TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. September 2008

Sektion 3.1. Culture sans frontières / Kultur ohne Grenzen / Culture without Borders
Sektionsleiterin | Section Chair: Gertrude Durusoy (Izmir)

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Zur Rolle der Poesie-Übersetzungen in deutsch-tschechischen Beziehungen

Jaroslav Kovář (Masaryk Universität, Brno, CZ)

Email: jkovar@phil.muni.cz

 

Das zentrale Thema unserer Sektion lautet Kultur ohne Grenzen; als ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute früh die Grenze zwischen Mähren und Österreich passierte, wurde mir bewusst, dass die politische Grenze tatsächlich schon verschwunden ist: keine Pass- und Zollkontrolle mehr, und das sogar noch einige Wochen vor dem offiziellen Beitritt der Tschechischen Republik zum Schengen-Abkommen. Die Sprachgrenze und die Kulturgrenze, die bleiben allerdings auch weiterhin bestehen – und gerade die literarischen Übersetzungen stellen eine wirksame Möglichkeit dar, diese Sprach- und Kulturunterschiede zu überwinden, oder wenigstens überwinden zu helfen.

Nur scheinbar haben literarische Übersetzungen (und insbesondere Übersetzungen von Lyrik) ausschließlich literarisch-ästhetische Funktionen und keine direkten Auswirkungen auf die aktuellen politischen Ereignisse, bzw. auf die kulturpolitischen Beziehungen zwischen dem Land des Originaltextes und dem der Nachdichtungen. An einigen ausgewählten Beispielen versuche ich zu zeigen, dass Nachdichtungen aus dem Deutschen ins Tschechische bzw. aus dem Tschechischen ins Deutsche in der Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen durchaus politische Dimensionen erreichen konnten – und dies nicht erst im politisch so brisanten 20. Jahrhundert, sondern wesentlich früher. Und: Dabei handelte es durchaus nicht nur um politische Dichter und ihre Gedichte, um die sog. „Tendenzlyrik“, wie die Gedichte mit politischen Themen im 19. Jahrhundert genannt wurden, sondern in den meisten Fällen um Lyrik, die auf den ersten Blick politisch eher „harmlos“ war, aber durch die verzwickten politischen Verhältnisse auch politische Durchschlagkraft gewonnen hatten. Dass die politisch engagierten Dichter Wesentliches zu unserem Thema beigetragen haben, ist natürlich ohne jede Diskussion – zwei Beispiele sollen dies veranschaulichen:

Beispiel Nr. 1: Heinrich Heine und seine satirische Dichtung mit deutlichen politischen Schwerpunkten, und sein Einfluss auf den „politischen Dichter Nr. 1“ in der tschechischen Lyrik um die Mitte des 19. Jahrhunderts: auf Karel Havlíček Borovský, dessen Lyrik den Behörden der österreichischen Monarchie so viel ein Dorn im Auge war, dass sie ihn für anderthalb Jahre aus Prag in das tirolische Brixen verbannten. Seine satirische Dichtung Tyrolské elegie (Tirolische Elegien) lässt dann einen unmittelbaren Einfluss von Heines Deutschland. Ein Wintermärchen erkennen. Beispiel Nr. 2: Bertolt Brechts lakonisches, bissiges und bitteres Gedicht „Die Lösung“, das er nach dem Aufstand des 17. Juni in Ostberlin geschrieben hatte, und dessen tschechische Übersetzung nach der Okkupation der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 in illegal verbreiteten Umschriften eine Runde durch die böhmischen Länder machte.

Aber wir können noch wesentlich tiefer in die Vergangenheit und in die Geschichte der tschechisch-deutschen und deutsch-tschechischen literarischen Beziehungen gehen. Bereits die ersten deutschen Übersetzungen der alttschechischen Dalimil-Chronik vom Anfang des 14. Jahrhunderts sorgten um politische Diskussionen. In der Chronik des sog. Dalimil (der Verfasser ist unbekannt) finden sich mehrere Stellen, die aus einer fast patriotischen tschechischen Perspektive geschrieben sind und kritische Worte an die Adresse der damals nach Böhmen zuströmenden Deutschen enthalten; in unserem Zusammenhang ist es sehr interessant, dass eine der späteren deutschen Übersetzungen der Dalimil-Chronik, die nicht im benachbarten Bayern entstand, sondern in Böhmen, diese kritischen Invektiven nicht an die „Deutschen“ richtete, sondern an die „Fremden“ – ein schönes Beispiel für einen Patriotismus, der damals nicht national, sondern regional verstanden wurde.

In der sogenannten tschechischen nationalen Wiedergeburt des 19. Jahrhunderts wollten die tschechischen Nachdichter deutscher Dichter oft in erster Linie beweisen, dass die tschechische Sprache in den Möglichkeiten des lyrischen Ausdrucks dem Deutschen keinesfalls nachsteht. Dadurch erhielten die Übersetzungen (nicht nur aus dem Deutschen, sondern ebenfalls aus der englischen oder französischen Literatur) eine zusätzliche Funktion. Das Deutsche war ständig präsent – es ist kein Geheimnis, dass etwa Karel Hynek Mácha seine ersten Gedichte auf Deutsch geschrieben hatte, bevor er mit seiner Dichtung Máj und weiteren auf tschechisch geschriebenen Werken zum größten Dichter der tschechischen Romantik wurde. Die tschechischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts lasen meistens die deutschsprachige Literatur im deutschen Original; die verbreitete Meinung, dass damals aus dem Deutschen im Vergleich zu anderen Literaturen wenig übersetzt wurde, erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als Illusion: die Zahl der aus dem Deutschen ins Tschechische übersetzten Werke nimmt im 19. Jahrhundert kontinuierlich zu. Im 20. Jh. setzt sich dann dieser Trend fort; im Gegensatz dazu stehen jedoch die theoretischen Werke der tschechischen Übersetzungstheorie (Jiří Levý u.a.), die sich bei ihren Ausführungen mit Vorliebe der Beispiele aus literarischen Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen, Russischen oder Lateinischen bedienen und die übersetzte Literatur aus dem Deutschen eher außer Acht lassen. Das gilt natürlich nicht allgemein – die Übersetzungen aus dem Deutschen wurden vielfältig auch theoretisch untersucht. Ein Beispiel: Anfang der 90er Jahre haben zwei Brünner Bohemisten in einem Aufsatz in der Zeitschrift Proglas insgesamt 36 (!) tschechische (und slowakische) Übersetzungen des berühmten Goethe-Gedichtes „Wanderers Nachtlied“ (Über allen Gipfeln ist Ruh…) zusammengetragen und analysiert, angefangen mit einer Übersetzung von Václav Bolemír Nebeský (einem Zeitgenossen und Freund von Božena Němcová), bis zu den Nachdichtungen der heutigen Zeit.

So kommen wir nun zu den Übersetzungen und Nachdichtungen der letzten Jahrzehnte. Politische Dimensionen hatten etwa auch die Lyrik-Übersetzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, wo es zunächst galt, der allgemeinen Ablehnung der deutschen Kultur überhaupt entgegenzuwirken, in erster Linie durch Übersetzungen von Werken der antifaschistischen Exilautoren. Was Nachdichtungen der Dichter aus der ehemaligen DDR ins Tschechische, bzw. die Ausgaben der tschechischen Lyrik in der DDR betrifft, könnte man auf den ersten Blick meinen, dass zumindest in diesem Bereich der Kulturaustausch reibungslos – und sogar mit offizieller ideologischer Förderung – funktionieren konnte. Die „Kulturfunktionäre“ oder gar die Stasiorgane der beiden Länder haben jedoch dafür gesorgt, dass dies nicht der Fall war. Als etwa der Berliner Bohemist Manfred Jähnichen 1983 einen repräsentativen Band tschechischer Lyrik in deutschen Übersetzungen herausgeben wollte (Gesang der Liebe zum Leben. Tschechische Lyrik der Gegenwart, Artia Verlag 1983), hatte er mit zahlreichen „Einwänden“ vonseiten der Kulturorgane der beiden Länder zu kämpfen; als er dann durchgesetzt hatte, dass auch der in der Tschechoslowakei offiziell totgeschwiegene Jaroslav Seifert mit einigen wenigen Gedichten in dieser Anthologie vertreten war, wurden es nach der Nobelpreisverleihung an Seifert im Jahre 1984 die einzigen ins Deutsche übersetzten Gedichte von Seifert, die auf dem Buchmarkt zu haben waren. Nach 1984 setzte dann natürlich eine wahre Flut von Seifert-Nachdichtungen ein, die in verschiedenen bundesrepublikanischen oder österreichischen Verlagen erschienen (sechs Bände allein in den Jahren 1984-1986).

Bezeichnend ist in diesem Kontext die Geschichte der tschechischen Übersetzung des Romans Die verlorene Ehre der Katharina Blum. (Es ist kein Lyrikbuch, aber sei uns dieser Exkurs in die Prosaliteratur erlaubt, denn er zeigt geradezu symptomatisch, wie die offizielle Kulturpolitik in der damaligen Tschechoslowakei funktionierte.) Heinrich Böll gehörte in den 60-er Jahren zu den meistübersetzten deutschsprachigen Autoren; fast alle seine Bücher aus der 50-er und 60-er Jahre erschienen bald in einer tschechischen Übersetzung. Dann kamen die Ereignisse des Jahres 1968, die H. Böll unmittelbar erlebte (er war in Prag, als dort die Truppen des Warschauer Paktes einmarschierten), und seine unverhohlene Kritik der sog. Normalisierung in der Tschechoslowakei nach 1970 sowie seine aktive Unterstützung der Schriftsteller und Künstler, die durch das neue Regime verfolgt wurden. Böll wurde in der Tschechoslowakei zu einem unerwünschten Autor – und nicht einmal sein Katharina Blum-Roman durfte erscheinen, wenn auch die fertige Übersetzung bald im Verlag Odeon vorlag – und wenn auch sich das kommunistische Regime wohl kaum ein anderes Werk wünschen konnte, dass die bundesrepublikanische Gegenwart so kritisch schilderte. Die Schlöndorff-Verfilmung des Buches lief damals sogar in den tschechischen Kinos – jedoch ohne eine einzige Erwähnung, dass das Buch von Böll die literarische Grundlage lieferte. Die Übersetzung des Romans erschien dann tatsächlich erst 1989…

Moderne deutsche Nachdichtungen der tschechischen Lyrik sind ohne einen Namen nicht denkbar: Reiner Kunze. Kunze hatte bereits seit den frühen 60-er Jahren Kontakte mit tschechischen Dichtern und übersetzte sie kontinuierlich ins Deutsche. Vladimír Holan, Antonín Brousek und in erster Linie Jan Skácel fanden den Weg zu ihren deutschen Lesern durch die hervorragenden Nachdichtungen von Reiner Kunze. Nicht nur das: tschechische Dichter, tschechische Literatur und die Ereignisse in der Tschechoslowakei der 60er und 70er Jahre hatten einen unmittelbaren Einfluss auf die bewegte persönliche Biographie dieses Dichters und Nachdichters – man braucht da nur einige Kapitel aus seinen autobiographischen Erfolgsbuch Die wunderbaren Jahre (1976)  zu lesen: sie sind ein weiterer Beweis dafür, wie Lyrik und Politik zusammenhängen.

Zum Schluss sei eine hypothetische Frage erlaubt – ist nun, viele Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und nach unserem Eintritt im vereinten Europa, endlich die Zeit angebrochen, wo im gegenseitigen literarischen Austausch die Politik keine Rolle mehr spielen wird, wo bei Nachdichtungen von einer Sprache in die andere sozusagen allein die Schönheit der Verse entscheidet? Es ist anzuzweifeln – und wohl auch nicht anzustreben. Die Lyrik und ihre Übersetzungen in andere Sprachen haben sicher nicht vor, sich in einen entlegenen Elfenbeinturm zu begeben. Ein Beleg dafür, stellvertretend für viele andere: 2004 erschien auf Tschechisch eine repräsentative Anthologie eines deutschsprachigen Dichters, aus dessen Werk politische Inhalte nicht wegzudenken sind: von Erich Fried. Lyrik und Politik: an diesem Spannungsfeld werden wohl auch die künftigen Übersetzungen und Nachdichtungen nicht vorbeikommen können…

 


3.1. Culture sans frontières / Kultur ohne Grenzen / Culture without Borders

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For quotation purposes:
Jaroslav Kovář: Zur Rolle der Poesie-Übersetzungen in deutsch-tschechischen Beziehungen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/3-1/3-1_kovar.htm

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