TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 3.11. Das Künstlerbild und das Künstlerproblem in der Ost-West-Literatur / The Idea of the Artist and the Problem of the Artist in Literature, East and West
Sektionsleiterin | Section Chair: Pornsan Watanangura (Chulalongkorn Universität, Bangkok, Thailand)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Zur Lebensgeschichte des Pra-Apaimanie von Sunthorn Phu –

Der Künstler an der Schwelle der Moderne

Pornsan Watanangura (Chulalongkorn Universität, Bangkok, Thailand) [BIO]

Email: wpornsan@chula.ac.th

 

I. Einleitender Teil

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Die Wirkungsgeschichte von Sunthorn Phus Versepos Pra Apaimanie ist kaum  weniger bedeutend als der Roman selbst. Nach Meinung vieler thailändischer Literaturwissenschaftler und Historiker kündigt dieser vor über 200 Jahren von dem Hof-und Volksdichter Sunthorn-Phu (1786-1855) im Königreich Siam (dem heutigen Thailand) geschriebene Versroman die Übergangszeit von der „alten“ zur „modernen“ Welt Siams zu Anfang der europäischen Kolonialzeit im 19. Jahrhundert an. Das orientalische Versepos, das sich, besonders in seinen romantischen Zügen, mit Goethes Bildungsroman  Wilhelm Meister vergleichen lässt, weist nicht nur zahlreiche interessante Elemente aus verschiedenen Kulturkreisen auf; der Protagonist Pra-Apaimanie stellt mit seiner Lebensgeschichte auch das „moderne“ Künstlerbild der thailändischen Literatur dar. Pra-Apaimanie gilt als „Künstler’, und auch als ein „passiver Held“; seine Bildung erfährt er vor allem im Erlernen des Flötenspiels. Zur Zeit seiner Entstehung war der Versroman sehr erfolgreich. Es lohnt deshalb, sowohl an den erzählerischen Formen als auch anhand der Zeitumstände den Gründen nachzugehen, die Pra-Apaimanie seinerzeit zu einem ungewöhnlichen Erfolg verhalfen. Allem Anschein nach geht er einher mit einer neuen, modernen Art der literarischen Rezeption und einem veränderten Umgang mit der Literatur an Thailands „Schwelle zur Moderne“.

Die vorliegende Studie konzentriert sich auf die Analyse des Pra-Apaimanie mit seiner Lebensgeschichte als „passiver Held“, und auch als   „moderner Künstler“ der thailändischen Literatur. Doch erscheint es mir reizvoll, das orientalische Epos Pra-Apaimanie dem europäischen Roman Lehrjahre von Goethe vergleichend gegenüberzustellen. Die Anlage des Apaimanie in Sunthorn Phus Pra-Apaimanie wird mit dem Bildungsweg verglichen, den Wilhelm in Goethes Lehrjahren durchmißt. Pra-Apaimanie – die thailändischen ‘Lehrjahre’ – erreicht zunächst seine gezielte ‘Bildung’ im Erlernen des Flötenspiels. Die eigentlichen Lehrjahre von Pra-Apaimanie vollziehen sich in den abenteuerlichen Episoden einer Reise durch die Welt, nachdem sein königlicher Vater ihn und seinen Bruder aus dem Reich vertrieben hat. So handeln Sunthornphus ‘Lehrjahre’ des Pra-Apaimanie sowohl von mittelbaren als auch von unmittelbaren Bekenntnissen verschiedenartiger Lebens- und Liebeserfahrungen des Protagonisten und seiner Familie, wobei zahlreiche Augenblickserfahrungen durch buddhistischen Lehren und Lebensweisheiten reflektiert und pointiert werden. Darüber hinaus wird die Rezeption des thailändischen Versromans Pra-Apaimanie an Thailands „Schwelle der Moderne“ untersucht.

 

2.   Zur Lebensgeschichte von Pra-Apaimanie im Vergleich
      zur europäischen
Bildungsgeschichte am Beispiel des Wilhelm Meister

Überblickt man die Leitgedanken der beiden „Bildungsromane“ Pra-Apaimanie und Wilhelm Meister, so schält sich deutlich ein Motiv heraus, das beiden Lebensgeschichten die Richtung und damit auch die Stationen oder Episoden vorgibt, an denen die Helden sich „bilden“ sollen. Dieses Bildungskonzept läuft keineswegs nur auf einen äußeren Aufstieg, sondern auch auf „die Entwicklung oder die Herausbildung von Gesinnungen“(1) heraus. Unter diesem Gesichtspunkt stehen die Helden Sunthorn-Phus und Goethes ungeachtet ihrer sehr unterschiedlichen Charaktere und Lebensziele, einander nahe. Der Aufbau beider Romane ist dabei offenbar gegensätzlich zu denken.

Der entscheidende Unterschied der deutschsprachigen „Bildungsromane“ zu der in Versen gedichteten Bildungsgeschichte Pra-Apaimanie besteht darin, dass die deutschen Autoren im bewußten Umgang mit den Figuren in ihren Romanen die Bildungskonzeption explizit darlegen, wie es auch in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre geschieht, während die thailändische „Bildungsgeschichte“ zwar auch zu einem bestimmten Ziel gelenkt wird, dabei aber kommentarlos und in einer linear-lockeren Erzählstruktur abenteuerliche Ereignisse aneinanderreiht.

Bereits aus der Entstehungsgeschichte des Pra-Apaimanie läßt sich diese Erzählstruktur des linearen Nebeneinanderstellens der Handlungsabläufe herleiten. Sunthornphu hat Pra-Apaimanie anfänglich in 49 thailändische (Bücher aus gefalteten Strauchwachspapier - streblus asper) gegliedert. Die Geschichte fängt an mit den „Wanderjahren“ des Protagonisten Pra-Apai und seines Bruders und endet mit dem Eintritt Pra-Apai ins Mönchtum. Da aber dieser Versroman Pra-Apaimanie unter seinen Lesern sehr viel Gefallen fand, wurde der Dichter Sunthorn-Phu von seinem Prinzen, Prinz-Lakkananukun, unter dessen Schirmherrschaft er stand, gebeten, den Versroman weiter zu dichten. So entstanden noch weitere 45 Bücher, von denen man aufgrund des andersartigen Sprachstils vermuten muss, dass die Fortsetzungen nicht allein von Sunthorn-Phu geschrieben wurden.(2)

An dem abenteuerlichen „Epos“ Pra-Apaimanie ist eine Reihe von konstitutiven Merkmalen der literarischen Gattung „Romance“ deutlich erkennbar. Da in der deutschen Sprache der Begriff „Romanze“ bestimmte Merkmale einer „episch-lyrischen Gattung der spanischen Literatur“ aufweist,(3) werde ich in dieser Arbeit auf den Terminus „Romanze“ verzichten und mich an den aus der angelsächsischen Tradition stammenden Begriff „Romance“ halten. Unter „Romance“ wird ein mittelalterlicher Versroman verstanden, der die abenteuerlichen Lebensverhältnisse eines Ritters und seine Heldentaten behandelt, wobei der Held in der Regel stark, tapfer und ‘moralisch’ (edel??) ist und über besondere, nur ihm eigene Fähigkeiten oder Charakteristika verfügt. Darüber hinaus besitzen die Frauen in der „Romance“ eine außergewöhnliche Schönheit und die Antagonisten sind von die höchster Bösartigkeit.(4) E.H.S. Simmonds äußerte sich zur Besonderheit dieser literarischen Gattung in der Thai-Literatur:

„... One kind of Thai secular literature which should have a special appeal to Europeans is the narrative epic-romance. We do not fail to see some interesting resemblances between these Thai poems and our own epics and romances. It would not be right to draw too close a parallel because the psychological attitudes of the characters participating in the Thai poems are different and the historical, cultural and religious background is, of course, not at all similar. Nevertheless there existed, both in Europe and Thailand, this kind of long narrative poem which dealt with themes of love and war. Some European scholars have been inclined [...] to separate epic and romance. In Thai-literature we can see both motives woven into the same poems and the genre can be truly called epic-romance.
Nevertheless, the genre is perhaps best exemplified by three other long narrative poems: Phra Lo; Khun Chang Khun Phaen, and Phra Aphaimani [...] They are stories of love and war and the essential quality of a Thai hero is that he should be as adept in the bedchamber as he is upon the battlefield...“(5) [Hervorhebung durch die Autorin]

In Pra-Apaimanie tritt an die Stelle der Lebensgeschichte eines europäischen Ritters die Lebensgeschichte eines Königssohns im thailändischen Kontext . Der Versroman besitzt kein Hauptthema, wie es in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zu beobachten ist. Vielmehr besteht die Geschichte aus der Aneinanderreihung von Episoden, wobei sich die Figuren in zwei Gruppen klassifizieren lassen, nämlich die Figuren, die normale Menschen sind, darunter auch solche, die vom Autor frei erfunden sind, wie alle Figuren aus dem europäischen Reich „Langka“. Auf der anderen Seite stehen Fabelwesen und Dämonen, wie z.B. die Dämonin, die Seejungfer usw.

Während sich die angestrebte Bildung in Wilhelm Meisters Lehrjahre explizit in den Handlungsabläufen, Gesinnungen und Erkenntnissen entfaltet, sei es konkret bei Wilhelm Meister oder abstrakt als phantastische Imagination und intellektuelle Reflexion auf die Kunst, steht sie als ein früher Lebensabschnitt bereits förmlich am Anfang der Lebensgeschichte Pra-Apaimanies. Dass der Held auf einer „Wanderung“ auf die Suche nach einem besten „Lehrer“ gehen soll, um sich auszubilden, vor allem im Wald oder in den Bergen, kann auf die literarische Tradition Indiens zurückgeführt werden. Nach der Ausbildung erst beginnt die eigentliche Umsetzung der in der Bildung erworbenen Kenntnisse oder auch Erkenntnisse in die Praxis, ins reale Leben. So beginnen auch zahlreiche thailändische Literaturwerke im Zeichen der „indischen“ Tradition mit der Abenteuergeschichte erst nach der „formellen Bildung“ des Protagonisten, dem erst während seiner Wanderjahre außergewöhnliche Figuren begegnen, die ihn zu Überraschungen, Unannehmlichkeiten und neuen Lebenserkenntnissen führen bis hin zum Gewinn einer Geliebten. Mit diesem Unterschied wird die Struktur des europäischen „Bildungsromans“ geradewegs auf den Kopf gestellt.

In Pra-Apaimanie wird am Anfang des Versromans die Wahl des Flötenspiels, d.h. die Entscheidung, zum Musikalischen und Künstlerischen von seinem Vater, dem König, als die „ falsche Bildung“ bezeichnet. Der Vater treibt ihn sogar aus dem Lande. Die Bildung eines Königssohns im indisch-traditionellen Sinne bedeutet für König Suthat das Erlernen der „magischen Sprüche” sowie die Suche nach „Zauberutensilien” zur Verteidigung des Landes. Der Königsohn wird zum Künstler, genauer, Musiker. In den Geschehensabläufen um Pra-Apaimanie wird aber überzeugend gezeigt, dass die künstlerische Fähigkeit des Flötenspiels nicht nur eine „magische” und machtübergreifende Kraft besitzt. Vielmehr kann der musikalische Klang der Flöte:

„ … das Herz des Menschen umschmeicheln
mit fünf irdischen Sinnlichkeiten -
Erscheinung, Geschmack, Geruch, Klang neben Berührung
Der Mensch wird von Liebessehnsucht durchdrungen
mit der Musik ist es gelungen,
dass sein Herz weicher wird,
Er schläft, so recht - bis zur Bewußtlosigkeit
danach - siegt man mit weisen Plänen - im Streit.
     (Pra-Apaimanie, 1950, S.6, meine Übersetzung)

Das Erlernen des Flötenspiels als Bildung steht hier für das Erkennen der Natur des Menschen und die Kenntnis seiner Seele. Dieser aufgeklärte Intellekt bzw. die künstlerische Begabung wird metaphorisch in magische Kraft umgesetzt.

Indem Pra-Apai durch seine Musik Leute zum Schlaf oder zur Bewußtlosigkeit bringen und sogar in den Tod treiben kann, werden die schöpferischen Kräfte des „Musika­lischen“ konkret in schöpferischer Tätigkeit. Die künstlerische Fähigkeit  bzw. die Musik in Pra-Apaimanie als „scheinbare Nicht-Tätige“ vermag so mehr als andere konkretere Fähigkeiten.

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Abb. 3: Die magische Kraft des Flötenspiels, die Leute zum Schlafen, zur Bewusstlosigkeit, sogar den Tod zu bringen.
King Rama5 008.jpgAbb. 4: Pra-Apai und die kluge Walie, seine erste Konkubine

Das „Musikalische“ im Sinne des thailändischen Dichters Sunthorn-Phu als „reale Musik“ , das sich grundsätzlich als konkrete Melodie hören läßt, drückt sich in der romantischen Super-Gattung des Romans als entscheidendes Element der Romanhandlung aus. Pra-Apaimanie und sein Bruder Srisuwan unterscheiden sich von anderen Figuren in thailändischen „Romances“ dadurch, dass sie, nach ihrer Bildung am Anfang der Geschichte, kein Thron erwartet. Der Zweck ihrer „Wanderjahre“ außerhalb ihres Reiches lautet nur:

    „falls uns Städte oder Häuser begegnen
    in denen ruhen unsere Wege...“
        (Pra-Apaimanie, S.9, meine Übersetzung)

Die Wanderjahre Pra-Apamanies sind im Wesentlichen charakterisiert durch den Kampf ums Überleben.  Allerdings muß Pra-Apai stets die Zauberkraft der Musik zu Hilfe nehmen, um im Kampf siegen zu können. Wo ihm das Flötenspiel nicht helfen kann, wie etwa in kritischen Situation mit Frauen, ist er zu einem aktiven Entschluß oft nicht fähig. Dagegen verlegt der Autor „Bestimmtheit“ und „Gewandtheit“, auch Stärke, Klugheit und sogar männliche Tugenden im kriegerischen Kampf in die „Frauen“, vor allem in die drei Frauen Pra-Apaimanies, nämlich Suwannmalie, Lveng-Vannla und Walie, die arme Konkubine, die ihr Leben geopfert hat. Allerdings bewährt sich deren Souveränität vor allem in ihrer Gewandtheit als „Helferinnen“ des Helden.

Zwischen den Stationen der Lebensgeschichte Pra-Apaimanie und Wilhelm Meisters Lehrjahren besteht eine gewisse Ähnlichkeit insofern, als sie zu bestimmten Gesinnungen oder Erkenntnissen führen. Der Unterschied liegt nur darin, daß die Erkenntnisse in den Lehrjahren jeweils zu Wilhelms Bildung beitragen, während der Autor Sunthorn-Phu anhand der Handlungsabläufe beabsichtigt, dass seine Leser, und nicht der Held des Romans, zur wahren Erkenntnis des Lebens gelangen. Ob der Leser diese Absicht erkennt, oder sich mit dem Versroman bloß Unterhaltung schafft, ist hier nicht von Belang. Es ist aber zu bemerken, dass der Dichter Sunthorn-Phu bei der Gestaltung von Lebenserfahrung und Lebensklugheit einen hohen Wert auf die Fähigkeit eines Menschen legt, andere Menschen in ihren Gedanken sowie in ihrer Moral richtig einzuschätzen. Die Stärke des Pra-Apaimanie liegt nicht in der Umsetzung seiner Gesinnungen in aktive Tätigkeit wie bei Wilhelm Meister, sondern eher in seiner intellektuellen Kenntnis der Seele und Natur des Menschen und der Dinge. Diese Fähigkeit zeigt sich bereits in seinem Entschluß, Flötenspiel statt irgendeine Kunst des kriegerischen Kampfes zu lernen, was sich als sehr „traditionswidrig” für einen Königssohn erweist. Mit dem Gedanken, „die Musik kann dem männlichen und weiblichen Geschlecht ihre Sorge abnehmen” (Pra-Apaimanie 1950, S.4), legt Pra-Apaimanie Wert auf das Glück seines Volkes, während Srisuwan, sein Bruder, mehr an die Verteidigung seines Landes gegen äußere Gefahr denkt. Und obwohl Pra-Apaimanie selbst keine heroische Tat als Kämpfer vollbringt, kann er mit großer Sicherheit andere Menschen in ihren intellektuellen Fähigkeiten erkennen und einschätzen. Als gutes Beispiel dafür kann die Berufung „kluger Männer” zur Verteidigung der Stadt gelten, weil er den großen Kampf mit dem europäischen Prinz Usaren vorhersieht. Bei der Wahl kluger Berater ist Pra-Apai von der Klugheit einer häßlichen Frau, Walie, so überzeugt, daß er sie nicht nur als Beraterin, sondern nach ihrem Wunsch sogar schließlich als erste Konkubine akzeptiert. Diese Kenntnis der Menschenseele beherrscht als Leitmotiv den ganzen Versroman. Damit macht Sunthornphu eher auf die Gefahr, die von Menschen ausgeht, aufmerksam, als auf die Gefahren aus der Natur oder von äußerlichen Dingen. Dazu wird eine berühmte und bekannte Stelle immer wieder zitiert: In der Szene, in der Suttsakorn, der Sohn Pra-Apai und der Seejungfer, von dem alten Mann betrogen und verletzt wird, kommt der Einsiedler, sein Lehrer, und bringt ihm die Lebensklugheit bei, daß man Menschen kein grenzenloses Vertrauen schenken solle und dass die Seele eines Menschen tief, kompliziert, und schwer zu erkennen ist - sogar tiefer und verwirrender als Schlingpflanzen.

Die Schwäche von Pra-Apai, wie sie an seiner blinden Faszination von dem magischen Bilde La-weng-wannlas erkennbar ist(6), oder die Gier des alten Mannes, das magische Pferd und den magischen Stock zu besitzen, spiegeln die unerbittliche, oft maßlose Begierde des Menschen wider. Dass Suttsakorn die magische Kraft des Bildes La-weng zerstören muss und damit seinen Vater Pra-Apai aus seiner inneren Krise befreit, ist offensichtlich eine Allegorie: der Kampf mit der blinden Wahrnehmung und Begierde im Sinne des Buddhismus.(7)

 

3.  Zur Rezeption des thailändischen Versromans Pra-Apaimanie

Der Versroman Pra-Apaimanie war zur Zeit seiner Entstehung sehr erfolgreich. Die sehr poetisch gedichteten Verse bieten ihrem „Leser”, genauer ihrem „Zuhörer”, nicht nur spannende und unterhaltsame Abenteuergeschichten. Zu Beginn der Rattanakosin-Periode (1782-1851, d.h. von König Rama I. bis Rama III.) wurde das Pra-Apaimanie in erster Linie nicht gelesen, sondern vorgelesen, eine Aufführungspraxis, die Züge der Theaterkunst aufweist. Zu jener Zeit waren den Siamesen literarische Werke im Allgemeinen nicht durch Schrift, sondern durch Theateraufführung und durch mündliche Tradition zugänglich. Seit der Ayutthaya-Zeit (1350–1767) beschränkt sich die Lektüre auf den engeren Kreis der Gebildeten. Aber auch für die gebildeten Bangkoker wurde Anfang der Rattanakosin-Zeit eine neue Art der literarischen Rezeption populär, nämlich der Umgang mit Literatur durch das Hören von vorgelesenen Texten, und dies galt bald als unverzichtbarer Bestandteil der Unterhaltung der gebildeten Siamesen.(8) Dieser Art der Unterhaltung der Siamesen zu jener Zeit entsprach die linear-lockere Erzählstruktur abenteuerlicher Episoden des Versromans Pra-Apaimanie, da sich die Geschichte sukzessiv und kontinuierlich als Serie vorlesen ließ. Da die Reime gesungen wurden, gewann der Vortrag eine besondere Nähe zur Theaterkunst.

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Abb. 5: Rama III (1824-1851)

An dieser Stelle sei bemerkt, dass die literarische Rezeption im damaligen Siam zu der Zeit von Pra-Apaimaine von der Überlieferung und Rezeption der Literatur im Volk durch vorwiegend mündliche Tradition, durch Gesang oder Theater zu einer völlig neuen Form der Schriftliteratur überging. Die Einführung der Druckmaschine durch den amerikanischen Missionar Dr. Danbeach Bladley M.D. im Jahr 1836 gab dem literarischen Leben in Siam ein neues Gesicht. Der nun in Serien gedruckte Versroman Pra-Apaimaine wurde nicht nur hauptsächlich vorgelesen, sondern auch gelesen und fand so ein breiteres Publikum. Es war die Zeit, in der die  Kolonialpolitik der europäischen Mächte in Siam und in der Welt sichtbar und mächtig wurde. Nach Siam kamen seit der Regierungszeit des Königs Rama III. viele europäischen Gesandtschaften, die nicht nur zu neuen Beziehungen Siams zu den europäischen Mächten, insbesondere England, Frankreich, Deutschland und Russland, führten, sondern auch zur Modernisierung des Landes nach westlichem Modell durch König V. (König Chulalongkorn) nach seiner ersten Europareise 1897

Es ist lohnend, einen weiteren Blick auf den Grund für den ästhetischen Erfolg von Pra-Apaimanie zu werfen. Die linear-lockere Erzählstruktur abenteuerlicher Geschichten kann ja zu dieser Zeit nicht mehr die hinreichende Erklärung für die Popularität des Romans sein. Man muss bedenken, dass der Versroman nicht von vornherein für eine Aufführung konzipiert und aufgenommen wurde, bei der das Publikum durch eine Kombination von Varietäten der Modi gefesselt wird. Diese Varietäten hat Chetana Nagavajara beschrieben:

„The way to capture the attention of a Thai audience is therefore not through concentration by way of a single mode of theatrical expression. The audience can be captivated by a combination of a variety of modes that may include the spoken word, singing, miming, music and dance; and these need not be employed concurrently or simultaneously. On the surface the shifting from one mode of expression to another may give an air of haphazardness, but at the root of this practice lies a deliberate stratagem, an artistic principle, which, for want of a better term, may be called an aesthetics of discontinuity…”(9)  (Hervorhebungen durch die Autorin)

Wenn Chetana Nagavajara diese Theorie auch am Theater entwickelt hat, so gilt sie mit einigen Abweichungen auch für das Vorlesen von langen Romanen und damit auch für den Vortrag von Pra-Apaimanie. Die poetische Wirkung der „variety of modes” wird noch verstärkt durch das spannende Moment der abenteuerlichen Episoden, die sehr unterhaltsam sind. Zahlreiche traditionelle Epen und nicht weniger traditionelle thailändische Dramen, für die eine Vermischung ihrer dramatischen und epischen Eigenschaften charakteristisch ist, wie „Inao”, „Ramakien” (die thailändische Version des Ramayana), oder das Volkstheater (Likae) „Kraithong”, weisen auch eine solche Vielfältigkeit des Inhalts und des literarischen Ausdrucks auf. Für diese Strategie der Vielfalt, die man im theoretischen Sinne auch eine Ästhetik der Vielfalt nennen darf und die sich nicht allein auf die literarische Kunst beschränkt, ist auch die Vermischung von mythischen und realen Motiven und Personen in Pra-Apaimanie und anderen Romanen bezeichnend.

In der Doppelbezeichnung „epic-romance poems“ für Pra-Apaimaine versucht E.H.S. Simmonds (1953) diese Vermischung der literarischen Gattungen in der traditionellen Thailiteratur aufzufangen:

„... These epic - romance poems are no longer made in Thailand but they are still known and, in the country districts, sung,... they are in touch, ... with the triumphs and tragedies of love and resourcefulness of its hero practitioners, not only because the appeal of magic still remains, [but also because the heroes, not historical personages themselves in any real sense], …They are heroic but they are not out of touch with reality.... epic and romance are indeed closely and essentially intertwined at the very heart of this narrative tradition.“(10)

Wenn wir überhaupt von der Vermischung der Gattungen in der Thailiteratur reden, so müssen wir mit Vorsicht verfahren, weil es beim Inhalt des Pra-Apaimanie nicht etwa um eine pure Ästhetik der Vielfalt, sondern um die ästhetische Kraft einer diskontinuierlichen Vielfalt geht, die mit dem Prinzip „L’harmonie des contraires“ verglichen werden kann, das Victor Hugo in Préface de Cromwell (1827, 223) entwickelt.(11) Hier fehlt offenbar eine strenge Beziehung zwischen Form, Variety of modes durch an aesthetics of discontinuity, und Inhalt durch die Ästhetik der Vielfalt. Dafür verantwortlich scheinen mir die Vermischung von Gattungen sowie der neue veränderte Umgang mit der Literatur an Thailands „Schwelle der Moderne“, die eine neue Art der Literaturrezeption in Siam darstellt.

Die bewusste Vermischung von Gattungen in der neueren europäischen Literatur ist allgemein bekannt. Dieses literarische Phänomen hat seinen Anstoß durch die Verehrung Shakespeares erhalten, und die europäische Romantik hat besonders in der Erzählkunst die Mischung der Gattungen zu einer regelrechten Artistik entwickelt. Als Gipfel dieses ästhetischen Prinzips in Deutschland gilt Richard Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerkes. Auch hier, wie bei der Konzeption der Bildung in der europäischen Literatur am Beispiel Wilhelm Meister, ist die Vermischung von Gattungen oder das Prinzip „L’harmonie des contraires“ im Sinne Hugos ein bewusstes literarisches Verfahren, während in der Thailiteratur, wie es auch am Versroman Pra-Apaimanie deutlich wird, diese ästhetische Kategorie sich naturgemäß schon von Anbeginn aus dem Unterhaltungsprinzip und aus der Praxis der Rezeption herleiten läßt. Das deutet wiederum darauf hin, dass die Formen der Erzählkunst stets in nicht geringem Maße von den Konventionen der Lektüre oder des Zuhörens abhängig sind, die zur Zeit ihrer Entstehung in der einen oder anderen Kultur vorherrschen. In dieser Hinsicht ist eine südasiatische „Romance“ eher einem europäischen Versroman des Mittelalters und in der lockeren Reihung ihrer Episoden allenfalls noch einem frühneuzeitlichen Schelmenroman vergleichbar, obwohl das spezifische Gewicht, das diese Romane auf eine „innere“ Bildung des Helden, wie etwa die von Pra-Apaimanie erworbene Menschenkenntnis, legen, sie gleichzeitig in eine Tradition stellt, die bis hart an die Gegenwart reicht. Dies gilt nicht zuletzt auch für die autobiographischen Züge und die Elemente aus der „frühmodernen Siams“ in der Zeit des Rama III. Anfang des 19.Jahrhunderts. Es war die Zeit vor der intensiven Kontakte mit der westlichen Kultur, die man gerade diesem Roman zugesprochen hat.

 

4.  Der Künstler an der „Schwelle der Moderne“
     und die autobiographischen Züge der Bildungsromane

Viele Kenner der Thailiteratur vertreten die Ansicht, dass Pra-Apaimanie sich, in Analogie zu Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, als autobiographischer Versroman lesen läßt. Man erkennt den Autor wieder in der Figur des Pra-Apai, insbesondere an seinem Charakter als „Mann mit vielen Frauen“, der immer wieder in kritische Situationen gerät und vor schwierigen Entscheidungen steht. Sunthorn-Phu selbst hatte viele Liebesverhältnisse, die manchmal sogar zu einer dann erfolglosen Ehe führten. Nicht nur die Variationen des Liebesmotivs sprechen für die „autobiographischen Charakterzüge” des Romans. Die melancholischen Stimmungen, die den Dichter Suthorn-Phu fast sein ganzes Leben begleiten, finden Ausdruck in der Wanderung des Prinzen Pra-Apaimanie, vor allem in der „Flucht vor sich selber und vor andern”, die Klaus Wenk auch in andern Dichtungen Sunthorn-Phus feststellt.12() Das ständige Reisen über See in Pra-Apaimanie, das in der Thailiteratur, wo die Geschichte hauptsächlich auf dem Land spielt, unüblich ist, die Flucht vor den Frauen sowie die wiederholte Flucht aus dem Laienstand zu einem Einsiedler oder in ein mönchisches Leben lassen sich als Äußerungen eines Unfriedens mit sich selbst interpretieren, den Pra-Apai mit seinem Autor teilt und den er durch die magische Kraft des Flötenspiels zu sublimieren sucht. Im Versroman betont Sunthorn-Phu stets das Leiden an der Liebe, an sinnlichen Begierden und anderen menschlichen Leiden. Jedoch ist keine seiner Handlungen – gemäß der buddhistischen Regel des „Karma” – neutral ohne Folgen. So reflektiert Pra-Apaimanie ebenso die vielfältigen Erfahrungen des Dichters, die bei ihm in der buddhistischen Welterfahrung resultieren, wie sich bei Wilhelm Meister besondere europäische Lebenserfahrungen und die philosophischen Anschauungen seines Autors ablesen lassen. Bei aller Ironie wollte Goethe den Roman eines sinnvoll entfalteten realen Lebens schreiben.

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Abb. 6:
Abb. 7:
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Die Lebensgeschichte des Pra-Apaimanie reflektiert nicht nur seine autobiographischen Züge, viele Episoden, Stationen und Elemente sowie Figuren, Pflanzen und Tiere, Geschichten, Landkarten, Orte, Natur, Völker, Religion, Sitte, Mythen und Glauben und sind keine reine Fantasie des Dichters. Sie gehen auf die tatsächlichen Gegebenheiten der damaligen Gesellschaft zurück. Vor allem gilt Traibhum Praruang, der „thailändischen Mythos“ aus der Sukhothai-Zeit im 13. Jahrhundert, als die Hauptquelle des abenteuerlichen Versromans. Als Beispiel dafür gilt in Pra-Apaimanie   das „Rahuu-Emblem“ vor dem Schiff der „Nang Farang – Laveng Vannla“ als Schutzsymbol für alle „Farang“ oder alle Europäer. Das Rahuu-Emblem ähnelt einem Menschengesicht und geht auf das Symbol zurück, das im Buch Die Königliche Schifffahrt, Geschichte und die Königlichen Zeremonien (publiziert von Department of Fine Art, Thailand, 2000) zu finden ist. Dieses Sinnbild bezieht sich auf den „Fisch mit menschlichem Gesicht“ (Pla Na Kon), den wir heutzutage unter den Namen „Pla Kraben“(13) kennen.

    Ra-huu, Symbol des Kontinentaleuropa zu tragen,   
    das soll allen Farangs vor der Sterblichkeit bewahren,
    [“ให้ทรงตราราหูคู่ทวีป  รักษาชีพชาติฝรั่งสิ้นทั้งหมด” ]     
        (Pra-Apaimanie, Kapitel 53, S. 1076, meine Übersetzung)

   Das Stadtsymbol Ra-huu holt die Schöne,
   dem adeligen Könige einreichen,
   [นางมอบตราราหูคู่พารา  ให้องค์พระมังคลาปรีชาชาญ]
        (Pra-Apaimanie, Kapitel 53, S. 1077, meine Übersetzung)

 

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Abb 8.: Königin  Victoria

Sehr bekannt und hoch geschätzt unter den Thailändern in diesem Abenteuerversroman sind Hinweise und Kenntnisse über die Europäer. Sunthorn-Phu bezieht sich offensichtlich in der Schilderung zahlreicher Szenen der Seelandschaft auf die von den Europäern aufgestellte Landkarte von Südostasien in der Zeit König Narais. In bezug darauf wird die Stadt „Longka“ im Indischen Ozean in Pra Apaimanie lokalisiert.(14) Auch die Landschaft mit vielen Schiffen aus Asien und Europa im Chao-Phraya Fluss vor dem Königlichen Hof Anfang der Rattanakosin Periode zeigt Bangkok als Handelszentrum und weist offenbar auf die Zeitgeschichte zu Beginn der Beziehung mit dem Westen: Die Begegnung mit den Europäern und die immer deutlich sichtbare Bedrohung der Kolonialpolitik der Westmächte in der Regierungszeit dem Rama III. (Phrabat Somdej Pra-Nang Glau Chao Yu-hua). Den Lesern sind viele “Farangs” bzw. Europäer in Pra-Apaimanie begegnet: Nang Lveng-Vannla, die vermutlich auf das Bild der Königin Victoria von England im Alter von 18 Jahren verweist. Das Bild hat Phraya Saiburi Rama dem III. im Jahre  1847 (B.E.2380) überreicht. Vermutlich kommt der erste Anfangsbuchstabe ‚V’ von „Lveng-Vannla von ‚Victoria’. Auch Sunthorn-Phuu hat der schönen Europäerin Lveng-Vannla mit Vor- und Nachnamen zum ersten Mal initiiert. Zu seiner Zeit hatten die Siamesen noch keine Familiennamen. Sie werden in der Regel durch das Prädikat „Sohn bzw. Tochter von Nai Daeng (oder Herrn Daeng) spezifiziert.

5.  Ausblick

Dieser Vergleich von Romanen aus verschiedenen Kulturen führt zu einer weiteren wichtigen Feststellung. Es handelt sich hier nicht bloß um Erzählungen aus verschiedenen Kulturkreisen, sondern auch aus verschiedenen Kulturstufen. An der jeweiligen Rolle der Kunst des Theaters und die soziale Tätigkeit als „poetisches“ Prinzip einerseits und als konkrete „melodische Musik“ andererseits ist diese Ungleichzeitigkeit der europäischen und thailändischen Romane ebenso wie die anthropologischen Ähnlichkeiten oder gar Gemeinsamkeiten deutlich erkennbar. Es ist seiner Zeit ganz angemessen, dass Goethe Die Leiden des jungen Werther oder Wilhelm Meister Lehrjahre Jahrhunderte nach dem Zeitalter der Versdichtung des europäischen Mittelalters im Ausklang des 18. Jahrhunderts, viele seiner Romane in Prosa schrieb, während der thailändische Dichter Sunthornphu fast um dieselbe Zeit noch in Formen dichtete, die mit denen des europäischen Mittelalters vergleichbar sind. Wenn Pra-Apaimanie am besten mit mehreren Jahrhundert älteren Romanen, wie z.B. „epic romances“ in Europa und sogar mit mittelalterlichen Versepen zu vergleichen ist, wie es sich schließlich sogar am Beispiel sogenannter „Kleiderstrophen“ zeigen läßt, dann handelt es sich offensichtlich um ungleichzeitige Entwicklungsstufen der beiden Kulturen, was im übrigen nichts mit der jeweiligen „Höhe“ einer Kultur zu tun hat. Die siamesische Schreib-und Vortragsweise zur Entstehungszeit von Wilhelm Meisters Lehrjahre läßt noch sehr viel deutlicher die orale Tradition der Großerzählung erkennen, die in Europa seit 1500 durch den Buchdruck stark eingeengt worden ist. Nach der Einführung des Buchdrucks in Siam, erst 1836 und noch dazu durch fremde Hand, ist die noch bis in die jüngste Zeit lebende literarische Oraltradition auch eine Antwort und auch eine Begründung dafür, daß die Schrift- und Lesetradition bei den Thailändern bis heute nie richtig Fuß fassen konnte.

Die über viele Stationen fortgesetzte Abenteuererzählung und die leichter zu behaltende Versform des Pra-Apaimanie und anderer Romane weisen noch deutlich auf den abschnittsweisen mündlichen Vortrag hin - wie auch in den Epen Homers, in der Versform der mittelalterlichen Ritterromane und noch, wenn auch schon schwächer, in der Episodenreihung der Schelmenromane und „romances“ Westeuropas eine solche ältere Vortragsweise noch zu erkennen ist. In Thailand ist diese mündliche Tradition erst in der jüngsten Vergangenheit durch den westlichen Einfluß verändert worden. Deshalb ist es auch denkbar, daß die idealistische Entfaltung der Einzelpersönlichkeit, wie sie in Europa am Ausgang der Fürstenherrschaft eintrat und um 1800 eben auch die Romane Goethes und Schlegels prägt, in Thailand womöglich in kurzen Jahrzehnten durch eine noch weitergehende Modernisierung übersprungen wird und deswegen historisch kaum zur Geltung kommt.

Um davon ein klares Bild zu gewinnen, bedarf es allerdings einer anderen ausführlichen Studie.

  

Anhang

Kurzer Überblick über die Fabel des Versromans Pra-Apaimanie

König Suthat des Reiches ‘Rattana’ hatte zwei Söhne: Pra-Apaimanieund Srisuwan. Im Alter von 15 Jahren verließen die beiden Prinzen Pra-Apaimanie und Srisuwan ihre Heimatstadt, um sich „auszubilden“. Pra-Apaimanie lernte die Kunst des Flötenspielens bei einem Brahma. Sri-suwan, sein Bruder, erwarb die Kunst, mit einem Knüppel zu kämpfen. Der Königsvater aber war über die beiden Söhne sehr empört, da er mit ihren erworbenen Kenntnissen nicht einverstanden war, und er vertrieb sie aus seinem Reich. Damit fingen die eigentlichen „Lehrjahre“ der beiden Prinzen an. Während der Wanderung lernten die Prinzen drei Brahmen kennen: der einer konnte ein Schiff aus normalem Gras bauen, der zweite verfügte über die Fähigkeit, Wind und Regen zu rufen, und der letzte, der Schütze, konnte sieben Pfeile auf einmal auf dem Bogen spannen und schießen. Die drei Brahmen hörten Pra-Apaimanie Flöte spielen und verfielen infolge des wunderschönen und geheimnisvollen Klangs der Musik bald in einen Zustand der Bewußtlosigkeit. Pra-Apaimanie aber wurde von einer Dämonin entführt, die sich in eine schöne Frau verwandelte, und Pra-Apai mußte mit ihr zusammen in einer Höhle leben.

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Abb. 9:
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Abb. 10:

Die drei Brahmen und Sri-suwan wußten durch ihre ‘Sonderaugen’, daß Pra-Apaimanie in Sicherheit war. Die vier traten eine Seereise an und gelangten in ein Reich, das von der Gefahr einer Eroberung bedroht war, da die Königstochter bereits viele Heiratsanträge abgelehnt hatte. Sri-suwan und seine Brahmafreunde kämpften tapfer für den König, und Sri-suwan heiratete schließlich die Prinzessin, seine Geliebte, die er zufälligerweise nach seiner Ankunft in der Stadt traf.

Pra-Apaimanie bekam mit der Dämonin einen Sohn, Sinsamutt. Eines Tages lief Sinsamutt aus der Höhle zum Spielen. Ihm begegnete ein Wassermann. Aus Unwissenheit fing der Junge den Wassermann und führte ihn zu seinem Vater. Mit Hilfe des alten Wassermannes, seiner Frau und deren Tochter gelang es Pra-Apai und seinem Sohn Sinsamutt zu fliehen, doch wurden die beiden Alten während der Flucht von der Dämonin gefressen. Die drei gelangten dann zur „Glasperleninsel“ und wurden von einem Einsiedler gerettet. Die Seejungfer wurde später die Frau von Pra-Apai. Die drei lebten auf der Insel. Bald aber beschlossen Pra-Apai und sein Sohn Sinnsamutt Einsiedler zu werden.

Es existierte damals noch ein anderes Reich, dessen König eine sehr schöne Tochter hatte, namens Suwannmalie. Ihr Verlobter war der europäische Prinz Usraren. Eines Nachts träumte die Prinzessin von einem Glas auf einer Insel und konnte seitdem kaum essen und schlafen. Aus Liebe zu seiner Tochter begleitete ihr Vater sie dann auf einer Seefahrt. Unglücklicherweise zerstreuten sich die Schiffe wegen eines Sturms und die ganze Mannschaft landete auf der „Glasperleninsel“. So baten Pra-Apaimanie, Sinsamutt und die Schüler des Einsiedlers den König, dass sie mitfahren dürften. Auf dem Rückweg wurde die Gruppe von der Dämonin verfolgt. Viele Schiffe sanken, und der König ertrank im Meer. Pra-Apai und alle Schüler des Einsiedlers waren auf einen Berg geflüchtet. Als er keine andere Wahl hatte, nahm er Abschied vom Einsiedlertum und spielte auf seiner Flöte, so unheimlich und geheimnisvoll, daß die Dämonin schließlich starb und in Stein verwandelt wurde. Sinsamutt aber liebte die schöne Prinzessin Suwannmalie wie seine Mutter. Sie waren auf einem anderen Schiff und hatten der Dämonin entfliehen können. Nach einem Kampf mit einem Seeräuber konnte Sinsamutt ihn mit Hilfe der klugen Prinzessin töten. Darauf wurde er von der Seeräubermannschaft zum Führer ernannt. Als Sinsamutt in der Stadt seines Onkels Srisuwan ankam und dabei war, die Stadt zu erobern, nachdem er Srisuwan in seine Gefangenschaft gebracht hatte, erfuhr er, daß sie Verwandte waren. So gingen alle aufs Neue auf die Suche nach Pra-Apaimanie. Auch Suwannmalie, die angebliche Mutter Sinnsamutts, nahm an der Expedition teil.

Der europäische Prinz Usaren, der Verlobte Suwannmalies, traf auf der Suche nach seiner Verlobten Pra-Apaimanieund half ihm. Die beiden Gruppen trafen sich, aber Sinsamutt wollte Suwannmalie dem Usaren nicht herausgeben. Pra-Apai, entsetzt von der zwiespältigen Situation, spielte auf seiner magischen Flöte, um seinen Sohn Sinnsamutt zu sich kommen zu lassen. Aus Dankbarkeit zu Usaren versuchte Pra-Apai, trotz seiner Liebe zu Suwannmalie, seinen Sohn Sinsamutt zu überreden, Usaren seine Braut zurückzusenden, was ihm nicht gelang. Nach seiner Niederlage im Krieg gegen Sinsamutt musste Usaren in seine Heimat zurückfliehen.

Pra-Apaimanie bekam den Thron von der Königinmutter Suwannmalies und hatte alles für die Hochzeit vorbereitet. Prinzessin Suwannmalie aber, in voller Enttäuschung, dass Pra-Apai ihren Verlobten zurücksenden wollte, verließ den Hof und wurde  Nonne.

 

Prinz Usaren kam später mit seiner Truppe, wollte die Stadt Pra-Apais erobern und seine Braut zurück bekommen. Mit Hilfe einer häßlichen, aber sehr klugen Frau, Walie, die Pra-Apai auch zur ersten Konkubine nahm, konnte die Stadt vor Usaren gerettet werden. Und wiederum durch die Hilfe Walies konnte Pra-Apai Prinzessin Suwannmalie endlich heiraten.

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Abb. 9: Der europäische Prinz Usren
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Abb. 10: Sudsakorn, Sohn Pra-Apais mit der Meerjungfrau und das magische Pferd 

Auf der „Glasperleninsel“ kam Suttsakorn, der Sohn Pra-Apais und der Meerjungfer zur Welt. Mit drei Jahren wurde der kleine Königssohn Einsiedler und ging auf die Suche nach seinem Vater, nachdem er einen magischen Stock und ein magisches Pferd von dem Einsiedler bekommen hatte. Unterwegs begegneten Suttsakorn viele Unannehmlichkeiten. Er wurde von einem schlechten alten Mann betrogen, konnte aber von dem Einsiedler gerettet werden, der ihm beibrachte, daß man den Menschen nicht zu leicht vertrauen sollte. Schließlich kam er in  einem Reich an, dessen König ihn als Sohn aufnahm, als Spielkamerad seiner kleinen Prinzessin Sawakon.

Usaren wurde im Kampf mit Walie, der ersten Konkubine Pra-Apais,verhaftet, wurde aber von Pra-Apai freigelassen aus Dankbarkeit dafür, daß ihm Usaren während der Seefahrt geholfen hatte. Trotzdem wurde Usaren von Walie solange höhnisch verspottet, bis er daran starb. Walie, verfolgt von dem Geist Usarens, starb bald danach. Darauf folgt der Tod des Königs des europäischen Reiches Langka, dem Vater von Usaren. So bekam die Schwester Usarens, Lveng-Vannla, den Thron.

Angestiftet von einem Kardinal, schickte Prinzessin Lveng den Nachbarkönigen ihr zauberhaftes Bild zu. Dabei machte sie bekannt, wer im Kampf gewänne, gewänne sie und auch das ganze Reich Langka.

Pra-Apaimanie, ganz in das Bild Lvengs vernarrt, konnte viele Könige im Kampf besiegen, und zwar mithilfe seiner Musik. Da kamen Truppen von neun Königreichen, und der Kampf tobte um die Stadt. Suwannmalie musste sich auf den Kampf einlassen. Sinsamutt, Suttsakorn, Srisuwan, der Bruder von Pra-Apai, kamen, um Suwannmalie zu helfen, und Suttsakorn vernichtete das Teufelsbild von Lveng-Vannla. Pra-Apaimanie, befreit vom dem teuflischen Spruch, konnte die Stadt schließlich retten.

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Abb. 11:

Die ganze Verwandtschaft führte ihre Flotte gegen Prinzessin La-weng, die durch einen klugen Trick einen Haufen Soldaten ihres Gegners einschließlich Srisuwan, Sinsamutt und Suttsakorn, gefangennehmen konnte. Pra-Apaimanie, in seiner hilflosen Situation, musste sich von neuem durch das Flötenspiel helfen. Die ganzen Truppen schliefen ein außer Lveng-Vannla, da sie ein Amulett hatte. Die beiden trafen sich im Feld und Pra-Apai war sofort leidenschaftlich in sie verliebt. La-weng-wannla, auch verliebt in Pra-Apaimanie, war sich aber ihrer seelischen Standhaftigkeit nicht sicher und floh.

Die Nachgeschichte behandelt die weiteren Kämpfe zwischen Lveng-Vannla, die unterstützt wurde von ihren weiblichen Soldaten, dem Kardinal und Pra-Apaimanie. Die beiden trafen sich noch ein paarmal im Kampf, aber La-weng hatte nicht den Mut, Pra-Apai zu betrügen, wie ihr der Kardinal geraten hatte. Statt gegeneinander zu kämpfen, unterhielten sich die beiden Liebenden. Die ganze Verwandtschaft wurde wiederum in den Kampf miteinbezogen, und Pra-Apai musste noch einmal Flöte spielen. Seinen Höhepunkt fand der Krieg nicht nur im gewalttätigen Kampf, sondern auch im Kampf der Eifersucht zwischen Suwanmalie, der ersten Frau Pra-Apais, und der europäischen Prinzessin Lveng-Vannla.

Der Krieg konnte kein Ende nehmen und der Einsiedler musste kommen und Frieden predigen. Danach erzählt der Autor von den Enkeln Pra-Apais, wie sie ihre „Partner und Partnerinnen“ fanden. Der letzte Krieg brach aber noch einmal aus, da die Brüder von Lveng-Vannla, mit Hilfe des Kardinals, den Tod ihres Vaters und des älteren Bruders an Pra-Apai rächen wollten. Durch sein Flötenspiel konnte Pra-Apai aber bewirken, dass alle bewußtlosen Soldaten wieder zu sich kamen und die Feinde besiegten.

Die beiden Protagonistinnen, Suwannmalie und Lveng-Vannla, noch enttäuscht von Pra-Apai, verhielten sich reserviert und ablehnend, worauf Pra-Apai den Entschluß fasste, auf einem Sing-kut Berg für sein weiteres Leben Einsiedler zu  werden.

Damit endet die in Versen verfaßte Lebensgeschichte des Pra-Apaimanie.

 

Literaturverzeichnis

 


Anmerkungen:

1 Vergleiche: Eberhard Lämmert, Regelkram und Schöpferlaune, Goethes erzählte Romantheorie, in: Regelkram und Grenzgänge von poetischen Gattungen, hrsg. von Eberhard Lämmert und Dietrich Scheunemann, München: Edition Text und Kritik, Bd. 1 der Reihe „Literatur und andere Künste“, 1988, S. 58.
2 siehe. Prinz Damrong-Rachanubhab: Zur Lebensgeschichte Sunthorn-Phu, in: Pra-Apaimanie, Bangkok: Kuru-sapa Verlag, 1950, S.1-41; dazu auch kritische wissenschaftliche Feststellung Klaus Wenks zur Lage der iteraturwissenschaftlichen Forschung in Thailand,daß „alles einen recht desolaten Zustand darstellt” und „vieles dürfte hiervon in das Reich der Phantasie oder der Anekdote verwiesen werden können…”, s. Klaus Wenk: Studien zur Literatur der Thai, Bangkok: Editions Duang Kamol, S.7, auch S.4-19.
3 Meyers grosses Taschenlexikon in 24 Bänden, Bd.18, Bibliographisches Institut Mannheim/ Wien/Zürich: Meyers Lexikonverlag, 1983, S. 311.
4 S. Northrop Fry, Anatomy of Criticism, New Jersey: Princeton University Press, 1957, und vgl. Witt Siwasiriyanon, Literature and Literary Criticism, Bangkok: Thai Wattanapanit, 1. Auflage, 1988, S. 56 (in Thai).
5 E.H.S. Simmonds, Epic-Romance Poetry in Thailand, in: Journal Political Science Review, first year, No. 2, October 1953, 100-106.
6 Dieses literarische Motiv kommt häufig in Thailiteratur vor, z.B. in „Inao“.
7 Vgl. Suwanna Kriengkraipett: Pra-Apaimanie, Bangkok: Verein des Bibliothek Thailands, 1978, S. 61-65.
8 Vgl. Nithi Iao-Sriwong, „Pak-Kai” und „Bai-Rüa” – Eine Studie über die Literaturgeschichte Anfang der Rattanakosin-Periode, Bangkok: Ammarin publishing, 1995, S.237-240, 301-302, 306.
9 Chetana Nagavajara: An Aesthetics of Discontinuity: Contemporary Thai Drama and Its Western Connection, in: Chetana Nagavajara - Comparative Literature from a Thai Perspective, collected Articles 1978-1992, Bangkok: Chulalongkorn University Press 1996, S. 237-246.
10 E.H.S. Simmonds, (Anm. 5), S.106.
11 Über diesen Punkt wird ausführlich diskutiert in: Chetana Nagavajara, August Wilhelm Schlegel in Frankreich - Sein Anteil an der französischen Literaturkritik 1807 – 1835, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1966, 285-310.
12 Zu diesem Thema in anderen Werken Sunthorn-Phus in deutscher Sprache, s. Klaus Wenk: Studien zur Literatur der Thai, (Anm. 2), S. 8-18.
13 Die Bezeichnung “Pla Kraben” (ปลากระเบน) kommt von der Khmer Sprache “เตรย์ บอเบล”  oder “Trey bawbel”. “Trey” bedeutet Fisch. Zitiert in: Tosporn Wongrat, Pra-Apaimanie – Woher kommt er? Information zur Bibliopgraphie des Nationalarchivs. Bangkok: Konform. 2007, S. 14-16.
14 Lom Pengkeaw, Sunthorn-Phuu : Hofschreiber des Universums. Bangkok: Pikkanet & co. Printing Centre, 2004, S. 1-167. Zitiert in: Tosporn Wongrat (2007), S.6 (Anm 13).

3.11. Das Künstlerbild und das Künstlerproblem in der Ost-West-Literatur / The Idea of the Artist and the Problem of the Artist in Literature, East and West

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For quotation purposes:
Pornsan Watanangura: Zur Lebensgeschichte des Pra-Apaimanie von Sunthorn Phu – Der Künstler an der Schwelle der Moderne - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/3-11/3-11_watananguhn17.htm

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