Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Februar 2010 | |
Sektion 2.9. | Der neoliberale Markt-Diskurs. Zur Kulturgeschichte ökonomischer Theorien im Alltagsdiskurs Sektionsleiter | Section Chair: Walter Ötsch (Zentrum für Soziale und Interkulturelle Kompetenz und Institut für Volkswirtschaftslehre, Johannes Kepler Universität, Linz) |
Gesellschaftliche Freiheit versus Diktatur der Ökonomie:
Drei Ansichten
Claus Thomasberger (FHTW Berlin) [BIO]
Email: c.thomasberger@fhtw-berlin.de
A. Einleitung
Wie ist es möglich, dass kaum ein Menschenleben, nachdem die Weltwirtschaftskrise die westliche Welt an den Rand des Absturzes gebracht hatte, die Vorstellung, es gäbe keine Alternative zu wirtschaftlicher Globalisierung, Liberalisierung und Privatisierung, wieder die Oberhand gewinnen konnte? Wie konnte es soweit kommen, dass sich seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts führende Vertreter der Wirtschaftswissenschaften das neoliberale Bild zu eigen machen, wir hätten keine Alternative zu dem Weg, der durch die marktwirtschaftliche Entwicklung vorgezeichnet ist; dass – trotz des insgesamt wachsenden Reichtums – der Abbau der sozialen Errungenschaften unvermeidlich ist und dass Umweltzerstörung und Klimawandel Erscheinungen sind, die durch den Preismechanismus automatisch zum Besten gewendet werden? Woher kommt die Forderung eines blinden Vertrauens in die Wunderwirkungen des Marktmechanismus, die mit dem Eifer eines religiösen Feldzugs propagiert wird? Warum werden gleichzeitig die Versuche, die menschliche Urteilskraft einzusetzen, als illusorisch und utopisch zurückgewiesen? Wo ist die Zuversicht in die Fähigkeiten, aus den Fehlern zu lernen, geblieben? Und schließlich: Wie kann das Vertrauen in die menschliche Freiheit, in die Urteilskraft, in unser Vermögen, das Schicksal in unsere Hände zu nehmen und die Fähigkeit, eine bessere Gesellschaft zu errichten, zurück gewonnen werden?
Die hier aufgeworfenen Fragen liegen außerhalb des Rahmens der Problemstellungen, mit denen sich Wirtschaftswissenschaftler normalerweise auseinandersetzen. Sie zielen auf die sozialphilosophischen Voraussetzungen, die deren Modellen und Argumentationsmustern zugrunde liegen. Im Kern geht es um die Frage der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen. Der geistesgeschichtliche Hintergrund der Idee der gesellschaftlichen Freiheit steht im Mittelpunkt des folgenden Beitrags. Ich werde zunächst kurz auf den Ursprung bzw. die Vorgeschichte der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen zu sprechen kommen, bevor ich mich dem eigentlichen Thema zuwende, den (zumindest so denke ich) drei wichtigsten Interpretationen der Idee der gesellschaftlichen Freiheit des Menschen sowie der Rolle, die diesen im wirtschaftswissenschaftlichen Denken während der letzten 150 Jahre zugekommen ist. Eine Warnung vorweg: Das Folgende ist keine abgeschlossene Arbeit, sondern zunächst nicht mehr als ein erster, noch sehr vorläufiger Beitrag, in dem ich versuche, etwas Licht in den Dschungel der verschiedenen Interpretationen zu bringen.
B. Die Vorgeschichte
Die Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen ist ein Produkt der Überwindung des Glaubens an eine göttliche Ordnung, ein Kind der Aufklärung: Die Idee, dass Knechtschaft, Unterdrückung und Ausbeutung durch den Umsturz der alten Gesellschaft überwunden werden können, veränderte die Termini, in der die Auseinandersetzung um die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung geführt wurde. Von Anfang an sind wir mit rivalisierenden Interpretationen der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen konfrontiert.
Tatsächlich hatte die kühne Idee, die gesellschaftliche Freiheit des Menschen zum Maßstab der Beurteilung der gesellschaftlichen Ordnung zu machen, ihre Grundlagen in der gewaltigen Freiheitsbewegung, die in der Renaissance ihren Anfang nahm, in den Strömungen der Reformation ihre Fortsetzung und schließlich in der Aufklärung ihren Höhepunkt fand. Die Entwicklung, die die demokratischen Gesellschaftsordnungen der westlichen Welt hervorbrachte, war von einer optimistischen und zuversichtlichen Interpretation der gesellschaftlichen Freiheit des Menschen getragen, von der erwartungsvollen Hoffnung, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, die Gesellschaft frei nach seinem eigenen Wunsch und Willen, nach seinen eigenen Vorstellungen und nach menschlichen Idealen zu gestalten.
Die modernen Auffassungen des Staats wie der Wirtschaft verdanken ihre Entstehung der optimistischen Vorstellung. Der Mensch hat die Fähigkeit, die Gesellschaft nach seinen eigenen Idealen zu gestalten: deshalb kann er frei sein. Die grundlegende Idee kommt vielleicht in Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag’ am deutlichsten zum Ausdruck, wenn er gleich im ersten Kapitel formuliert: „Die gesellschaftliche Ordnung ist ein geheiligtes Recht, das allen anderen zur Grundlage dient. Trotzdem stammt dieses Recht nicht von der Natur, es beruht also auf Vereinbarungen“. Voltaire, Rousseau, Hobbes und Kant legten die Grundsteine für die Vorstellung, dass die gesellschaftliche Ordnung nicht das Ergebnis natürlicher, d.h. von der menschlichen Einflussnahme unabhängiger Kräfte war, sondern menschlichen Ursprungs. Was von Menschen geschaffen war, konnte von Menschen auch verändert werden.
Die Reaktion von konservativer und reaktionärer Seite führte dagegen ins Feld, dass die Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen eine illusorische und höchst gefährliche Vorstellung sei, die die gesellschaftliche Ordnung gefährde. Konservative Kommentatoren, Staatsphilosophen, Historiker und Politiker versuchten so, den Ideen der Aufklärung und den demokratischen Bestrebungen entgegenzutreten. Die Argumentationsfigur findet sich schon in den Reden und Schriften von Edmund Burke und wurde dann im 19. Jahrhundert von zahlreichen Schriftstellern – es mag genügen, hier Lord John Russel, Lord Macaulay, Alexis de Tocqueville und Lord Acton zu erwähnen – aufgegriffen und weiterentwickelt. Die konservative war eine im Kern pessimistische Interpretation. Der Mensch, wenn seiner Freiheit überlassen, war nach dieser Sichtweise nicht in der Lage, nach eigenem Willen zu agieren, ohne die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens zu zerstören. Der Orientierung an Traditionen und Autoritäten bedurfte es, um die Menschen vor den Folgen ihrer Torheit und Selbstüberschätzung zu bewahren. Wer die Autorität der Überlieferung nicht akzeptierte, riskierte Verfall und Chaos.
C. Die erste Interpretation
Einzug in das wirtschaftsliberale Denken hielt die Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Beginnen wir mit dem, was ich als die erste Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen bezeichnen möchte. Ihre Protagonisten waren die Väter der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie mit Leon Walras an der Spitze. Walras in Lausanne, Jevons in England und Wieser in Wien griffen auf die Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen zurück, um ihre Anschauungen gegen die naturalistischen Argumentationsmuster, die nach Ricardo, Malthus und Say das wirtschaftswissenschaftliche Denken erobert hatten, durchzusetzen.
Wie konnte der Aufstieg der Marktordnung erklärt werden, ohne auf die Vorstellung von Naturgesetzen zurückzugreifen? Walras’ Antwort auf diese Frage ist eindeutig: “The appropriation of scarce things or of social wealth is a phenomenon of human contrivance and not a natural phenomenon. It has its origins in the exercise of the human will and in human behaviour and not in the play of natural forces … it is within our power to determine whether this appropriation shall be carried on in one way rather than in another. … the appropriation of things by persons ... is a relationship among persons ... the mode of appropriation depends on human decisions”. Das war der Kern des Gegenprogramms zu den naturalistischen Argumentationsmustern der Klassiker. Die Aufklärung hatte den Schlüssel geliefert. Eigentum und Märkte waren keine Naturphänomene. Sie gründeten in freien menschlichen Entscheidungen – und in menschlichen Entscheidungen alleine. Die gesellschaftliche Freiheit der Menschen war die Grundlage der Marktordnung.
Um das Programm des ökonomischen Liberalismus des auslaufenden 19. Jahrhunderts mit Inhalt zu füllen, bedurfte es der Bestimmung eines allgemein gültigen Ziels, von dem man annehmen konnte, dass es von allen vernünftigen Menschen als sinnvoll anerkannt und akzeptiert wurde. Walras und seine Mitstreiter griffen hier auf den Utilitarismus zurück, der das wirtschaftsliberale Denken längst erobert hatte. Die Idee des Reichtums – als Nutzenmaximum definiert – übernahm diese Funktion. Im Gegensatz zur Argumentation der Klassiker erschien der wachsende gesellschaftliche Reichtum daher nicht mehr nur als Resultat der Entwicklung, sondern auch als Finalursache (causa finalis). Die kausale Argumentation der Klassiker wurde durch eine wesentlich finale Beweisführung ersetzt.
Das Allgemeine Gleichgewicht wurde zum Springpunkt der Argumentation, weil es ein ‚comune bonum’, einen ‚Grundsatz des allgemeinen Besten’ zum Ausdruck brachte, d.h. jenen idealen Zustand, der mit dem ‚größten Glück der größten Zahl’ assoziiert werden konnte. In der Vorstellung der Anhänger des utilitaristischen Liberalismus des auslaufenden 19. Jahrhunderts konnte die wirtschaftliche Ordnung in ihrem Kern, d.h. soweit von allen historischen und akzidentellen Erscheinungen abstrahiert wurde, nichts anderes sein als ein menschliches Werk, als das Resultat der freien, vernünftigen und verantwortungsvollen Entscheidung von Menschen, das eben dieses Ideal realisierte.
Es mag paradox erscheinen, aber wenn sich die Erklärung der Marktordnung auf die Annahme stützt, dass die Menschen die Fähigkeit haben, die wirtschaftliche Ordnung vollständig nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten, so rückt die Frage, warum es Erscheinungen gibt, die eben dieser Zielsetzung widersprechen, d.h. es rücken die Phänomene, die nicht als Resultat menschlichen Wunsches verstanden werden können, ins Zentrum der Analyse. Das, was der Freiheit entspricht, erscheint als selbstverständlich. Nicht die Freiheit, sondern die Abweichungen vom Ideal einer freien Gesellschaft bedürfen einer Erklärung. Die Unterdrückungstheorie der Freiheit folgt fast unausweichlich aus der optimistischen Annahme einer letztendlich alleine nach menschlichem Wunsch gestalteten Gesellschaft.
Die Protagonisten des wirtschaftsliberalen Denkens setzten darauf, jene Faktoren, die die Freiheit unterdrückten, als akzidentelle, unmaßgebliche und unwesentliche Abweichungen des Marktergebnisses vom Optimum zu erklären. Fast notwendigerweise war eine solche Interpretation, die die Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen absolut setzte, eine Laisser-faire-Theorie. Es musste der Eindruck entstehen, als genüge die Beseitigung der Faktoren, die der Freiheit im Wege standen, um das Optimum hervortreten zu lassen. Wenn alle die menschliche Freiheit unterdrückenden Faktoren beseitigt sind, kommt die Marktordnung von alleine zum Durchbruch. Oder wie Walras formulierte: Welcher Art die Umstände, welche die Nützlichkeit beschränken, „auch sein mögen, man trägt ihnen zur Genüge Rechnung, indem man zu dem Schlusse gelangt, dass sie, soweit es angängig ist, zu beseitigen sind”.
Die Kritiker des Kapitalismus sahen dies logischerweise anders. Letztere betrachteten die Unterdrückung der Freiheit nicht als akzidentell, sondern als das wesentliche Merkmal der marktwirtschaftlichen Ordnung. Nicht nur Karl Marx und Friedrich Engels, auch Otto Bauer, Otto Neurath, Rosa Luxemburg, Rudolf Hilferding und viele andere interpretierten die unmenschlichen Auswirkungen als Beleg dafür, dass die Marktordnung der Realisierung menschlichen Wunsches und Willens grundsätzlich im Wege stand. Der kapitalistische Charakter der wirtschaftlichen Ordnung erschien ihnen als der entscheidenden Unterdrückungsmechanismus.
Wurde die wirtschaftliche bzw. gesellschaftliche Ordnung für die Unterdrückung verantwortlich gemacht, so war die logische Konsequenz die Forderung nach einer umfassenden gesellschaftlichen Umwälzung. Im Grunde bewirkte die Verabsolutierung der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen auch hier, dass diese die Form einer Laisser-faire-Theorie annahm, sozusagen die revolutionäre Variante derselben. Es genügte – so die Hoffnung –, den Unterdrückungsapparat, d.h. die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und das Privateigentum an Produktionsmitteln, zu beseitigen, um die freie Gesellschaft hervortreten zu lassen. Dass die kapitalismuskritischen Kräfte dann, als sie gefordert waren, de facto mit leeren Händen dastanden, hat hier ihre Ursache. Und dass schließlich in der Sowjetunion, nachdem sich die planwirtschaftliche Strömung durchgesetzt hatte, der Staat nicht, wie von Marx proklamiert, abstarb, sondern zur Kommandozentrale über Wirtschaft und Gesellschaft ausgebaut wurde, zeigt, wie weit die Unterdrückungstheorie der Freiheit von jeder realistischen Alternative entfernt war.
Die Laisser-faire-Haltung, die sowohl der wirtschaftsliberalen wie auch der postmarxistischen Interpretation gemein war, implizierte nicht nur eine Geringschätzung der staatlichen Institutionen, sondern auch eine Vernachlässigung der Bedeutung demokratischer Formen der Willensbildung, Wenn die Wirtschaft als eine autonome, sich selbst regulierende und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit beherrschende Sphäre gezeichnet wird, so erscheint der Staat notwendigerweise als sekundärer Bereich, als Teil des gesellschaftlichen ‚Überbaus’. Zwar ist der Glaube an die Möglichkeit einer Gesellschaft, die auf menschlichen Wünschen und Intentionen gründet, eine im Kern demokratische Einstellung. Nichtsdestotrotz musste sich die Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Formen der Willensbildung in dem Moment als verhängnisvoll erweisen, als der illusorische Charakter der Laisser-faire-Haltung zutage trat.
Ungeachtet der politischen Unterschiede, ja der geradezu gegensätzlichen Einschätzung der Marktordnung stimmten die Anhänger des utilitaristischen Liberalismus und die Postmarxisten insoweit überein, als beide an die Möglichkeit einer Gesellschaft glaubten, die alleine auf menschlichen Wünschen und Intentionen basierte. Beide zeichneten ein mehr als harmonisches Bild, in der letztendlich Macht und sonstige Erscheinungen, die nicht auf menschliche Intention zurückzuführen waren, keinen Platz fanden. Die Möglichkeit, dass der Wille des einzelnen und der Wille des anderen miteinander in Konflikt gerieten, dass der besondere Wille und der Gemeinwille nicht notwendigerweise zusammen fielen oder dass die Menschen vielleicht unterschiedliche Zielvorstellungen verfolgten, blieb zunächst jenseits des Horizontes. Während Walras, Jevons und Wieser die Marktordnung als das optimale Arrangement nachzuweisen versuchten, argumentieren Otto Bauer, Otto Neurath, Rudolf Hilferding und Nicolai Bukharin, dass nicht der anonyme Marktprozess, sondern alleine die gemeinschaftlich-bewusste Planung des gesamten Wirtschaftsprozesses als vernünftig betrachtet werden konnte.
Und es sind gerade diese Gemeinsamkeiten, die, glaube ich, verantwortlich dafür sind, dass beide sich täuschen und dass beide denselben Missverständnissen aufsaßen. Das Problem scheint mir weniger die Bezugnahme auf die Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen an sich als vielmehr die Art und Weise, in der diese erfolgte. Meine Vorbehalte richten sich gegen die Verabsolutierung der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen, gegen eine Interpretation, die von der Annahme ausgeht, es könne eine Gesellschaft geben, in der die menschliche Freiheit die einzige und absolute Grundlage des menschlichen Zusammenlebens darstellt. Ich vermute, dass die Verabsolutierung der gesellschaftlichen Freiheit zur Konsequenz hat, dass die Interpretation notwendigerweise in einem unlösbaren Widerspruch mündet.
Oder anders formuliert: Die logische Crux des utilitaristischen Liberalismus (wie des Postmarxismus) besteht darin, von der Annahme auszugehen, dass die Menschen frei sind, die gesellschaftliche Ordnung alleine nach ihren Wünschen und Intentionen zu formen, um ihnen dann zu sagen, wie bzw. welche Ordnung sie vernünftigerweise wählen müssen.
Das Problem kann, befürchte ich, keine Lösung finden. Wird die gesellschaftliche Freiheit der Menschen verabsolutiert, so verliert sie jeden Sinn und löst sich in Unbestimmtheit, Beliebigkeit und Willkür auf. Jeder Versuch, dem Sinnverlust entgegenzuwirken, kann nur bedeuten, auf irgendeine besondere Weltanschauung, Ideologie oder Philosophie zurückzugreifen. Warum aber die eine oder die andere Anschauung, das eine oder andere höchste Ziel, das ‚größte Glück der größten Zahl’ oder die ‚wahre menschliche Gesellschaft’, Vorrang genießen sollen, wird zu einem unlösbaren Problem.
Und in der Tat sollte es nicht lange dauern, bevor deutlich wurde, dass es unmöglich war, das Nutzenoptimum in objektiven, wissenschaftlichen Termini zu definieren. Die Verteilung (der sog. ursprünglichen Ressourcen) erwies sich, aus wirtschaftsliberaler Perspektive betrachtet, als die Achillesferse der Konstruktion. Die ‚Krise des ökonomischen Liberalismus’, die auch durch den Rückzug auf den ‚Ziel-Mittel-Ansatz’ nie wirklich überwunden werden konnte, hatte ihren Kern letztendlich in der Unmöglichkeit, in objektiven Termini ein Ziel zu bestimmen, das hätte erklären können, warum vernünftige Menschen die Marktordnung wählen mussten. Damit hatte die finale Argumentationsfigur ihre Voraussetzungen verloren.
D. Die zweite Interpretation
Die zweite Interpretation, die ich hier diskutieren möchte, beginnt dort, wo die Rettung des Wirtschaftsliberalismus mittels der Substitution der optimistischen durch die pessimistische Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen zum Programm erhoben wurde. Sie mündet in dem, was wir heute als Neoliberalismus bezeichnen. Der Neoliberalismus ist und bleibt eine wirtschaftsliberale Position. Die Erklärung bzw. Rechtfertigung der Marktordnung ist sein wesentlicher Inhalt. Aber er unterscheidet sich von dem utilitaristischen Liberalismus dadurch, dass er nicht nur das Nutzenoptimum als Zielsetzung ablehnt, sondern sich auch gegen jedes menschliche Ziel ausspricht, ja das finale Argumentationsmuster als Ausdruck menschlichen Übermutes zurückweist. Die Marktordnung ist kein Resultat menschlichen Willens, so die zentrale Überzeugung. Was nicht von Menschen bewusst geschaffen wurde, kann auch von Menschen nicht bewusst verändert werden. Daher der pseudo-religiöse Unterton. Hochmut kommt vor den Fall. Jeder Versuch, die Grenzen des Menschenmöglichen zu überschreiten, wird bestraft. In anderen Worten: Der Neoliberalismus nutzte die Achillesferse des utilitaristischen Liberalismus, die Verabsolutierung der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen, aus. Aber er machte nicht den Versuch, diese Schwäche wirklich zu überwinden. Er bemühte sich niemals, nach den Grenzen der Freiheit zu suchen oder auch nur die Frage aufzuwerfen, wie diese hinausgeschoben werden konnten. Anstelle dessen bezog er die unmittelbare Gegenposition, verneinte die Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen bzw. wies diese als eine Anmaßung zurück.
Vielleicht kann der Neoliberalismus am besten als eine Reaktion auf den utilitaristischen Liberalismus einerseits, die planwirtschaftlichen Vorstellungen andererseits begriffen werden, eine Reaktion, die derjenigen von Burke, Lord Russel, Lord Macaulay, Lord Acton und Alexis de Tocqueville gegenüber den Ideen der Aufklärung ähnlich war. Die Substitution der optimistischen Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen durch die pessimistische Interpretation verbindet die Protagonisten des Neoliberalismus mit Burke und seinen Nachfolgern. Hayek brachte dies am klarsten zum Ausdruck, als er die Vorstellung, „der Mensch sei imstande, die Welt rund um sich nach seinen Wünschen zu gestalten”, als „verhängnisvolle Anmaßung“ bezeichnet.
Trotz dieser Anleihe ist der Neoliberalismus nicht per se konservativ. Die Gemeinsamkeit beschränkt sich darauf, dass beide die Unverzichtbarkeit von Einrichtungen, die nicht menschlicher Zielsetzung entspringen, verteidigen. Er unterscheidet sich von den konservativen und reaktionären Kräften, insofern er gegenüber der optimistischen Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen nicht einfach die traditionellen Einrichtungen, sondern die Unverzichtbarkeit eines Systems preisbildender Märkte, das durch den Staat flankiert wird, ins Feld führt. Die menschliche Demut erfordere, so die Forderung, sich mit der ‚Realität des Marktsystems’ abzufinden.
Der historische Ausgangspunkt des neoliberalen Denkens war das ’roten Wien’. Ludwig Mises kann als ihr erster Vertreter bezeichnet werden. In seinen Beiträgen zur ‚Debatte über die sozialistische Rechnungslegung’ sowie in seinem Buch ‚Gemeinwirtschaft’ entwickelte er das neoliberale Argumentationsmuster zum ersten Mal in systematischer Form. Friedrich Hayek folgte seinen Spuren. Einen zweiten Anknüpfungspunkt fand das neoliberale Denken in Walter Lippmanns Buch ‚Die Gesellschaft freier Menschen’, das 1936 in den USA veröffentlicht wurde. Beide Strömungen fanden zusammen anlässlich des sogenannten ‚Walter Lippmann Colloquiums’, das 1938 in Paris stattfand und das sowohl Hayek als auch Mises zu seinen Teilnehmern zählte. Da hier der Begriff ‚Neoliberalismus’ geprägt wurde, kann es mit einem gewissen Recht als die Wiege des Neoliberalismus betrachtet werden. Die Mont Pèlerin Society (MPS), von Hayek nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen, versuchte, an dieser Tradition anknüpfend, die Basis zu erweitern und ganz unterschiedliche Kräfte – von Lionell Robbins über Walter Rüstow, Wilhelm Röpke, Michel Polanyi, Karl Popper bis zu Milton Friedman, um nur einige Namen zu nennen – in die Initiative einzubeziehen.
Trotz der Heterogenität der neoliberalen Positionen, die viele Kritiker des Neoliberalismus bis heute verwirrt, hat die Substitution der optimistischen durch die pessimistische Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen drei Konsequenzen, die so etwas wie den ‚harten Kern’ des Neoliberalismus ausmachen. Betrachten wir diese nacheinander.
a. Anerkennung von Marktsystem und Privateigentum
Von den Marxisten übernahm der Neoliberalismus die Vorstellung, dass es gerade die Marktordnung war, die nicht als Resultat menschlicher Wünsche und Intentionen, sondern als ein ‚Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs’ betrachtet werden musste. Aber damit endet die Gemeinsamkeit. Lippmann brachte es auf den Punkt: Smith hatte recht und Marx hatte unrecht, so sein Argument. Nicht auf die ‚kapitalistische Form’ kam es an, sondern auf die Arbeitsteilung, die durch die industrielle Revolution in ungeheurem Maße gefördert worden war, und die Komplexität der darauf gründenden wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen. Mises und Hayek unterstrichen demgegenüber mehr die unverzichtbare Rolle des Privateigentums für die moderne Zivilisation. Aber gemeinsam war ihnen die Vorstellung, dass sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen ließ. „Die neue Produktionsweise ist ungleich nutzbringender. Sie ist im Existenzkampf unverhältnismässig wirksamer. Wer sie annimmt, wird nicht nur reicher als die anderen, sondern überrennt und beherrscht diese. Darum wird die Revolution ihren Fortgang nehmen“. Daher auch der kämpferische Elan, mit dem die Vertreter des Neoliberalismus bis heute auftreten. Sie glauben, das Geheimnis des Fortschritts entschlüsselt und ‚die Geschichte’ auf ihrer Seite zu haben.
b. "Planung für den Markt"
‚Laisser-faire’ war konsequent, solange der ökonomische Liberalismus entweder auf die ökonomischen Naturgesetze vertraute oder von der optimistischen Überzeugung beflügelt war, es genüge, die Hindernisse zu beseitigen, um die Marktordnung hervortreten zu lassen. Beide Anschauungen waren dem Neoliberalismus fremd. Die pessimistische Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen implizierte umgekehrt, dass die Marktordung als etwas verstanden werden musste, das sich ‚spontan’, sozusagen ‚hinter dem Rücken’ der Menschen, durchgesetzt hatte. Schon deshalb bestand jederzeit die Gefahr, dass sie, sobald sie sich dessen bewusst wurden, auf eine Reform drängen würden, um sie im Sinne ihrer Interessen und Wünsche umzuformen.
Die Gefahr erschien umso größer, als die Marktordnung erst durch die Unterdrückung oder Beherrschung der ‘natürlichen’ Instinkte des Menschen möglich wurde. Lippmann unterstrich, dass die Anpassung an die neue Wirtschaftsform nicht weniger als „eine völlige Umstellung der menschlichen Natur und der menschlichen Gewohnheiten erfordert“. Hayek ging von der Vorstellung aus, dass der Fortschritt, der die Zivilisation überhaupt erst möglich machte, wesentlich institutionell bedingt war, charakterisiert durch den Ausweitung objektiver, sachlicher Beziehungen zwischen den Menschen und die Zurückdrängung unmittelbarer und persönlicher Beziehungen. “Die angeborenen Instinkte des Menschen sind nicht für eine Gesellschaft geschaffen wie die, in der er heute lebt“. Eine solche Einschätzung aber erlaubte eindeutig keine Politik des Laisser-faire.
Lippmann geißelte die Lehre des Laisser-faire als den „Kardinalfehler des Liberalismus des 19. Jahrhunderts”. Hayek schlug in die gleiche Kerbe, als er betonte: „Nichts dürfte der Sache des Liberalismus so sehr geschadete haben wie das starre Festhalten … an dem Prinzip des Laissez-faire“. Sollte die Marktordnung bewahrt werden, so bedurfte es zielgerichteter Interventionen seitens der Gesellschaft bzw. des Staats. Planung für den Markt, oder, in Hayeks Worten, „Planung zum Zwecke des Wettbewerbs“ lautete daher seine Parole von Anfang an. Die Markt- bzw. Eigentumsordnung selbst wurden zum Ziel konstruktiver und rationaler Intervention.
Neoliberalismus bedeutete nicht notwendigerweise eine marktfundamentalistische Haltung. Was ‚Planung für den Markt’ konkret bedeutet, konnte (und kann) sehr unterschiedlich ausgelegt werden. Alexander Rüstows Kritik der „maßlosen Überschätzung und Überbewertung der Wirtschaft“ oder seine Forderung eines „Erbausgleichs zur Sicherung der wirtschaftlichen Startgleichheit“ hatten wenig gemein mit den Positionen, die Milton Friedman später bezog. Auch Lippmanns Vorschlag einer radikalen Reform der Einkommensverteilung, die darauf zielte, dass „es keine arbeitslosen Einkommen mehr geben“ sollte, würde heute im neoliberalen Lager kaum auf Zustimmung hoffen können. Dass sich die Gewichte innerhalb des Neoliberalismus in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Richtung marktfundamentalistischer Positionen verschoben, dürfte dennoch mit so etwas wie einer ‚inneren Logik’ zusammenhängen, die dem Motto des ‚Planens für den Markt’ inhärent ist. Der Markt ist das Ziel. Der Staat – oder die politische Macht – ist das Mittel, um das Ziel, die Marktordnung, zu sichern. Einerseits muss angenommen werden, dass der Staat die letztendlich entscheidende Institution ist (sonst könnte man zu Laisser-faire zurückkehren und ‚Planung’ wäre unwesentlich). Andererseits ist dieses Mittel nicht neutral. Es ist ein Übel, wenn auch ein notwendiges Übel. Aber gerade, weil ein notwendiges Übel, muss es so weit als möglich reduziert, auf die Kernaufgaben beschränkt werden. Popper nannte dies das ‚Paradoxon des staatlichen Planens’.
c. Beschränkung der Demokratie
Die negative Haltung gegenüber der Idee der gesellschaftlichen Freiheit, die Skepsis gegenüber den Wünschen und Intentionen der Menschen findet ihren Ausdruck auch und vor allen Dingen in der Einschätzung der Demokratie. Hayek formulierte den Grundgedanken folgendermaßen: „Der Liberale meint, dass es für den Bereich der Fragen, die so (durch Mehrheitsbeschluss – CT) entschieden werden sollen, bestimmte Grenzen gibt“. Der Markt ist das Ziel, die politische Form ist ein bloßes Mittel, um dieses Ziel zu realisieren. „Demokratie ist kein letzter oder absoluter Wert und muss danach beurteilt werden, was sie leistet. Sie ist … nicht Ziel an sich“. Trotz aller theoretischen Differenzen auf anderen Feldern ist Milton Friedmans Position der Hayekschen an diesem Punkt sehr ähnlich. Demokratie – Friedman spricht in ‚Kapitalismus und Freiheit’ bezeichnenderweise vom ‚Majoritätsprinzip’ – ist für ihn daher lediglich „ein Hilfsmittel und keine Grundprinzip“.
Das Misstrauen der Protagonisten des Neoliberalismus gegenüber demokratischen Regierungsformen hat ihre Wurzeln darin, dass letztere immer die ‚Gefahr’ einschließt, dass die Planung zum Zwecke des Eigentums und der Marktlogik in Frage gestellt wird. Es ist dies keine bloß theoretische Frage. Was ‚Planung für den Markt’ praktisch heißt, wurde deutlich, als die Chicago Boys, Milton Friedman eingeschlossen, keine Skrupel kannten, als sich die Möglichkeit bot, Diktatoren wie Pinochet in Chile oder Deng Xiaoping in China ihre Unterstützung anzubieten, soweit letztere nur versprachen, eine gesellschaftliche Ordnung zu errichten, die auf preisbildenden Märkten und Privateigentum aufbaute. Das Problem hier ist, dass eine solche Politik nicht im Widerspruch zu den Grundprinzipien des Neoliberalismus steht, sondern nichts anders ist als die konsequente Umsetzung eben dieser Prinzipien.
Der Neoliberalismus, wenn konsequent umgesetzt, ist ein autoritärer Ansatz, der in einer Diktatur der Ökonomie mündet. Seine Logik impliziert, die ‚Planung für den Markt’ im Konfliktfall auch gegen die Mehrheit der Menschen durchzusetzen. Und es ist nicht nur die Angst davor, dass die Menschen in ihrem Eifer die Grenzen der gesellschaftlichen Freiheit nicht anzuerkennen bereit sind. Es ist auch die Angst der Eigentümer, die durch die Marktordnung privilegiert sind. Die Interessen der Privilegierten verstecken sich hinter der Funktionslogik des Marktmechanismus. Die ‚Planung für den Markt’ kann eben auch als Schutzwall missbraucht werden, um Privilegien zu verteidigen. Es ist eine der grundlegenden Schwächen des Neoliberalismus, hier nie eine Trennungslinie gezogen zu haben.
Seinen autoritären Anspruch stützt der Neoliberalismus auf den Glauben, wissenschaftlich bewiesen zu haben, dass jeder Gebrauch, den andere von der Idee der gesellschaftlichen Freiheit machen, (oder jedes andere Ziel, das nicht ‚ Markt’ heißt) die westliche Zivilisation, Wohlstand und Freiheit zu zerstören droht. Aber das, scheint mir, ist nicht nur ein Missbrauch der Autorität der Wissenschaften, sondern auch keine geringere Anmaßung als die, die er selbst dem utilitaristischen Liberalismus oder den Anhängern zentralwirtschaftlicher Planung zum Vorwurf macht. Dass die gesellschaftliche Freiheit des Menschen Grenzen hat und dass die Verabsolutierung der Freiheit zur Zerstörung der Freiheit führen kann, wissen wir seit Platon. Aber daraus folgt nicht, dass alleine die Marktordnung einen Ausweg aus dem Dilemma bietet.
Die neoliberale Argumentation hält einer seriösen Überprüfung ihres logischen Gehalts genauso wenig stand wie die des utilitaristischen Liberalismus. Die logische Crux des Neoliberalismus kann folgendermaßen formuliert werden: Sie besteht darin, von der Annahme auszugehen, dass die Menschen im Grunde keine Wahl haben, dass sie ihre gesellschaftliche Ordnung nicht gewählt haben und nicht wählen können, um ihnen dann zu sagen, welche Ordnung sie wählen müssen.
Auch dieser Widerspruch ist unlösbar. Wird die gesellschaftliche Freiheit verneint, so bleibt keine Wahl. Jeder Versuch, den Gang der Entwicklung zu beeinflussen, erscheint dann als sinnlose Anmaßung. Um der Sinnlosigkeit zu entgehen, muss angenommen werden, dass Handlungsalternativen bestehen. Der Neoliberalismus versucht dieses Dilemma zu umgehen, indem er willkürlich a) alle menschlichen Ziel als subjektiv zurückweist und b) die Alternative auf die beiden sachlichen Pole Staat versus Markt einschränkt – aber nur, um auch diese Alternative sofort wieder zu leugnen. Der Widerspruch ist unlösbar, so vermute ich, weil die Frage falsch gestellt ist. Das Problem, ob die Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen real ist oder nicht, kann nicht beantwortet werden. Es macht weder Sinn, voraussetzen, dass die gesellschaftliche Freiheit der Menschen absolut ist, noch dass sie überhaupt nicht existiert. Die Ablehnung der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen ist nicht weniger willkürlich als ihre Verabsolutierung. Beides sind unbegründete und haltlose Setzungen.
Die falsche Fragestellung hemmt unsere Phantasie und unser Denken und verhindert so fruchtbare und weiterführende Problemformulierungen. Sie schränkt unsere Kreativität ein und beeinträchtigt die Suche nach vernünftigen Antworten angesichts der grundlegenden Herausforderungen, vor denen wir heute stehen. Glücklicherweise aber gibt es keinerlei Notwendigkeit, die Frage in diesen Termini zu stellen. Wir können sie durch andere Fragen ersetzen, wie z.B. die folgenden: Wie weit reicht die gesellschaftliche Freiheit des Menschen? Wie können wir sie am besten verteidigen? Und was können wir tun, um Freiheit der Menschen zu vergrößern?
E. Die dritte Interpretation
Nun gibt es nicht nur die beiden bisher vorgestellten, sondern darüber hinaus eine dritte Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit. Die dritte Interpretation erkennt an, dass die wirtschaftliche bzw. gesellschaftliche Ordnung kein Arrangement ist, das auf menschliche Wünsche und Intentionen zurückgeführt werden kann. Mehr noch: Sie akzeptiert ebenso die Erkenntnis, dass keine menschliche Gesellschaft denkbar ist, die alleine auf menschlichem Willen aufbaut. Sie erkennt an, dass die menschliche Vernunft und Voraussicht beschränkt sind, dass wir nie alle Konsequenzen unserer Handlungen voraussehen können und dass unsere Handlungen daher auch immer dazu tendieren, unerwartete und nicht beabsichtigte Wirkungen hervorzubringen. Die ‚Verdinglichung’ menschlicher Beziehungen – und das gilt auch für staatliche Macht und Herrschaft sowie preisbildende Märkte – sind in einer entwickelten, komplexen, auf der Teilung der Arbeit basierenden Gesellschaft, unvermeidbar. Eine Gesellschaft, die ausschließlich auf unmittelbaren, persönlichen Beziehungen zwischen Menschen aufbauen würde, wäre unter den modernen Bedingungen weder realistisch noch wünschenswert. In all diesen Punkten stimmt die dritte Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen mit dem Neoliberalismus überein. Aber sie unterscheidet sich von diesem dadurch, dass sie an der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen festhält. Mit anderen Worten: sie substituiert das neoliberale Motto der ‚Planung für den Markt’ durch den Leitgedanken der ‚Planung für die Freiheit’.
Wie die erste, so hat auch die dritte Interpretation ihren Ursprung in der Aufklärung. Die Aufklärung hatte sich von Anfang an nicht darauf beschränkt, Modelle einer idealen Gesellschaft zu entwerfen, die alleine dem menschlichen Geist entsprangen. Die Protagonisten der Aufklärung – und das gilt für Rousseau nicht weniger als für Voltaire – waren auch die Vorkämpfer einer kritischen Geisteshaltung, die die gesellschaftliche Realität, die sie umgab, in Frage stellten. Deswegen waren sie gefürchtet und wurden von den Autoritäten geschmäht. Betrachten wir die Aufklärung aus dieser Perspektive, so wird deutlich, dass die Idee eines Gesellschaftsvertrags lediglich als regulative Idee, als Norm diente, die herangezogen werden konnte, um die Unfreiheiten und Zwänge der europäischen Gesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts ins Rampenlicht zu rücken. Die menschliche Vernunft und die Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen waren für sie Instrumente, um die bestehende Ordnung zu kritisieren und einen Weg zu beschreiben, der es erlauben sollte, die menschliche Freiheit und Autonomie zu vergrößern. Die Protagonisten der Aufklärung wussten sehr wohl, dass die gesellschaftliche Ordnung ihrer Zeit ihrem Ideal nicht entsprach. Menschliche Intentionen und Wünsche, ja die Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen selbst, waren gerade deshalb bedeutsam, weil Wirklichkeit und Ideal auseinander fielen, weil die gesellschaftliche Realität, in der sie lebten, in wesentlichen Teilen nicht auf menschlichen Intentionen und Vernunft aufbaute. Die kritische Seite kann von dem Projekt der Aufklärung nicht getrennt werden. Es ist diese kritische Dimension der Aufklärung, an der die dritte Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen anknüpft.
Obwohl die dritte Interpretation die gesellschaftliche Entwicklung in nicht geringerem Maße beeinflusst hat als die ersten beiden, gibt es für sie bisher keinen allgemein akzeptierten Namen. In der Vergangenheit haben sich ihre Anhänger meist als ‚demokratische’ oder ‚liberale Sozialisten’ bezeichnet. Aber der Begriff ‚Sozialismus’ ist, fürchte ich, durch die Art und Weise, in der er in der Sowjetunion missbraucht wurde, diskreditiert. Ich werde im Weiteren daher schlicht von der ‚dritten’ oder von der ‚kritischen’ Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen oder einfach dem ‚kritischen Ansatz’ sprechen.
Auch ist sie mit keinen so schillernden Namen verknüpft wie die ersten beiden. Ihre bedeutendsten Protagonisten waren und sind jene sozialen Bewegungen, die sich für die Protektion der Menschen sowohl vor den negativen Auswirkungen des Marktmechanismus als auch vor den Übergriffen der staatlichen Machtapparate eingesetzt haben. Zu ihren Trägern gehören Initiativen der verschiedensten Art, die Gewerkschaften, Parteien, Frauenbewegungen, Umweltschutzgruppen, Aktivisten für eine humanere Form der Globalisierung und viele andere mehr. Die moderne Demokratie, die Zivilgesellschaft, die soziale Marktwirtschaft – kurz: die westliche Zivilisation – wären ohne sie undenkbar. Und dennoch ragen einige Namen heraus, z.B. die von Marx als ‚utopische Sozialisten’ diffamierten Sozialreformer, insbesondere Robert Owen, der Gründer von ‚New Lanark’. Im 20. Jahrhundert wäre Karl Polanyi hervorzuheben.
Karl Polanyi, der die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zu seiner erzwungenen Emigration 1933 in Wien verbrachte, hatte die Entwicklung des liberalen, des planwirtschaftlichen, des sozialistischen und die Geburt des neoliberalen Denkens aus allernächster Nähe verfolgt. Schon zu Beginn der zwanziger Jahre veröffentlichte er zwei Aufsätze, in denen er sich kritisch sowohl mit Mises’ Artikel ‚Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen’ wie auch den planwirtschaftlichen Vorstellungen auseinandersetzte und beiden gegenüber die Möglichkeit der sozialistischen Rechnungslegung aus gildensozialistischer Perspektive verteidigte. In einem Mitte der zwanziger Jahre in Wien gehaltenen Vortrag entwickelte er, sich auf den Begriff der Verantwortung stützend, seine Kritik am liberalen bzw. bürgerlichen Freiheitsbegriff. Auch in seinen weiteren Schriften und Vorträgen zunächst in Wien, später in England und Amerika spielte das ‚Problem der Freiheit’ eine herausragende Rolle. Um hier nur sein bekanntestes Werk, das 1944 veröffentlichte Buch ‚The Great Transformation’, herauszugreifen: In dem mit ‚Freiheit in einer komplexen Gesellschaft’ überschriebenen Schlusskapitel von ‚The Great Transformation’ grenzt er seine Position einerseits gegenüber dem utilitaristischen Liberalismus ab, andererseits auch gegenüber dem Faschismus und dem Neoliberalismus. Polanyis Argumentation impliziert die Vorstellung, die ‚Realität der Gesellschaft’ anzuerkennen und dennoch „den Anspruch auf Freiheit“ zu erheben. „Friede und Freiheit müssen die erklärten Ziele der Gesellschaft werden“. Die gesellschaftliche Freiheit als Zielsetzung der gesellschaftlichen Intervention, die ‚Planung für die Freiheit’, ist das Kennzeichen der dritten Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen.
Damit aber kommen wir zum Kern der dritten Interpretation: Was ist das Ziel, das die ‚Planung für die Freiheit’ zu erreichen sucht? Wie sieht eine freie Gesellschaft aus? Und ist diese dritte Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen in der Lage, die Widersprüche, in denen sich die ersten beiden Interpretationen verfingen, zu überwinden?
Ich glaube, die einzig mögliche Antwort auf diese Fragen ist: Es gibt verschiedenartige Vorstellungen einer freien und guten Gesellschaft. Von Thomas Morus’ ‚Utopia’ bis zu Friedmans ‚Kapitalismus und Freiheit’ ist sie immer wieder beschrieben worden. Aber gerade die Vielfalt hat zur Konsequenz, dass keine Beschreibung Autorität beanspruchen kann. Es gibt mannigfache Ziele, die von den Menschen angestrebt werden, aber es gibt nicht das Ziel, das den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erheben kann. Reichtum, allgemeiner Wohlstand, ein bestimmter Lebensstandard, soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und vieles andere mehr sind legitime Ziele. Aber jeder Versuch, das Ziel oder die freie Gesellschaft zu definieren, geht entweder ins Leere oder sie läuft darauf hinaus, eine besondere Definition mit dem Schein der Allgemeingültigkeit auszustatten. Die Antwort, denke ich, kann daher nur lauten: Die Frage nach der konkreten Gestalt einer freien Gesellschaft ist falsch gestellt. Sie ist nicht nur missverständlich oder ungenau formuliert, sondern beruht auf einer grundlegenden Verkennung des Problems. Sie geht von der irreführenden Annahme aus, als müsse irgendein konkretes Modell, irgendeine konkrete Zielbestimmung Autorität beanspruchen können. Aber vielleicht ist dies gar nicht notwendig. Der dritten Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen unterliegt der Vorschlag, die Frage nach dem konkreten Inhalt der Freiheit durch eine andere Frage zu ersetzen: Welche Wege und Möglichkeiten gibt es, die Unfreiheiten sichtbar zu machen und zu überwinden?
Insofern ist die dritte Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen ein im Kern kritischer Ansatz. Freiheit bedarf keiner Autoritäten. Sie bedarf lediglich der kritischen Kraft jedes Einzelnen. Denn auch, wenn es unmöglich ist, eine freie Gesellschaft zu beschreiben, so ist es weit einfacher, die Unfreiheiten, die uns am härtesten drängen, verschiede Formen der Unterdrückung und der Knechtschaft zu erkennen. Alle Utopien einer guten Gesellschaft sind wertvoll, insofern sie als regulative Ideen herangezogen werden, um Unfreiheiten sichtbar zu machen. Gerade weil eine objektive oder endgültige Antwort auf die Frage, wie eine freie oder gute Gesellschaft aussehen soll, unmöglich ist, so können wir die Fragen wie die folgenden stellen und beantworten: Welches sind bedeutsame Unfreiheiten? Wie – und bis zu welchem Punkt – können wir diese überwinden? Gibt es einen Weg, die Grenzen unserer Freiheit hinauszuschieben?
Der kritische Ansatz betrachtet die demokratische Form der Willensbildung nicht nur als Mittel für einen anderen Zweck, sondern als einen notwendigen und unverzichtbaren Aspekt einer nach Freiheit strebenden Gesellschaft. Die Unfreiheiten können von denjenigen am ehesten identifiziert, angezeigt und gebrandmarkt werden, die von ihnen betroffen sind. Nur ‚das Volk’ – betrachtet hier nicht im Sinne eines homogenen Körpers, sondern in all seiner Vielfalt, Mannigfaltigkeit und Vielstimmigkeit – kann die Unfreiheiten in all ihren Formen deutlich machen und Wege und Möglichkeiten aufzeigen, wie diese reduziert oder überwunden werden können. Entscheidend ist, dass nur das Volk in seiner Gesamtheit, d.h. alle, die unter den Unfreiheiten leiden, darüber urteilen können, welches die drückendsten Unfreiheiten sind und welche Schritte unternommen werden müssen, um diese abzubauen.
So wie sich die Menschen heute gegen Unfreiheit, Unterdrückung und Zwänge sachlicher wie persönlicher Art zur Wehr setzen, so taten sie es auch in der Vergangenheit. Karl Polanyi hat in ‚The Great Transformation’ eindrucksvoll gezeigt, dass die gesellschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert nur verstanden werden kann, wenn wir die beide Seiten der Doppelbewegung – nicht nur die Ausweitung des Marktsystems, durch den Liberalismus gefördert und vorangetrieben, sondern auch den Kampf der Menschen gegen die destruktiven Kräfte des Marktmechanismus im Namen von Freiheit und Demokratie – in die Analyse einbeziehen. Die dritte Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen ist weder mit einem Verständnis der menschlichen Geschichte in Termini historischer Gesetze vereinbar, noch mit jener einer sozialen Evolution, in der die Anpassung an die sich verändernden Umweltbedingungen im Vordergrund steht. Auf die Menschen kommt es an, auf ihre Ideen, Initiativen und Aktivitäten. So offen die Zukunft, sowenig kann auch die Vergangenheit als eine in irgendeiner Weise notwendige, von freien und selbstverantwortlichen menschlichen Entscheidungen unabhängige Entwicklungslinie gezeichnet werden.
Und schließlich: Die dritte Interpretation der Idee der gesellschaftlichen Freiheit der Menschen ist nicht Teil der pessimistischen Interpretation, denn sie schließt die Aufgabe ein, die Freiheit zu verteidigen und zu vertiefen. Einzuräumen, dass die gesellschaftliche Freiheit des Menschen kein objektiver Zustand, sondern eine zutiefst menschliche Idee ist, ist nicht gleichbedeutend damit, diese als willkürliche und subjektive Vorstellung beiseite zu schieben. Es bedeutet lediglich anzuerkennen, dass wir alle mit unseren Handlungen, ob uns dessen bewusst sind oder nicht, dazu beitragen, Unfreiheiten, Zwänge und andere nicht-intendierte Ergebnisse hervorzubringen. Aber die Ideen von Unfreiheit und Zwang, von Ausbeutung und Knechtschaft schließen die Idee einer freien Gesellschaft immer schon ein. Letztere ist die Norm, das Ziel, die regulative Idee, die wir immer wieder verfehlen.
2.9. Der neoliberale Markt-Diskurs. Zur Kulturgeschichte ökonomischer Theorien im Alltagsdiskurs
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