Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Februar 2010 | |
Sektion 3.10. | Komparatistik und Weltliteratur in der Epoche der Globalisierung Sektionsleiterin | Section Chair: Mária Bieliková (Matej-Bel-Universität Banská Bystrica, Slowakei) |
Der Schriftsteller: Arbeiter für eine funktionierende Welt
Über Europäische Identität und die Aufgabe der Schriftsteller
Uli Rothfuss (Schriftsteller, IB-Hochschule Berlin) [BIO]
Email: URothfuss@gmx.de
Kultur, Europa und die Schriftsteller. Ein spannendes Thema.
Kultur hat mit Offenheit zu tun, mit Toleranz anderem gegenüber. Echte Kultur gibt es nicht ohne Vielfalt, und Vielfalt gibt es auch nicht ohne Offenheit für neues, für anderes. Europa lebt von dieser Offenheit, von der Bereitschaft, neues aufzunehmen. Offenheit als Grundbedingung für Vielfalt.
Europa ist dabei, sich neu zu formieren; das alte Europa, bestehend aus den Staaten Mittel- und Westeuropas, erneuert sich dadurch, dass Länder hinzukommen, die aus dem Blickfeld geraten sind, und zwar Länder, die Europa bereichern über die Europäische Union hinaus: Europa besteht nicht nur aus diesen jetzt 26 Staaten des Zusammenschlusses, sondern geografisch und kulturell weit über diese hinaus.
Das "Alte" Europa - ein Begriff, um diffamiert zu werden?
Der Begriff "Altes Europa" wurde vor kurzem in extremer Weise diffamiert. Im Zusammenhang mit dem letzten Irak-Krieg hat der US-Verteidigungsminister diesen Begriff in einem eindeutig negativen Zusammenhang als eine Einordnung der europäischen Staaten genannt, die sich der blinden Nachfolge in diesen Irak-Krieg verweigerten (der ja bekanntlich bis heute andauert, wie man jeden Tag an Meldungen über Kämpfe und Opfer des Krieges über die Medien erfahren kann); "alt" wurden die europäischen Staaten in dem Sinne von rückwärts gerichtet, antiquiert, ohne zukunftsgerichtete kulturelle Kraft, und deshalb, wenn man die "großen globalen Herausforderungen" betrachtet, einfach und frühzeitig resignierend, bezeichnet.
Kann man von einem Niedergang der politischen Kultur des sprechen, wenn solcherart hanebüchene Vorwürfe erhoben werden? Scheinbar ja. Dieser Niedergang scheint nicht zuletzt darin begründet, dass heutige Berufspolitiker, oft Karrieristen von Anfang an, meist nur noch ihre politische Karriere als Berufsziel verfolgen und auf keine andere lebensbezogene Berufsausbildung, auf keine andere Berufstätigkeit, aber auch auf kaum andere Erfahrungen in gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen zurückblicken können - auch, angesichts vermeintlicher Herausforderungen in einer globalisierten Welt, nicht mehr wissen und oft auch nicht mehr wissen wollen, wo die eigene Kultur im Detail her kommt und wo die kulturellen Wurzeln des eigenen Landes und Volkes liegen; kulturelle Verschränkungen und Einflüsse aus anderen Gesellschaften heraus werden, eines eindeutigen Weltbildes willen, gleich gar nicht einbezogen.
Zugegeben, bei einer Patchwork-Kultur wie der in Amerika, die sich aus Einflüssen und Elementen aus aller Welt zusammensetzt - und sich zudem dagegen wehrt, wesentliche „eigene“ Elemente im gebührenden Umfang wahrzunehmen (z.B. der chinesischen oder der spanischen Kulturen in Amerika) -, ist dies auch schwierig. Aber genau diese Besinnung auf die eigene Herkunft, auf die eigenen kulturellen Traditionen, bietet in ihrer seltenen Vielfältigkeit der europäischen Kultur die Möglichkeit, sich abzugrenzen vom dominanten „Bruder“ im Westen und ein "kulturelles Europa" zu konstituieren - nicht im Sinne einer Ablehnung, sondern im Sinne der Deutlichmachung eines Unterschiedes, in der Deutlichmachung einer eigenen Identität.
Kausalitäten für Europa
Was spricht dafür, Europa als einheitlichen, zusammengehörigen Raum zu sehen?
Zunächst einmal sicher der geografische Raum, dem sich die Staaten und Völker zugehörig fühlen - egal ob sie zur EU gehören oder nicht. Hier gibt es Randzonen, bei denen zu überlegen ist, ob sie geografisch noch zu Europa gehören - der Kaukasus zum Beispiel, oder in wieweit Russland noch zu Europa gehört; auch über die geografische Zugehörigkeit der Türkei zu Europa wird viel diskutiert, obwohl es dabei eher um eine verdecktere Zugehörigkeit nach europäischen, ethischen und religiösen Maßstäben geht.
Sicher eine wichtige Kausalität für Europa, vielleicht sogar die wichtigere als die strenge Zugehörigkeit zum geografischen Raum Europa, ist die der zusammenhängenden Kulturgeschichte Europas. Von den alten Griechen, über arabisch beeinflusste und die römische Kulturgeschichte bis hin zur modernen, abendländischen Kulturgeschichte lassen sich durchgängig Beziehungen, Beeinflussungen herstellen; und hier ist es z.B. unstrittig, dass gerade Georgien zum europäischen Raum gehört, mit seinen vielen Beeinflussungen z.B. durch die griechische Kultur, deren Aufgreifen und eigenständige Weiterentwicklung. Gerade Georgien und die kaukasischen Staaten am Schnittpunkt zwischen den Kulturen des Orients und des Okzidents kommt im Zusammenhang mit Europa eine wichtige Stellung zu: die des Beispiels, wie fremde kulturelle Einflüsse integriert werden können, wie eine Vielfalt an kulturellen Einflüssen in die eigene Kultur einbezogen kann werden kann, die ja nichts ist als ein Zwischenstand des Einbezugs vieler Entwicklungslinien, und wie diese dadurch eine weitere Entwicklung erfahren kann. Die kaukasischen Staaten können somit gewissermaßen Modell im Kleinen für das große Europa darstellen.
Alleinige Basis - die Ökonomie?
Die Europäische Union ist in ihren Ursprüngen zunächst einmal allein aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus entstanden: wie kann ein einheitlicher europäischer Wirtschaftsraum geschaffen werden, der einen größeren ökonomischen Markt für die europäischen Staaten darstellt? Wie kann so der Wohlstand der europäischen Staaten gefördert werden? Diese Geschichte des Zusammenschlusses ist durchaus die Geschichte eines Erfolges, der zuletzt darin gegipfelt hat, dass eine einheitliche Währung für Europa, der Euro, geschaffen wurde. Aber sind es die wirtschaftlichen Zusammenhänge, auch wenn diese am Anfang der politischen Überlegungen eines geeinten Europas standen, die die Basis für die Haltung seiner Bewohner darstellen, "Europäer" zu sein?
Wenn man heute in Deutschland oder in Frankreich oder in Italien Menschen fragt, warum sie sich als Europäer fühlen, werden sie dann antworten: Weil wir einen großen Wirtschaftsraum haben, weil ich in Österreich mit dem Euro bezahlen kann? Sicher nicht.
Ein neues europäisches Selbstbewusstsein
Die Auseinandersetzungen zwischen den USA und den Vertretern einzelner europäischer Staaten, wenn sie auch offiziell in Verlautbarungen niedrig gehalten werden, haben durchaus historischen Charakter, der uns noch viel beschäftigen wird, hoffentlich!
Europa gewinnt genau durch diese Abgrenzungen endlich wieder an eigenem Selbstbewusstsein, ohne weiter blinder Nachfolger einer amerikanischen "Leitkultur" - soweit man bei der sogenannten amerikanischen Kultur von einer orientierunggebenden Kultur überhaupt sprechen kann - zu bleiben. Europa stellt sich neu auf und wird sich seiner Rolle an der Nahtstelle zwischen West und Ost bewusst, Europa demonstriert eine neue Stärke des Bewusstseins der eigenen Traditionen, nicht eine militärisch gerüstete Stärke - diese Zeiten scheinen hoffentlich vorbei. Aber um seinen Platz in der Welt eigenständig beanspruchen und wahrnehmen zu können, ist gerade diese Bewusstwerdung der vielfältigen Querbeziehungen zwischen den europäischen Völkern (bewusst nicht zwischen den europäischen Staaten) notwendig - und die Erkenntnis, dass nur aus diesen Interferenzen zwischen den europäischen Völkern und den Einflüssen von außen sich die kulturelle Vielfalt auf engem geografischem Raum entwickelt hat; dies wahrzunehmen, und zwar mutig und mit Bewusstsein der eigenen kulturellen Kraft, ist eine neue Aufgabe nicht nur eines jeden europäischen Staates und seiner Lenker, sondern auch der koordinierenden Kräfte im politischen Europa - zum Beispiel in der Europäischen Kommission, aber auch eines jeden einzelnen, der sich und seine eigene Kultur so in einen europäischen Kontext einordnen kann. Das Dilemma wird hier deutlich: die Frage, ob Berufspolitiker überhaupt in der Lage sind, das zu leisten.
Europa als Haltung erleben
Wir Europäer können und sollten, gerade jetzt, stolz sein, Teil dieses "alten Europa" zu sein, und wir sollten mit Stolz eine selbstbewusste europäische Haltung an den Tag legen - als Teil eines Europas, das nach der Aufhebung des Ost-West-Antagonismus und im Verlauf einer Entwicklung, für die der Begriff "Globalisierung" gefunden wurde (oft als Entschuldigung, denn letztlich kann niemand definieren, was mit "Globalisierung" genau gemeint ist), eines Europas, das also wieder zusammenfindet; man betrachte zum Beispiel die wichtige Ausweitung dessen, was wir Europäische Union nennen - und was oft fälschlicherweise mit "Europa" gleichgesetzt wird - in Richtung Osten und in den Süden - das "alte Europa" findet wieder zusammen, weitere Staaten, die bisher nicht oder kaum im Blickfeld waren, kommen hinzu - man denke nur an eine künftige Mitgliedschaft der Türkei in der EU, an Wünsche der Annäherung durch die Ukraine oder die südkaukasischen Staaten Armenien, Aserbaidschan und gerade Georgien mit seinen alten, vielfältigen Bezügen zu Europa, die in diesem Zusammenhang sicher als Einheit gesehen werden müssen.
Was sind die Eckpunkte dieser, unserer "europäischen Identität"?
Gehört der Südkaukasus noch zu Europa, mögen manche fragen, und viele im Westen Europas können nicht einmal genau verorten, wo sich dieser befindet ("irgendwo in Russland", ist heute noch eine gängige Antwort!).
Eine Frage, die gerade viele Europapolitiker beschäftigt: Sind es religiöse Kriterien, die bei der Zugehörigkeit zu Europa eine Rolle spielen sollen? Ist also die christliche Orientierung notwendig, um zu Europa gehören zu dürfen? Sind es gesellschaftliche Kriterien - und könnte zum Beispiel auch Israel mit seiner weitgehend europäisch geprägten Gesellschaft Mitglied der EU werden? Ist es die Basis der Achtung der menschlichen Grundrechte, der Achtung der Freiheit und Freizügigkeit, der körperlichen Unversehrtheit eines jeden Einzelnen (!), auch wenn dieser sich strafbar gemacht hat, der Pressefreiheit, die eine Zugehörigkeit zumindest zur Europäischen Union voraussetzt? Und inwieweit erfüllen die Staaten des Kaukasus Eckpunkte der Zugehörigkeit zu Europa? Geographisch, religiös, kulturell, gesellschaftlich, in der Mentalität seiner Bewohner, in der Achtung der elementaren Grundrechte? Jeder möge diese Frage für sich beantworten.
Was macht Europa aus, die spezifische europäische Haltung?
Europäische Disharmonien
Die europäische Geschichte und die von ihr geprägte Kultur ist nicht nur eine glänzende Erfolgsgeschichte, sondern voll von Disharmonien.
Diese Entwicklung hin zum heutigen Europa ist gepflastert mit Leid und Schrecken:
Europa ist auch die Tatsache, dass seit Hunderten von Jahren nahezu immer irgendwo in Europa Krieg geführt wird? Man denke an die Tragödien in Ex-Jugoslawien oder an die Konflikte in Nordirland oder Berg-Karabach oder Abchasien. Die Aufzählung könnte beinahe beliebig fortgesetzt werden.
Europa ist die Tatsache, dass von den europäischen Ländern aus die Welt entdeckt und erobert wurde - womit unaussprechliches Leid über ganze Kontinente von Europa aus ausgebreitet wurde, ein Leid, das sich in vielen Ländern - an denke nur an die afrikanischen mit ihren zum täglichen Medienbild gehörenden Tragödien - bis heute fortsetzt?
Zu der europäischen Identität gehören die Ströme von Völkern von außerhalb Europas, die das "europäische Blut" seit Jahrhunderten wieder und wieder auffrischen, die wichtige Impulse für die Kulturen in Europa gaben und geben, eine prägende Konstante unserer "europäischen Identität" - die der dauernden Möglichkeit der Auffrischung von außen? Hat diese Kraft der und die Bereitschaft zur Auffrischung von außen die europäischen Kulturen vorangebracht - und verharren jene, die sich nach außen abschotten, in einer kulturellen Lethargie? Sicher ist, dass die Gesellschaften, die sich abgrenzen, die Neues abwehren und sich mit dem Bewahren des Alten begnügen, sich weder weiterentwickeln noch an der Weiterentwicklung anderer teilhaben. Eine Kultur auf dem Abstellgleis, die von der Glorifizierung des Eigenen, dessen, das sich überlebt hat, lebt. Solch eine Gesellschaft wird auf Dauer nicht überleben können.
Und genau diese Disharmonien ließen die kulturellen Entwicklungen Europas fortschreiten, sie wirkten befruchtend mit den Spannungen, die sie auslösten, und sie erzwangen kulturelle Fortschritte, die aus einer bloßen Harmonie heraus nicht erstanden wären. Die europäische Geschichte, die zu dem geführt hat, was wir heute "europäische Kultur" oder "Kulturen" nennen, ist dabei nicht nur etwas, auf das wir stolz sein können, ganz und gar nicht. Aber sie stellt in ihrer Verwobenheit und Spannung etwas dar, das Voraussetzung zu sein scheint für unsere europäische Vielfalt, für die dadurch notwendige Verständigung und auch für unsere fast zwangsläufigen Missverständnisse heute.
Trialog der Religionen und der Kulturen
Unsere europäische Identität fußt bei alledem, um auf eine frühere Frage näher einzugehen, nicht allein auf dem Christentum, wie konservative Politiker und Religionscharismatiker uns immer wieder gerne weismachen wollen. Die europäische Identität muss als auf einer Basis der drei monotheistischen Religionen - des Christentums, des Judentums und des Islam - gesehen werden; und als der dauernde Anlauf, gegen alle Versuche von extremistischen Gruppen unter Christen, Juden und Muslimen, den Trialog zwischen diesen Religionen und den ihnen innewohnenden Ausrichtungen und den von ihnen geprägten Kulturen zu führen.
Das Wichtige ist, dass diese drei Religionen, jede für sich und jede mit Bezügen zur anderen, Eingang in die Basis der europäischen kulturellen Zivilisation gefunden und je ihren speziellen Beitrag zum geistigen und kulturellen Erbe Europas geleistet haben, sodass dieses Europa sich über zweitausend Jahre hinweg entwickeln konnte. Wo wären wir zum Beispiel heute, wenn die arabische Kultur nicht das Erbe des griechischen Altertums bewahrt und weiterentwickelt hätte? Leider wird dies heute nur all zu gerne vergessen und der Islam auf die wenigen militanten Gruppen reduziert.
Am interessantesten sind, bis heute, die Religionen dort, wo sie sich direkt begegnen. Dort gibt es eben nicht nur Krieg und Hassausbrüche, "ethnische Säuberungen", sondern sehr oft hochinteressante Prozesse der Annäherung - wie zum Beispiel bei Überlappungen der Religionen mit vielen Formen der Mischungen mit Elementen des Islam, des orthodoxen Christentums zum Beispiel, mit jüdischen Elementen und sogar mit Einflüssen der vorchristlichen Religionen wie der der Feueranbeter. Durch kulturelle Vielfalt zu einer Identität, zu Identitäten, die sich einfügen in die Vielfalt Europas; die ihren Platz haben, dort, wo sie sich entwickelt haben und deswegen von dort - und damit aus Europa - nicht wegzudenken sind.
Das Zusammenbrechen des Gegensatzes zwischen den Blöcken in West und Ost, die Auflösung in globale Netzwerke hinein, die nicht mehr konkret gefasst werden können, führt das menschliche Individuum schnell in eine Situation des Verlusts der Orientierung; die Suche nach neuen Möglichkeiten der Orientierung kann sehr schnell dazu führen, dass aus Unsicherheiten heraus Grenzen gezogen werden: Grenzen gegenüber anderen Religionen, gegenüber anderen Kulturen, Grenzen gegenüber Menschen mit anderen Hautfarben. Grenzen, deren Überschreitung militant verfolgt wird; wo dies vorkommt, muss eine Kultur stark genug sein, Gegenkräfte zu mobilisieren: wo Minderheiten Gefahr laufen, verfolgt zu werden, muss die Mehrheit "aufstehen" und sich wehren; wo eine religiöse Gruppe an ihren Freiheiten gehindert wird, muss die Mehrheit dieser Minderheit die Freiheit garantieren; geschieht dies nicht, wird das Recht verwirkt, Teil des kulturellen Europas und seiner Haltung der Toleranz zu sein. An diesen Idealen müssen wir alle arbeiten, leider geraten sie auch in den zentralen Staaten Europas immer wieder in Gefahr. Aber sie sind eine Voraussetzung für ein einiges, ein gleichberechtigtes Miteinander.
Prinzip des Beistands
Ein Prinzip in Europa sollte noch viel mehr ein Europa der gegenseitigen Hilfe werden - ein Prinzip, das logisch an das Prinzip der Toleranz anschließt. Hilfe, Konflikte in Frieden zu lösen. Hilfe bei Katastrophen - und zwar über Europa hinaus. Dass gerade Europa hierzu fähig ist, hat die Welle der Hilfsbereitschaft nach der Katastrophe in Südasien gezeigt. Was wir brauchen, ist ein Europa der Partnerschaft, und mehr: ein Europa der Verantwortung für den anderen, ein Europa, das sich als Organismus versteht, in dem ein Teil nicht ohne den anderen existieren kann. Dem christlichen Gebot der Nächstenliebe gilt ein besonderes Augenmerk: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Mein Nächster ist jeder, der nicht ich selbst bin. Mein Nächster ist gerade auch der Fremde, der Andersgläubige, der anders Aussehende, der anders Sprechende. Ein Gebot, das es in jeder Religion in ähnlicher Formulierung gibt: die definitive Aufforderung zur Toleranz, zur Achtung des Anderen.
Kulturelle Verschiedenheit? Ja.
Kulturelle Verschiedenheit in Europa? Ein absolutes Ja! Europa darf nicht darauf abzielen, ein kultureller Einheitsbrei zu werden. Das wäre das Ende der Faszination Europa. Kulturelle Verschiedenheit gepaart mit kultureller Co-Existenz. Die Einheit eines ökonomischen Wirtschaftsraumes kann hier durchaus fördernd wirken: ökonomische Kraft erlaubt auch Maßnahmen zur Förderung der Kultur. Dies umfasst den Schutz auch kleiner Kulturen, den Respekt ihnen gegenüber, die Zusicherung ihrer Entwicklung. Die Kultur einer Gesellschaft, eines Volkes, ist die Basis der Entwicklungen, gerade auch für den technischen oder für den wirtschaftlichen Bereich. Kultur ist nicht die Folge dieser Entwicklungen, sondern die Basis für diese! Kultur, kulturelle Traditionen und aus diesen heraus kulturelle Entwicklung stehen am Anfang, alles andere baut darauf auf.
Exkurs: Aufgabe der Schriftsteller
Was können Schriftsteller als wesentliche Bewahrer und Erneuerer der Kultur ihres Volkes bewirken?
Max Frisch schrieb in seinem "Tagebuch 1946-1949": Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben, sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen.
Schriftsteller können und sollen so Entwicklungen aufgreifen, die sie "bewegen", die sie herausfordern, sie sollen sie formulieren. Sie werden geschrieben: von ihrer Zeit, von ihrer Umgebung, sie geben dem Form, was sie bewegt. Sie zu lesen, zu verstehen, ist nicht immer einfach, dies soll ebenso eine geistige Leistung darstellen. Jede schöpferische Handlung bedeutet Irritation, aus der heraus Weiterentwicklung entsteht. Disharmonie als Notwendigkeit, der Harmonie zuzustreben. Rätsel, die zur Lösung drängen. Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel, sagt der große deutschjüdische Philosoph Theodor W. Adorno in seiner "Ästhetischen Theorie".
Die Aufgabe des Schriftstellers wie eines jeden Künstlers kann sein, solche Entwicklungen zu beschreiben, er kann zu einem Chronisten seiner Zeit werden und Einsichten über seine Zeit vermitteln; dies ist bereits sehr viel! Seine Aufgabe kann es aber auch sein, weiter zu gehen: unmerklich Orientierung zu geben - nicht als Pädagoge, nicht als Erlöserfigur - der Schriftsteller baut Brücken, er arbeitet die verbindenden Elemente zwischen den Kulturen heraus, er ist ein Kämpfer für Pluralismus und Toleranz und ein Bewahrer der kulturellen Identität des Individuums, auch des einzelnen Volkes - ohne freilich auszugrenzen. Der Schriftsteller kann aber auch beschreiben, wie es hätte sein können - er kann so, durch Fiktion, Richtung geben, Orientierung.
Nasr Hamid Abu Zaid, der ägyptische Schriftsteller, schreibt: Die Welt ist zu einem kleinen Dorf geworden, in dem eine unabhängige, in sich geschlossene Kultur - falls es eine solche überhaupt jemals gegeben hat - nicht mehr existieren kann. Kulturen sind in der Gegenwart aufs Engste miteinander verwoben, sind zum Austausch gezwungen, müssen gegenseitig voneinander lernen.
Um sich aber austauschen, um voneinander lernen zu können, müssen Kulturen ihre Unterschiede bewahren, Traditionen bewahren und im Austausch, im Lernen von anderen das aufnehmen, was sich einpassen lässt, manchmal auch schmerzhaft. Das bedeutet Weiterentwicklung, und Schriftsteller haben ihren Anteil daran, den Blick nach außen zu öffnen und nicht im Blick nach Innen zu verharren. Schriftsteller sind Bewahrer einerseits, aber auch Mahner, Augenöffner für das, was über den eigenen Horizont hinausgeht. Schriftsteller dürfen Utopien formulieren, und sie dürfen mahnen, Utopien anzustreben, auch wenn diese niemals erreicht werden können (Literatur Nachrichten Nr. 83, Okt.-Dez. 2004, S. 6).
Schreiben ist Ordnen des Chaos, sagt der Schriftsteller Abdallah Zrika aus Marokko, Schreiben ist für ihn "der Raum, der für meine Einsamkeit andere Farben und Horizonte erschafft" - der ihn also über das hinausführt, was er im täglichen Leben und Erleben erfahren kann. Schreiben hat, so sagt er, für ihn die Aufgabe, die "Bitterkeit des Orts" zu versüßen (Literatur Nachrichten Nr. 83, S. 24 f.)
Die Schriftsteller: Arbeiter für eine funktionierende Welt
Die Suche nach den Urgründen des Zusammenhalts der Welt ist eines der wesentlichen Motive für das Schreiben von Literatur; dies kann sich in vielerlei Themen äußern, in regionalen Geschichten ebenso wie in den großen Themen der Literatur: Liebe, Hass, Eifersucht, Neid, Freundschaft ... die Frage danach, was "hinter" den kulturellen Unterschieden steckt, was diese nicht die Welt in ein Chaos stürzen lässt, sondern letztlich doch zusammenhält ist eines der Urmotive von Kunst und literarischem Schreiben schlechthin. Damit leisten gerade Schriftsteller unschätzbare Arbeit, auch für den Weiterbau an einem funktionierenden Europa, einer funktionierenden Welt, die nicht im Gewinnlerjubel der Globalisierung versinkt, auch wenn - leider! - geübte Leser und sensible Versteher literarischer Werke in wahrscheinlich keinem Land der Erde innerhalb der Wählerschaft mehrheitsfähig sind. Darüber hinaus eingedenk der Tatsache, dass wahrscheinlich jeder Mensch mehrmals in seinem Leben die "Versüßung der Bitterkeit des Orts", so wie es Abdallah Zrika beschrieben hat, brauchen könnte.
3.10. Komparatistik und Weltliteratur in der Epoche der Globalisierung
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-02-22