Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | September 2008 | |
Sektion 3.1. |
Culture sans frontières / Kultur ohne Grenzen / Culture without Borders Sektionsleiterin | Section Chair: Gertrude Durusoy (Izmir) |
Gertrude Durusoy (Izmir)
Email: g_durusoy@yahoo.fr
Im 20.Jahrhundert wurde das Paradigma Leben durch viele Entwicklungen auf dem technischen sowie sozialen Bereich mit neuem Gehalt versehen und zwar wird das Leben - volens nolens - durch eine Flut von Informationen aus der nahen Umwelt sowie aus den entferntesten Ländern überschwemmt. Die Einwirkungskraft eines Ereignisses auf das Bewusstsein eines Menschen unterscheidet sich je nach kulturellem Niveau, sozialer Umgebung, innerer Aufnahmebereitschaft des Einzelnen, nach der Intensität der persönlichen invasiven Probleme oder noch nach den eigenen Erlebnissen, auf die sich äussere Geschehnisse pfropfen.
Gerade in diesem Zusammenhang haben Concha García und Maria Cinta Montagut, Begründerinnen des Vereins "Mujeres y Letras" (Frauen und Literatur) in ihrer Einleitung der Publikation zum jährlichen Treffen 2004 der Lyrikerinnen in Barcelona mit dem Thema "Hacia el saber de la poesia" die Haltung der Poesie in unserer Zeit folgenderweise geschildert:
"Wir wissen, dass in diesen Zeiten, wo uns die Informationen abhängig machen, wobei sehr oft mögliches Nachdenken wegen der Geschwindigkeit, mit der sich diese Nachrichten verbreiten, unsichtbar gemacht und diesem Denken keine Zeit geschenkt wird, dass also die Poesie eine der urältesten Kommunikationsformen dessen ist, was nicht die Wirklichkeit als solche ist. Sie ist ein Fenster, welches auf eine Landschaft der Wahrnehmung anderer Welten und anderer Kulturen, anderer Gedanken und anderer Stellungnahmen hin öffnet. Schliesslich handelt es sich um eine Sprache, die eine Schönheit auf alles wirft. Aber keine isolierte, existenzfremde Schönheit, sonst würde das Gedicht seine Aufgabe nicht erfüllen." (1)
Ist aber der Mensch ein Dichter, ein Lyriker bzw. eine Lyrikerin, wird dieser Mensch auf eine andere Art und Weise diese von aussen her sein Leben beeinflussenden Ereignisse auffassen bzw. darauf reagieren und sie mehr oder weniger schriftlich festhalten.
Ganz kurz muss hier vorgemerkt werden, das ich eigentlich unter Leben ein bewusstes Erleben verstehe. Die Fragestellung lautet dann: ist die Poesie geeignet, als Wahrnehmungsform des Lebens anzutreten? Dies wollen wir sofort an einem 1993 erschienenen lyrischen Text der Autorin nachlesen, denn Maria Cinta Montagut hat die Handlung "leben" im ersten Gedicht aus dem dritten Teil von Par folgenderweise charakterisiert, wobei aber auch die Grenzen des Erlebens schon deutlich zum Ausdruck kommen:
I
Vivre est un visage qui manque
Hélène DorionVivir
es comprender el cuerpo que habitamos,
conocer el complejo de sus ríos internos,
el fluir de sus aguas hacia el mar
de otro cuerpo,
de otras horas y días,
de otro azar.
Vivir
es la aventura secreta de descubrir el mundo
que se esconde en las últimas células
en el cuarto que te inventa de noche
cuando atraviesas el muro que te impide
ser otro cuerpo,
otras horas y días,
otro azar.
Vivir
es la palabra y su espejo. (2)
Da weder dieser Band noch die anderen auf Deutsch vorhanden sind, haben wir das spanische Original jeweils übersetzt. Die Autorin benutzt keinen Titel sondern lediglich Ziffern für die Reihung der Gedichte. Meines Erachtens handelt es sich dabei um den Willen, den Leser durch eine Überschrift in keine besondere Richtung lenken zu wollen; der Lesende wird direkt mit dem Text konfrontiert, ohne irgendeine - sei sie auch flüchtig - Vorstellung vom Inhalt des Gedichtes zu bekommen bzw. durch sie abgelenkt zu werden. Diese gewollte Nüchternheit zeugt eigentlich vom Respekt des Lesers, der über eine totale Freiheit in seiner Auseinandersetzung mit Inhalt und Form des Gedichts verfügt.
I
Vivre est un visage qui manque
Hélène DorionLeben
ist das Verständnis des von uns bewohnten Körpers,
die Kenntnis der Komplexität seiner inneren Ströme,
des Flußes seiner Gewässer hin bis zum Meer
eines anderen Körpers,
anderer Stunden und Tage,
eines anderen Zufalls.
Leben
ist das geheime Abenteuer, die Welt zu entdecken,
die sich bis in die allerletzten Zellen verbirgt,
in das Zimmer, welches dich nachts erfindet,
als du die Wand durchquerst, die dich daran hindert,
ein anderer Körper zu sein,
andere Stunden und Tage,
ein anderer Zufall.
Leben
ist das Wort und sein Spiegel.(3)
Hier ergeben sich einige Bemerkungen, die rein auf der Andersartigkeit der Sprachen beruhen. Im Spanischen ist "vivir" nur die Infinitivform des Verbs, als Substantiv heisst es "vida". Dieses Gedicht bietet also, wie ersichtlich, drei Definitionen des Aktes "vivir" (leben) in je einem Satz eingebettet. Jedesmal wird das Absolute des "es" verwendet und nicht "está", was die vollständige Deckung, die Übereinstimmung, ja die Identität zwischen "vivir" und seiner Definition hervorhebt.
Im ersten Fall wird die metaphysische Essenz des Lebens dargestellt, es handelt sich im Falle des Körpers um ein "conocer" , die Erkenntnis, und ein "comprender" , das umfassende Begreifen. Das Ich wird in der 1. Person Plural ausgedrückt "habitamos", das bedeutet, dass das Verhältnis zwischen Ich und Körper auf der Ebene der Erkenntnis all diejenigen betrifft, die diesen Text lesen bzw. hören. Nach der Wahrnehmung des Körpers und seiner Komplexität bietet uns Maria Cinta Montagut eine neue Dimension, diesmal die Wahrnehmung der Welt durch das Ich, die als ein geheimes Entdeckungsabenteuer dargestellt wird. Diese Welt ist wiederum ein von Hindernissen gesäumter Prozess, denn das Ich versucht dabei den Anderen, das Andere in der Zeit, bzw. einen anderen Zufall zu entdecken, dabei dutzt sie es "te inventa", "cuando atraviesas", "te impide". Bei ihrer dritten Definition des Lebens benutzt sie eine lapidarische Formulierung, "Vivir / es la palabra y su espejo"/ , einen originellen Ausdruck, der sprachphilosophisch reich an Gehalt ist, denn er kann uns bis Plato führen, der zwar nicht von Spiegel sondern von Schatten sprach, um das Reelle vom Wahrgenommenen zu unterscheiden.
In diesem Gedicht erleben wir eingehend das Verfahren Maria Cinta Montaguts beim Schreiben, den Versuch, die Totalität des Seins zu erfassen trotz der ständigen Barrieren innerhalb des eigenen Körpers und in der Kommunikation mit dem Anderen. Hier kann man sogar eine Affinität mit Paul Celan feststellen, der einem Gedichtband als Titel Sprachgitter gegeben hat, weil eben das Wort, "la palabra" bei Montagut, nicht imstande sei, all das auszudrücken, was das Leben ist; weil das Ich nie ganz zum Du findet. Diese Unzulänglichkeit des Wortes sieht Montagut als den Spiegel, die Spiegelung des Wortes. Das Leben sei deshalb für sie beides: "das Wort und sein Spiegel".
2007 nimmt die Lyrikerin zum Akt des Dichtens folgende Stellung ein:
" (…) , ich bin überzeugt, dass ich versucht habe, etwas Persönliches zu schaffen und zwar eine Darstellung der realen Welt, die mich umgibt und der Welt meiner Vorstellungen.
Wenn ich Poesie verfasse, gehe ich davon aus, dass jedes Werk eine Deutung ist und dass derjenige, der es verwirklicht, immer in einem Zwischenraum arbeitet, auf diesem Gebiet, wo die Dinge nicht definiert sind bzw. wenn sie es auch sind, scheinen sie fähig, vom Neuen definiert zu werden In einem meiner Gedichte sage ich: "Das Übertreten ist immer / eine Voraussetzung." Das meine ich, wenn ich sage, dass man in einem Zwischenraum arbeiten muss, denn übertreten bedeutet, sich in ein no man's land zu begeben, wo die Dinge, in diesem Falle die Wörter sich in ihrem Gebrauch, ihrem Sinn und ihrem Nutzen verwandeln."(4)
Diese Aussage ist in zwei Hinsichten aufschlussreich und zwar diagnostiziert die Lyrikerin dabei einerseits den kreativen Akt als solchen : die eigene Darstellung der realen und der persönlichen fiktiven Welt, andererseits aber diese besondere 'Arbeit' (trabajo) in einem 'Zwischenraum', 'intermedio' - wie sie es nennt - einem "territorio en el que las cosas no están definidas", und gerade da geschieht die Wahrnehmung und ihr verbaler Ausdruck, dessen poetische Formulierung zu einer neuen Vision, zu einer "redefinición" der Realität und des Imaginären führt.
In ihrer "Poetica" liefert Maria Cinta Montagut auch ihre Wahrnehmung des Lesers, indem sie dieses vorausgesetzte Übertreten einer Grenze, diese "transgresión" - die für sie eine conditio sine qua non des Schaffens bedeutet - auch als notwendig bei der Rezeption des lyrischen Textes begreift, indem sie sagt:
"Derjenige, der schreibt, befindet sich genauso wie derjenige der irgendein Kunstwerk herstellt, zwischen seinem eigenem Ich und dem Ich desjenigen, der dieses Werk rezipiert, da eine Vermittlung zwischen Werk und Rezipient zustandekommt. Dieser Mensch ist nicht neutral, da er einen realen Körper mit seinen verschiedenen Bestimmungen von Rasse, Farbe, Kulltur, Geschlecht oder Geschlechtspraxis besitzt, ausserdem verfügt er über einen fantastischen bzw. einen aus der Vorstellungskraft entsprungenen Körper, wobei beide während des ganzen Leseaktes anwesend sind." (5)
Hier kann man die selten so deutlich formulierte Dynamik eines Kunstwerkes erkennen und zwar den Niederschlag, die Wirkung eines literarischen Textes auf einen für den Autor fremden Menschen. Gerade dort sehe ich die Aufhebung der Grenzen zwischen den Kulturen, denn trotz Unterschiede ergibt sich eine Berührung - im Geiste und Maria Cinta Montagut spannt dabei auch den Körper ein - bzw. eine Vorstellung des Gelesenen beim Rezipienten, dem für die Autoren unbekannten Ich. Im Falle des übersetzten Gedichtes gilt die Aussage der Autorin um so mehr, denn das Ich des Lesers reagiert auf das Wahrgenommene, auch wenn es Gleichgültigkeit auslöst - besonders bei der ersten Lektüre. Da merkt man, dass die Poesie als solche, auch wenn sie kulturgefärbt ist, nicht kulturbedingt ist.
Wenden wir uns nun einem anderen Gedicht zu, welches in Hinsicht auf die Wahrnehmung des Lebens als Alltag, als Liebeserfahrung und besonders der Zeit auffallend ist. Die Schlichtheit der Aussage, die Wortwahl und der Rhytmus des Textes zeugen einerseits von Erlebtem aber andererseits verleihen sie dem lyrischen Text eine Universalität, die durch die subtile Abstrahierung einer konkreten Realität direkt in das Erlebnis und seine Wahrnehmung führen. Es handelt sich um das dritte Gedicht des ersten Teils aus dem Band El transíto del día:
III
Una historía, cualquiera, es una suma
de instantes que volaron,
de tardes soñolientas,
un vaso medio lleno,
un recuerdo,
y el sentimiento y la consciencia
de que se ha ido el tiempo.
Pero también la vida
y ese cosquilleo entre los dedos
que llamamos amor, y, algunas veces,
deseo solamente,
cuando no exige el precio
del tiempo compartido ni la espera.
Y tambiéla la añoranza de los besos perdidos,
de los días felices,
de todas las ciudades visitadas.
Y tener la certeza, sin embargo,
de que siempre la historía continúa
con la voracidad del día,
con la anchura del mar. (6)
In unserer Übertragung :
Eine Geschichte, irgendwelche, ist eine Summe
von weggeflogenen Augenblicken,
von schläfrigen Nachmittagen,
ein halbvolles Glas,
eine Erinnerung
und das Gefühl und das Bewusstsein,
dass die Zeit einfach weg ist.
Aber auch das Leben
und dieses Kitzeln in den Fingern,
das wir Liebe nennen oder manchmal
nur Verlangen,
wenn es nicht den Preis
einer geteilten Zeit noch des Wartens fordert.
Und auch die Sehnsucht nach den verlorenen Küssen,
nach den Tagen des Glücks,
nach all den besuchten Städten.
Und trotzdem sich dessen gewiss zu sein,
dass die Geschichte dauernd weiter schreitet
mit der Gefrässigkeit der Tage,
mit der Weite des Meeres.
Die geschilderten Begebenheiten entsprechen sehr deutlich der Auffassung, die uns Maria Cinta Montagut in ihrer Poetica liefert :
"Ich denke, dass man die poetische Erfahrung als eine globale Erfahrung erleben soll und nicht nur als eine Erfahrung des Konzeptualisierens oder des geistigen Objektualisierens sondern auch als eine Lebenserfahrung in ihrer Totalität als eine geistige, körperliche, emotionale Aktivität, u.a." (7)
Die Autorin erfasst hier einerseits die Achse Zeit - Leben - Geschichte und andererseits die Antennen, die diese Zeit, dieses Leben und diese Geschichte wahrnehmen und zwar das Gefühl und das Bewusstsein. Damit sehen wir, dass durch die Reihung von alltächen Nichtigkeiten wie "weggeflogene Augenblicke" oder "schläfrige Nachmittage" diese Reihung auf die geistige Ebene der "Erinnerung" übergeht . Das Erleben der Liebe oder "nur" des Verlangens bietet die Gelegenheit, eine Brücke in die Zukunft durch den Einsatz der "Sehnsucht" zu schlagen. Das empfundene und reflektierte Bewusstsein der Geschichte als Historie ist überwältigend, eine Tatsache, die die Lyrikerin durch einen bidlreichen Abschluss zum Ausdruck bringt, denn die "Gefräßigkeit der Tage" gilt als Wiederaufnahme der ersten Verse, die von einer individuellen - "eine Geschiche" - aber überall gültigen Beziehung zur Zeit in die Menschengeschichte überhaupt mündet.
Erstaunlich wirkt, wenn man sich in Maria Cinta Montaguts Gedichte einliest, ihr Verhältnis zum Schweigen. Eines ihrer Werke trägt sogar den Titel Teoría del silencio also Theorie des Schweigens. Diese Bezeichnung klingt mehr nach einer philosophischen Abhandlung als nach einem Gedichtband… , wo sie ihre Definition des Schweigens u.a. im folgenden Gedicht gibt :
I
Es un río interminable el silencio
en cuyas aguas sólo la vida,
sólo los minutos cada día aprendidos
traducen el destino y lo anuncian
más allá de la muerte.
También es río el camino del mar
como la sangre o las palabras.
Pero sólo el silencio es la suma
de todo cuanto el tiempo ofreció
y negó el tiempo. (8)
In unserer Übertragung:
Das Schweigen ist ein endloser Fluß
in dessen Gewässern nur das Leben,
nur die jeden Tag erlernten Minuten
das Schicksal übertragen und es verkünden
weit jenseits des Todes.
Fluß ist auch der Weg des Meeres
genau wie das Blut oder die Wörter.
Aber nur das Schweigen ist die Summe
von all dem, was die Zeit bot
und die Zeit leugnete.
Das Auffallende bei der Lyrikerin ist, dass sie hier eine Verbindung zwischen dem “Schweigen” und der “Zeit” herstellt und zwar eine organische, wie es deutlich aus den drei letzten Versen der Strophe vorgeht. Elemente der Zeit waren aber schon am Anfang zu erkennen, in jedem “Tag” und den erlebten “Minuten” , die das menschliche Schicksal bestimmen und zwar sogar jenseits des “Todes”. Für den Menschen bedeutetet das Schweigen - in der Auffassung von Maria Cinta Montagut – die Totalität der positiven “ofreció” sowie der negativen “negó” Verhältnisse im Leben, die ganz unabhängig vom menschlichen Willen, von seinen Gefühlen eigentlich seinen Zustand zu bestimmen scheinen.
Die Autorin wird im folgenden Gedicht noch präziser, indem sie einen Schlüssel zum Rätsel / “Labyrinth”/ bietet:
II
Se conoce el silencio
por su presencia opaca,
por su llenarlo todo con ausencia,
con números escritos en una servilleta
robada en un café.
Con nombres, con heridas.
Pero no basta conocerlo.
No basta hundir la frente en su cintura
ni besar suavemente sus pupilas
ni sus rendidos labios.
Vencedor de las sombras el silencio es la vida
y habrá que construirlo con sangre y derrotas,
cuerpo a cuerpo,
hasta encontrar la puerta del laberinto. (9)
Das Schweigen erkennt man
an seiner undurchsichtigen Anwesenheit,
an seinem Füllen von allem mit Abwesenheit,
mit Ziffern, auf einer Serviette gekrizelt,
die gestohlen wurde in einem Café.
Mit Namen, mit Wunden.
Es zu erkennen, reicht nicht.
Es reicht nicht, die Stirn in seine Taille zu versenken,
sanft seine Pupillen
und seine erschöpften Lippen zu küssen.
Das Schweigen als Sieger über die Schatten ist das Leben
und es wird es ausbauen müssen mit Blut und Niederlagen,
Körper gegen Körper,
bis die Tür zum Labyrinth gefunden wird.
Dieses Gedicht voll Paradoxen entspricht der Wahrnehmung einer Grunderkenntnis und zwar des Bewusstseins, des Erlebens des Schweigens, das eine Realität für sich darstellt: und dabei eine “undurchsichtige Anwesenheit” aufweist. Im Laufe des Gedichtes erfahren wir zwar mehrere seiner Aspekte, jedoch kommen wir einer Tatsache näher: dem permanenten also lebenslangen Ringen, welches wiederum keine Lösung hervorbringt, sondern nur den Zugang zu einem noch größeren Rätsel ermöglicht. Für Maria Cinta Montagut bedeutet das Leben des Einzelnen immer eine Auseinandersetzung, eine Entdeckung und ein Ringen zugleich. In demselben Band behauptet sie “Para vencer la soledad /sólo el silencio.”(10) d.h. “Um die Einsamkeit zu besiegen/ nur das Schweigen.”
Diese Auffassung und dieser Kontext bringen die Lyrikerin, wie wir es schon erwähnt haben, sehr nahe an Paul Celan (1920-1970) und seinen Band “Sprachgitter” heran, wo er zwar durch Worte und Wörter den Leser darauf aufmerksam macht, dass eigentlich die Sprache ein Hindernis sei, ein Gitter, zwischen einem Ich und einem Du, dass sie nicht imstande sei, das Wesen des Erlebten zu formulieren. Das Schweigen gewinnt auch bei ihm eine eigene Bedeutung, er spricht sogar von “Zwei / Mundvoll Schweigen” im Gedicht, das seinen Namen dem Band verliehen hat, um auf die Kommunikationslosigkeit von Mensch zu Mensch hinzuweisen. (11)
Wir merken aber, dass Maria Cinta Montagut im Gegensatz zu Paul Celan an die Rezipienten ihrer Poesie denkt, indem sie ihren Akt des Schreibens auch folgenderweise definiert:
"Das Schreiben benutzt immer einen Weg vom Logos, welches es ausdenkt und ausdrückt, bis zum Logos hin, welches es weiterträgt, jenseits der Zeit und der Entfernung. […] Das Schreiben hört nicht auf, eine durch ihr Wesen selbst sich wandelnde Annäherung an die Spaltung eines Sinnes zu sein, um einen neuen Sinn zu schaffen." (12)
Damit erreicht sie wieder das philosophische Denken in ihrem Nachdenken, ihrem Reflektieren über das Poetische überhaupt. Diese ihre Sprachphilosophie (13) wird in ihrem 2006 erschienenen Band La voluntad de los metales noch deutlicher; dort wie in all ihren Werken erkennt man, was sie in ihrer Poetica mit folgenden Wörtern ausdrückt:: "…. Das Gedicht ist immer die Transkription einer Emotion, die einen Begriff durchgequert hat und diese Transkription geschieht mit dem Wort als Rezipient." (14) Hiermit dürfen wir also keine Emotion im herkömmlichen Sinne erwarten, sondern lyrische Texte, deren Emotionen erst bei der Autorin zum Begriff geworden sind und dabei eine einmalige und erstaunliche Nüchternheit im Rahmen einer durch den Krieg geprägten Thematik aufweisen. Das Phänomen des Krieges bzw. der Attentate jeder Art gehört leider in vielen Teilen der Welt zum Alltag und das Leben mit dieser Form des Alltags, der Gewalt überhaupt gehört eben so zum Stoff der Lyrik wie das Erleben der Liebe oder die Auseinandersetzung mit der Zeit.
Maria Cinta Montagut äußerte sich am 30.August 2007 in einer Mail sehr offen zur Thematik dieses Werkes. Sie schrieb: “La voluntad de los metales es un libro sobre la guerra, los atentados, la violencia en general del mondo contemporaneo frente a la que los seres humanos aparecen como víctimas silenciosas que soportan toda esa violencia que parece no tener final. En este sentido es un texto en el que se muestra la impossibilidad de la esperanza. No hay futuro. Las mujeres son, sobre todo, las receptoras úitimas de esa violencia.” (15)
Eine erste Illustration:
VII
En algún lugar de la palabra
se esconde el plomo
que servirá para romper el sueño
o para atraversar muros o corazones.
La simetría de los nombres
se desbarata en las hojas en blanco
y los verbos transcuren en silencio
para no molestar.
En algún lugar de la palabra
se lucha cuerpo a cuerpo
para sobrevivir. (16)
Irgendwo im Wort
verbirgt sich das Blei
welches dazu dient Träume zu brechen
oder Mauern oder auch Herzen durchzubohren.
Die Symmetrie der Namen
zerschlägt sich auf den weissen Blättern
und die Verben gehen still vorbei
um nicht zu stören.
Irgendwo im Wort
wird gerungen Körper gegen Körper
um zu überleben.
Der Kampf des Metals mit dem Wesen des Menschlichen, der tötenden Kraft mit der geistigen Macht wird im Gedicht eigentlich nur in die Zerbrechlichkeit des Wortes eingebettet, dort befinden sich aber sowohl das zerstörende Metal /Blei/ und dort der bewusste Wille zum Überleben.
An anderen Stellen in demselben Band - wie hier im letzten Gedicht - wird die Wortwahl noch viel deutlicher, indem der Tod mit seinem Ritual konkret im Text vorhanden ist und wo die fatale Distanz zwischen Leben und Tod zur Sprache kommt:, gleichzeitig aber auch wie im vorigen Gedicht eine Andeutung auf Überleben bzw. Fortdauer als Ausläufer ganz am Ende erscheint ::
XIII
Cubrid a los que mueren
con las hojas de acanto del olvido.
Sellad sus ojos y sus bocas
con sal gruesa.
Esparcid sus cenizas por la tierra
y guardad su silencio baja llave.
Nada pueden los muertos,
nada buscan,
nada nos deben y nada les debemos.
Sólo en el mar habita
la inútil voluntad de permanencia. (17)
Unsere deutsche Übertragung lautet :
Bedeckt die Sterbenden
mit den Akanthusblättern des Vergessens.
Versiegelt ihre Augen und ihren Mund
mit dickem Salz.
Verstreut ihre Aschen auf der Erde
und behaltet ihr Schweigen unter Schloss.
Nichts können die Toten,
nichts suchen sie,
nichts schulden sie uns und wir ihnen nichts.
Nur im Meer wohnt
der nutzlose Wille zur Fortdauer.
Trotz des äußerst poetischen Einstiegs mit den “Akanthusblättern des Vergessens” findet in diesem Gedicht eine radikale Abrechnung zwischen Lebenden und Toten statt; das Rituelle soll die Sterbenden ins Totenreich befördern, denn “nichts schulden sie uns und wir ihnen nichts.” Die Trennungslinie liegt definitiv diesseits und Jenseits. Eine einzige Freie Zone wird vom Element Wasser innegehabt, eine Schlupfstelle mit Lebenshoffnungen, die sich als “nutzlos” erweisen.
Den Punkt, wo sogar das Schweigen keine Stütze mehr bietet, erkennen wir im folgenden Gedicht, wo ein besonderes Sparen an Wörtern einen noch gewaltigeren Ausdruck zustande bringt, indem das Existenzielle “para siempre”/”für immer” ausgemeisselt wird:
X
Cómo pensar la noche
después de que el silencio fuera polvo
fuera talco en la boca
fuera sombra o herida
en el fondo, en el nunca de siempre.
Para siempre. (18)Wie kann man sich die Nacht vorstellen
seit das Schweigen zu Staub wurde
seit es Talk im Munde geworden
seit es zu Schatten oder Wunde wurde
im Grunde, im Niemals des Immer.
Für immer.
Der letzte Gedichtband von Maria Cinta Montagut mag uns pessimistisch stimmen, denn leider wird in vielen Regionen unserer Welt immer noch Gewalt und Tod zugefügt, so dass die Keime der Hoffnung sich anstrengen müssen, um doch noch wach zu werden. Die Erfahrungen, die Maria Cinta Montagut in einer minimalen aber kräftigen Ausdrucksweise verarbeitet, betreffen nicht nur ihre Heimat, sondern sind wahrnehmbar durch alle, die eine ähnliche Situation aus der Nähe oder Ferne erleben mussten. Dadurch behaupte ich, dass ihre Lyrik unter jedem Himmel rezipiert werden kann. Zum Schluss doch eine gute Nachricht : Anna Bofill, die bekannte Komponistin aus Barcelona arbeitet z.Zt. an einer Symphonie für Orchester, die auf den ersten zwölf Gedichten des zweiten Teils dieses neuesten Werkes, die auch getrennt als "Poemas para un siglo" erschienen sind, beruht ; es sollen damit die zwölf Monate des Jahres mit Maria Cinta Montaguts Thematik verarbeitet werden. (19)
Anmerkungen:
(1) Concha García,Cinta Montagut: Presentación; in: encuentro de mujeres poetas: hacia el saber de la poesia. Barcelona, 2005, S. 5
(2) Maria Cinta Montagut: Par. Barcelona, 1993, S. 47
(3) Die in Madrid geborene und in Barcelona lebende Lyrikerin Maria Cinta Montagut (Jahrgang 1946) hat ihren ersten Gedichtband 1979 in Barcelona mit dem Titel Cuerpo desunido (Getrennter Körper ) veröffentlicht, gefolgt 1980 in Sevilla von Como un lento puÑal (Wie ein langsamer Dolch), wo auch 1983 Volver del tiempo (Zeitwende) erschien. Nach zehn Jahren erschien in Barcelona ihr Band Par (Das Paar) sowie 1997 Teoría del silencio (Theorie des Schweigens). 2001 veröffentlicht sie El tránsito del día (Der Verlauf des Tages), in Málaga und 2003 in Córdoba Poemas para un Siglo (Gedichte für ein Jahrhundert). Ihr letzter Band La voluntad de los metales (Der Wille des Metalls) wurde 2006 in Málaga veröffentlicht.
Siehe Maria Cinta Montagut: Poetica; in: Sharon Keefe Ugalde: En voz alta. Las poetas de las generaciónes de los 50 y los 70. Antología. Ed. Hyperión, Madrid 2007, S. 634
(4) ebd. S. 635
(5) ebd. S. 635
(6) Maria Cinta Montagut: El transíto del día. Málaga, 2001. S. 9
(7) Siehe Maria Cinta Montagut: Poetica; in: Sharon Keefe Ugalde: En voz alta. Las poetas de las generaciónes de los 50 y los 70. Antología. Ed. Hyperión, Madrid 2007, S. 636
(8) Maria Cinta Montagut: Teoría del silencio.. Barcelona, 1997, S. 11
(9) Maria Cinta Montagut: Teoría del silencio.. Barcelona, 1997, S. 12
(10) Maria Cinta Montagut: Teoría del silencio.. Barcelona, 1997, S. 42
(11) Paul Celan : Sprachgitter. in: Gedichte I. Suhrkamp Vlg. Frankurt/M. 1975 S.167
(12) Siehe Maria Cinta Montagut: Poetica; in: Sharon Keefe Ugalde: En voz alta. Las poetas de las generaciónes de los 50 y los 70. Antología. Ed. Hyperión, Madrid 2007, S. 636
(13) Siehe auch ebd. S.636: "Bevor man sich zum Schreiben hinsetzt, gibt es eine ganze Arbeit der Selbsterkenntnis und der Wahrnehmug der eigenen Zugehörigkeit [zu leisten]. Die Arbeit an der Sprache bildet den Schlüssel und hier muss ich selbstverständlich Audre Lorde erwähnen, der zufolge die Dichter einen Namen dem, was keinen besitzt /S.637/ geben sollen, damit es gedacht werden kann. (…)"
(14) ebd. S. 636
((15) e-mail von Maria Cinta Montagut an Gertrude Durusoy vom 30.08.2007 Die deutsche Übersetzung lautet: “Der Wille der Metalle ist ein Buch über Krieg, Attentate, Gewalt im allgemeinen in unserer zeitgenössischen Welt. Ihr gegenüber erschienen die Menschen als stille Opfer, die all diese Gewalt , die kein Ende zu nehmen scheint, ertragen. In diesem Sine handelt es sich um einen Text, der die Unmöglichleit der Hoffnung zeigt. Zukunft gibt es nicht. Besonders die Frauen bilden die letzten Rezipienten dieser Gewalt.”
(16) Maria Cinta Montagut: La voluntad de los metales. Málaga, 2001. S. 17
(17) Maria Cinta Montagut: La voluntad de los metales. Málaga, 2001. S. 57
(18) Ebd. S.54
(19) e-mail von Anna Bofill an Gertrude Durusoy vom 22.11.2007.
3.1. Culture sans frontières / Kultur ohne Grenzen / Culture without Borders
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