalen Argumenten eine geschlossene Ablehnung des neuen agrarpolitischen Kurses 2001 in Deutschland. Zum zweiten wirft dies – abgeleitet aus der Positionierung 2001, in der für Märkteöffnung und mehr Wettbewerb plädiert wird – die Frage nach den agrarpolitischen Diskursen überhaupt auf, da der Agrarbereich seit 1945 ein Wirtschaftsbereich ist, der massiv geregelt wird. Der angesprochene Grundkonflikt – neoliberale Positionierung einerseits sowie Regelpolitik andererseits – ist im Agrarbereich als dualistische Grundkonstellation angelegt, in dem sich „wissenschaftliche“ Agrarökonomie gegenüber „praktischer“ Agrarpolitik positioniert, wobei die „Wissenschaftler“ nach der Wohlfahrt aller streben und Agrarpolitiker nur nach bestimmten Klientelinteressen. Die Folgen dieser Grundkonstellation sind sowohl diskursiv deutlich zu erkennen (Inszenierung von Negativszenarios oder sogar Katastrophensituationen sowie die ambivalente Stellung der Agrarökonomen selbst, die als Wissenschaftler „Praxis“ nur „beliefern“) als auch institutionell: Wissenschaftliche Agrarpolitik in Deutschland ist mittlerweile Agrarökonomie.

 

Der Anlass:
Universitäre Agrarpolitik versus „praktische“ Agrarpolitik
(1)

Die deutsche Agrarpolitik ist – im Kontext der EU-Agrarpolitik – ein brisantes Dauerthema politischer Auseinandersetzungen. Mit der Erweiterung um ökologische und gesundheitliche Dimensionen (Umweltdebatten seit den 80er Jahren, jüngere Nahrungsmittelskandale) hat diese Brisanz noch zugenommen und dementsprechend werden Vorgänge im agrarischen Bereich von zahlreichen Forschungsarbeiten dokumentiert und begleitet. Was dabei aber bisher kaum näher analysiert wurde, ist der Wissenschaftsbereich der Agrarpolitik selbst – seine Entwicklung, seine Struktur sowie die Auffassungen, die dort vertreten werden – obwohl „praktische“ Agrarpolitik ebenso wie auch das Alltagshandeln vieler wesentlich davon geprägt wird, welche Sicht bzw. weiterführend Wirklichkeitskonstruktion seitens der Wissenschaft geleistet wird.

Dieses Manko ist seit der so genannten Agrarwende 2001 besonders auffällig, denn hier trat die Diskrepanz unterschiedlicher Auffassungen zwischen universitärer und „praktischer“ Agrarpolitik besonders krass zu tage: Der neue Agrarkurs hin zu mehr Verbrauchersicherheit und einer Ökologisierung der Landwirtschaft – von der neuen Ministerin Künast, (die nach dem Rücktritt des Landwirtschaftsministers Funke aufgrund des BSE- Skandals ihr Amt antrat), in ihrer Antrittsrede verkündet – wurde seitens der universitären Agrarpolitik und Agrarökonomie demonstrativ abgelehnt (Erklärung von Agrarökonomen 2001). Hauptargumentation in der Erklärung mit dem Titel „Brauchen wir eine Neuorientierung in der Agrarpolitik?“ war, (wie schon aus der Überschrift erkenntlich), dass es keiner „Agrarwende“ bedarf. Denn die Verantwortung zur Ausbreitung von BSE trage einerseits der Staat, der nicht hinreichend genug kontrolliert, verboten und bestraft habe sowie die Hersteller von Futtermitteln, die Vorschriften nicht beachtet haben. Eine Hinwendung zu ökologischer Landwirtschaft sei daher keine „sachgerechte“ Reaktion auf die BSE- Krise. Zudem widerspreche die angekündigte neue Ausrichtung den Marktgegebenheiten und sei eine „Bevormundung“ der Verbraucher. Befürchtet wird, so der Wortlaut in der Erklärung – dass „unsere Landwirtschaft“ bei einem ökologischen Kurs nicht mehr im „Weltmarktwettbewerb“ bestehen kann. Gefordert seien daher zukünftig „größere Betriebseinheiten“, „der Weg ‚klein und Öko’ führt dagegen in eine Sackgasse“ (Erklärung von Agrarökonomen 2001).

Mit dieser programmatischen Äußerung positionierten sich die Unterzeichner der Erklärung diametral zu den Äußerungen z. B. seitens des Bundeskanzlers Schröder, der Ende November 2000 aufrief, „weg von den Agrarfabriken“ zu kommen (Deutscher Bundestag 2000, 13446).

Diese diametrale Positionierung zwischen „praktischer“ und „wissenschaftlicher“ Agrarpolitik ist nicht neu. In der Erklärung 2001 selbst wird auf dieses Spannungsfeld hingewiesen, indem es dort heißt: „Wir haben keinen Grund, die bisherige Agrarpolitik zu verteidigen, denn wir haben sie oft kritisiert.“ (Erklärung von Agrarökonomen 2001).

Diese kritisierte „praktische“ Agrarpolitik ist nach Auffassung der „wissenschaftlichen“ Agrarpolitiker nicht „sachbezogen“ und „rational“ genug. Wörtlich heißt es in dem einzigen Standardlehrbuch für Agrarpolitik: „Aufgabe wissenschaftlicher Agrarpolitik ist es – allgemein formuliert – auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse zu mehr Sachbezogenheit und Rationalität in der Agrarpolitik beizutragen.“ (Henrichsmeyer/Witzke 1991, 22).

Was mit „wissenschaftlicher Grundlage“ gemeint ist, wurde schon 1977 im Resümee zu „25 Jahre Agrarwirtschaft“, dem führenden deutschen Publikationsorgan der universitären Agrarpolitik und Agrarökonomie, festgehalten: „Zumindest in den elementaren Grundzügen die von den Begründern der „Agrarwirtschaft“ … vertretene neoliberale Wirtschafts- und Agrarpolitik offensichtlich von nahezu allen Autoren der frühen und späteren Jahrgänge beibehalten und implizit oder explizit anerkannt worden (Schmitt 1977, 27).

Nach eigenem Verständnis neoliberal ausgerichtete „wissenschaftliche“ Agrarpolitik versus eine seit Jahrzehnten regelnde und beeinflussende „praktische“ Agrarpolitik (erst Preisbeeinflussung, dann Quotensysteme, dann Direktzahlungen, heute Betriebsprämien – übersichtlich hier z. B. in: Knesebeck/Neumair 2002) – dies weißt auf ein Jahrzehnte langes diskursives Spannungsfeld hin. Nachstehend soll daher nach der Grundstruktur, den Ausprägungen sowie Wirkungen innerhalb dieses Spannungsfeldes gefragt werden. Entsprechend dem Schwerpunkt „Diskurse“ wird dabei auf diskursive Muster und ihre Strukturierung eingegangen.

 

Die Analysen seit 2001:
Dualistisches Herangehen an eine Wirklichkeit

Die ‚sprachlose’ Konsumentenreaktion im Zuge von BSE (das Abstimmen mit dem Portemonnaie), dazu der ‚Aufschrei’ in den Medien (bis hin zu den Bildern über Massentötungen), das ‚Schweigen’ der verantwortlichen Politiker (bis zum ersten BSE-Fall 2000) sowie die ‚Erklärung’ der universitären Agrarpolitiker und –ökonomen (dass es keiner Neuorientierung der Agrarpolitik bedarf) – diese Situation forderte eine diskursbetonte Forschung geradezu heraus.

Bezüglich der Befunde aus diesen bestand aber kein Konsens. Einerseits wurde z. B. noch 2007 von einem Vertreter der universitären Agrarpolitik und -ökonomie die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik gerade ab 1998 (dem Zeitpunkt des ministerialen Antritts von Karl-Heinz Funke) als „positiv“ und als „von Interesse seitens der Agrarpolitik“ gegenüber der Wissenschaft(2) herausgestellt (Thoroe 2007, 118). Andererseits kam es noch nicht einmal 3 Jahre später dann zum politischen Machtwechsel und der Diskurs zum Zeitpunkt der BSE- Krise und anschließender Agrarwende war gerade durch die „Unterrepräsentiertheit der Wissenschaft“ gekennzeichnet (Rehaag/ Waskow 2005, 22ff.).

Ebenfalls auffällig war die grundsätzlich dualistische Ausrichtung auch bei den diskursanalytischen Arbeiten. Ob „öffentliche Ernährungskommunikation“ (Rehaag/ Waskow 2005), „politische Ernährungskommunikation“ (Barlösius/Bruse 2005) oder „reflexiver Dialog von Wissenschaft und Politik“ (Kropp et al 2007) – den Arbeiten lag letztendlich die schon geschilderte dualistische Konzeptionierung Wissenschaft versus Politik zugrunde. Dies ist kein agrarspezifisches Phänomen. So registriert man zwei unterschiedliche „Sprachen“, denen es durch geeignete Übersetzungsleistungen zu begegnen gilt (Priddat 1999, 151 ff.). Es geht um die Einrichtung von „Kommunikationsbrücken“, verstanden als institutionell geregelter Beratungsprozess (Rothschild 1998, 50ff.) oder weiterführend die Realisierung „interdiskursiver Strategien“, (wobei unter letzteren kommunikative Strategien verstanden werden, welche im „Niemandsland“ zwischen Wissenschaft und Politik angesiedelt sind und bei denen keine Diffusion von einer in eine andere Disziplin, sondern eine gemeinsame Analyse- und Lösungsleistung erreicht werden soll (Kalbitzer 2001, 23). Die Problematik differenzierter Sprachgebrauche in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen – (z. B. Kuhn 1973; 1974, 257ff.) soll nicht unterschätzt werden und auch die Bedeutung von Sprache und wurde innerhalb der Wissenschaftssoziologie und -theorie bis hin zum so genannten „linguistic turn“ ausgiebig referiert (explizit zum Verhältnis Wissenschaft und Ökonomie in: Männel 2002, 96ff.). Ebenso aber traten und treten auch deutlich die Grenzen solch dualistisch konzeptionierter Sprachforschung hervor und dies in zweierlei Hinsicht: Auf der Ebene der Kommunikation verbleibend können zum ersten nur begrenzt Deutungsleistungen erbracht werden, wenn die Sprachforschung nicht eine akteurs- oder handlungstheoretische Wendung erfährt. Denn „…um die Wissensordnung von Gesellschaften als permanenten Prozess zu verstehen, müssen … die Praktiken, Akteure und institutionellen Felder untersucht werden, die solche Ordnungen erzeugen, stabilisieren oder transformieren“ (Keller 2008, 17). Zum zweiten ist es notwendig, die dualistische Sicht hinsichtlich der Objektivierung gesellschaftlichen Wissens zu verlassen. (3) Denn auch wenn Wissenschaftlicher und Politiker in verschiedenen Bereichen agieren, konstituieren sie doch letztendlich eine Welt – eine Welt, in der „… theoretische Ideen und Modelle bzw. expertengestützte Wirklichkeitsinterpretationen in das Allerweltswissen der Individuen einsickern und ihre Handlungsweisen mehr oder weniger handlungs- bzw. deutungspragmatisch mitformen…“ (Keller 2008, 183).

Was eine wissenssoziologische Diskursanalyse (Keller 2008) forschungsseitig einfordert – Analyse der theoretischen Ideen und Modelle bzw. expertengestützten Wirklichkeitsinterpretationen, welche in das Alltagswissen einfließen und dieses somit deutungspragmatisch mitformen und dies einschließlich der Analyse der Praktiken, Akteure und institutionellen Felder, die diese erzeugen, stabilisieren oder transformieren – ist nicht nur methodisch anspruchsvolles Programm. Sondern gleichzeitig ist dies auch der methodologische Schlüssel zum Aufsprengen des dualistischen Blocks „Wissenschaft versus Politik“, auf dessen Grundlage sich „Wissenschaft“ letztendlich immer wieder auf ihren vermeintlich „sicheren“ Grundsockel – die der „Wissenschaftlichkeit“ – zurückziehen kann. Dies erfolgt vor allem dann, wenn es in Diskursen um grundsätzliche Positionierungen geht, in denen Theorien und Modelle in den Fokus der Debatten geraten (was zur Agrarwende 2001 erfolgte). „Wissenschaftliche“ Theorien und Modelle werden so – meist auch nicht explizit ausgeführt – zum unhinterfragten Bestandteil dieses Grundsockels „Wissenschaftlichkeit“. Darüber hinaus erhalten die geforderten Konsequenzen daraus (wie z. B. „mehr Markt“, „mehr Wettbewerb“ oder „Globalisierungszwang“), welche langjährig entstandene bzw. inszenierte dynamische Entwicklungsprozesse und in den wirtschaftspolitischen Diskursen Hauptargumente sind, so den Status des „Faktischen“ und die geforderten Ausrichtungen wie „Wettbewerbsfähigkeit“ oder „Marktöffnung“ werden zu unhinterfragten Gemeinplätzen.

Es ist kein Zufall, dass der Grundsockel „Wissenschaftlichkeit“ ausgerechnet seitens der Erkenntnistheorie, Sprachtheorie sowie Wissenschaftssoziologie aufgesprengt wurde. Denn die Einsicht in die Subjektivität, Grenzen und Unbeständigkeit von Wissen, die Subjektgebundenheit der Sprache und die soziologische Durchdringung der Wissenschaftssphäre als eine unter vielen zeigten deutlich die Begrenztheit, Unsicherheit und Machtgebundenheit von Wissen (Männel 2002, 74-162).

In der Ökonomie als eine Disziplin innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften ist das Festhalten an „Wissenschaftlichkeit“ aber nach wie vor zu verzeichnen – ob als „Science“ (in Abgrenzung zu den „Humanities“) oder als „Queen of Social Science“ – die Auffassung ist, dass einzig der Ökonomie gelang, „…einen wissenschaftlich fundierten Zugang zur Erklärung menschlichen Verhaltens…“ bieten zu können (Ötsch/ Panther 2002, 7ff.).

 

Der Dualismus:
Agrarökonomie versus Agrarpolitik gleich Wissenschaft versus Praxis

Innerhalb der Agrarökonomie ist dieses Verständnis ebenso ausgeprägt(4) und dies, seitdem in der agrarökonomischen Disziplin in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts das neoklassische Denken angenommen wurde (Reisch 2000, 412ff.).

Eine wesentliche Stellung bei dm Verständnis der Ökonomie als „Science“ hat die Wohlfahrtstheorie und hier nicht in dem Sinne, dass sie gegenüber anderen Ökonomietheorien besonders bewährt oder tragfähig wäre, sondern in einem ziel- und handlungstheoretischen Kontext: Bestmögliche Effizienz für höchstmögliche Wohlfahrt für alle wird politischem Klientelverhalten gegenübergestellt. Damit ist eine „Erhebung“ der Agrarökonomie über die Agrarpolitik gleich zweifach fundiert – ziel- und handlungsbezogen. Zielbezogen heißt es 1992 kurz und knapp: „Die Agrarökonomen betrachten sich als Anwälte der Allokationseffizienz, die Agrarpolitiker dagegen als die einer bestimmten Verteilungsgerechtigkeit (wofür sie ja wohl auch gewählt werden).“ (Schmitt 1992, 487). Diese Ansicht schließt eine moralische Überlegenheit der Agrarökonomie gegenüber der Agrarpolitik ein. „Moralische Überlegenheit“ ist dabei keine hier vorgenommene ironische Überhöhung, sondern eine von den Agrarökonomen selbst offen vertretene Position, z. B. schon im Titel des Aufsatzes „Agrarpolitik und der Pfad der Tugend“ (Grosskopf 2001) angezeigt, (mit Pfad der Tugend ist dort der „Effizienzpfad“ gemeint ist).

Handlungsbezogen ist die dualistische Konstellation die gleiche. Der Intellektuelle ist der Verfechter des „wahren“: „Der Intellektuelle … könnte durch eine unerbittliche Bestimmung und gegen seinen Gefallen und Willen dazu berufen sein, in dieser Welt die Paradoxie zu vertreten, indem er gegenüber der allgemeinen Meinung, der „doxa“ oder dem Gemeinplatz die wahre Meinung, die „paradoxa“ entdeckt und aufrecht erhält.“ (Niehaus 1962, 6) Der Agrarpolitiker dagegen verficht (nur) bestimmte Interessen: „In der Politik geht es nicht wie in der ökonomischen Wissenschaft um die Befolgung des wirtschaftlichen Prinzips, sondern um die Vertretung von Mehrheitsinteressen oder um das, was dafür angesehen wird. Würde die Mehrheit aufgeklärt und befragt, so würde sie vermutlich vielfach anders entscheiden. Mit dieser zwiespältigen Erkenntnis wird der „Glanz“ und das „Elend“ der wissenschaftlichen Agrarpolitik deutlich, der „Glanz“ nämlich, recht zu haben und den für alle – auch für die Landwirtschaft – günstigsten Weg aufzuzeigen, und das „Elend“, dass dieser Weg bei den praktischen Agrarpolitikern häufig keine Mehrheit findet und deshalb abgelehnt wird.“ (Stamer 1983, 334)

Aus dieser Sicht – „recht zu haben“ – ist es möglich, zu fragen: „Warum die Agrarpolitik ist, wie sie ist, und nicht, wie sie sein sollte“ (Schmitt 1984, 129-136).

Diese Verhältnis- Sicht – einerseits die „recht habenden“ wissenschaftlichen Agrarökonomen und andererseits die praktischen Agrarpolitiker, die nur „Mehrheitsinteressen“ vertreten oder „das, was dafür angesehen wird“ und damit nicht den „günstigsten Weg gehen“ – führt letztendlich auch zu bestimmten langjährigen diskursiven Ausrichtungen.

 

Die diskursiven Ausrichtungen:
Negativszenarios, Katastropheninszenierungen und ambivalente Positionierungen

Eine dieser bestimmten diskursiven Ausrichtungen im Dualismus „praktischer“ Agrarpolitik versus „wissenschaftlicher“ Agrarökonomie ist die ständige Produktion von Negativszenarios seitens der „wissenschaftlichen“ Agrarökonomie.

„Diagnose Hoffnungslos“ hieß beispielsweise 2002 ein Beitrag von Professor Ulrich Koester, Agrarökonom an der Universität Kiel, in dem er damals neuerliche Tendenzen der europäischen und deutschen Agrarpolitik einschätzte. Der Tenor des Artikels – angezeigt in der Überschrift – ist kein Einzelfall. Auch die Beiträge „Die hausgemachte Krise in der Agrarpolitik“ (Koester 1985), „Wege und Irrwege der Agrarpolitik“ (Koester, 1987a), „Durchbruch in der Agrarpolitik oder weiteres Politikversagen?“ (Koester 1987b) oder „Agrarpolitik im Dauerkonflikt mit Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft“ (Koester 1997) und hier – mit Bezug auf Hayek – die Feststellung „Denkbar ist eine Weiterentwicklung auf dem Weg zur Knechtschaft.“ (Koester 1997, 342) zeigen ein andauerndes Negativszenario an. Die Grundaussage lässt sich zusammenfassen in: „Der Patient EU-Agrarpolitik ist schwer krank, aber nicht, weil der Patient eine schlechte Gesundheit hat, sondern weil ihm andauernd und mit zunehmender Dosierung die falschen Medikamente verabreicht werden.“ (Koester 2002, 139) Die, die „ihm“ – dem Patient Europäische Agrarpolitik“ – andauernd falsche Medikamente verabreichen, sind die Agrarpolitiker bzw. die, die von den Agrarökonomen unter „praktische Agrarpolitik“ zusammengefasst werden.

Eine zweite typische Ausrichtung ist die diskursive Inszenierung von Katastrophen, die es abzuwenden gilt. So hieß es zur Agrarpolitik der EU 1980: „Stimmt man der Beurteilung zu, … dann muss ein Kollaps der Gemeinsamen Agrarpolitik als akute Möglichkeit angesehen werden.“(Koester, 1980, 593)

Ein drittes diskursives Kennzeichen innerhalb dieser dualistischen Konstellation ist die ambivalente Stellung der wissenschaftlichen Agrarökonomen selbst im Diskurs. Als „Außenstehende“ der „Praxis“ sind sie je nach Situation „nur Berater“, wenn sie gehört werden, oder die „Ungehörten“, wenn man ihre Position nicht berücksichtigt – ohne die eminent zentrale Rolle der eigenen Ideen und Modelle innerhalb der Diskurse thematisieren zu müssen. Die Spanne der Positionierungen und Ansprüche reicht je nach Situation von „Orientierungshilfe“ geben bis (gescheiterte) „Einflussnahme“. Nach den Erfahrungen der Agrarökonomie in den 50er Jahren, als sie sich mit der Idee freier Preisbildung nicht durchsetzen konnte, hieß es z. B. seitens der Agrarökonomen: „Aus Erfahrung wissen wir, dass unser Einfluss auf die praktische Agrarpolitik nicht besonders groß ist, und dass wir gegen die politischen Triebkräfte ziemlich ohnmächtig sind.“ (Niehaus 1962, 6). Mit dem umgekehrten Anspruch hieß es 2005 in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zur zukünftigen EU-Politik: „Die Wissenschaft kann Verteilungsentscheidungen der Politik, solange diese nicht offenkundig inkonsistent sind oder im Widerspruch zu deklarierten politischen Zielen stehen, nicht als richtig oder falsch bezeichnen. Sie kann lediglich einige Orientierungshilfen geben.“ (Wissenschaftlicher Beirat 2005, 6)

 

Die Folgen:
Von der Dominanzstellung der Agrarökonomie über die Agrarpolitik hin zur Selbstabschaffung

Hinsichtlich der Wissenschaftsstruktur im Agrarbereich ist die erste Folge dieser oben beschriebenen Grundkonstellation, dass die „wissenschaftliche“ Agrarökonomie die „wissenschaftliche“ Agrarpolitik „abgeschafft“ hat, da ja die beste Lösung der „wissenschaftlichen“ Agrarpolitik dem von der „wissenschaftlichen“ Agrarökonomie immer wieder postulierten „Effizienzpfad“ auf dem Weg zu höchstmöglicher Wohlfahrt für alle ist. Die Abschaffung der wissenschaftlichen Agrarpolitik erfolgte dabei als Vereinnahmung. An allen 10 Universitätsstandorten existiert z. B. noch eine Professur für Agrarpolitik, aber diese sind alle von Agrarökonomen besetzt. Bis 2001 saßen auch im Wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik ausschließlich Ökonomen (ausführlicher hier: Hirte 2007, 107ff).

Perspektivisch wird sich in einem zweiten Schritt – so ist zu befürchten – die „wissenschaftliche Agrarpolitik“ als auch Agrarökonomie selbst abschaffen. Denn eine Ökonomie, die Landwirtschaft als einen Wirtschaftszweig wie jeden anderen betrachtet, in dem Märkte wie jede anderen Märkte funktionieren, muss sich die Frage stellen lassen: Warum gibt es dann überhaupt eine solch spezielle Ökonomie – eine Agrarökonomie?

 

Quellen


Anmerkungen:

1 Der Begriff „praktische“ Agrarpolitik in Abgrenzung zur „wissenschaftlichen“ Agrarpolitik ist eine Formulierung seitens der universitären Vertreter der Agrarpolitik bzw. Agrarökonomie (im nachstehenden Beitrag kurz „universitäre Agrarpolitik und Agrarökonomie“ genannt), welche hier übernommen wurde. Die Anführungszeichen sollen dabei betonen, dass der damit verbundenen Grundanschauung – Trennung der Sphären Wissenschaft und Politik nicht kommentarlos gefolgt wird, sondern dass diese Trennung im Gegenteil konstitutives Element der Argumentationen der universitären Agrarökonomie ist – siehe dazu im Beitrag selbst
2 Hier konkret in Form der Arbeit des Wissenschaftlichen Beirates für Agrarpolitik.
3 Neben der dualistischen Ausprägung sind ebenso unterschiedliche Gewichtungen vorzufinden, in der hermeneutischen Wissenssoziologie z. B. in Ablehnung idealistischer Ideengebäude eine einseitige Konzentration auf Alltagswissen: „Allerweltswissen, nicht „Ideen“ gebührt das Hauptinteresse der Wissenssoziologie…“ (Berger/ Luckmann 1980, 16).
4 Und dies, obwohl die agrarischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Deutschland bis heute ein institutionelles Eigendasein führen (dazu schon 1960: Kramer/Sachs 1960, 193ff., aktueller Reisch 2000)

2.9. Der neoliberale Markt-Diskurs. Zur Kulturgeschichte ökonomischer Theorien im Alltagsdiskurs

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For quotation purposes:
Katrin Hirte: Die Rolle der universitären Agrarpolitik und Agrarökonomie in agrarpolitischen Diskursverläufen - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/2-9/2-9_hirte17.htm

Webmeister: Branko Andric     last change: 2010-03-08