TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Juni 2010

Sektion 3.4. Literaturen der Migration: Konfrontation und Perturbation als kreativer Impuls
Sektionsleiterin | Section Chair:
Ursula Mathis-Moser (Universität Innsbruck)

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Sektionsbericht 3.4.

Literaturen der Migration:
Konfrontation und Perturbation als kreativer Impuls

Ursula Mathis-Moser (Universität Innsbruck) [BIO]

Email: u.moser@uibk.ac.at

 

Ausgangspunkt der Sektionsarbeit, die weitestgehend in französischer Sprache ablief, war die Tatsache, dass die das ausgehende 20. Jahrhundert bestimmende, derzeit noch nicht abgeschlossene, vorläufig aber letzte Beschleunigung der Globalisierung(1) nicht nur mit einer massiven Veränderung der Wissenskultur einhergeht, sondern auch eine Flut von literarischen Kreationen des "entre-deux" hervorgebracht hat. Sie artikulieren nicht oder nur selten die Frage nach „dem Nationalen“, sondern wenden sich stattdessen existentiellen Fragestellungen zu. Ihr Interesse gilt der Grunderfahrung und Verfasstheit des postmodernen Menschen, den Grenzsituationen der Existenz, die sie in ihrer Komplexität beschreiben oder schreibend antizipieren. Der Text wird so zu einer produktiven, durchaus auch therapeutischen Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Migration und Exil, und dies umso mehr als das "Schreiben ohne festen Wohnsitz"(2) der hier besprochenen AutorenInnen die eigene Migrationserfahrung zur Voraussetzung hat. Dabei zeigen die AutorInnen der Migration immer wieder, dass diese Erfahrung - ob auferlegt oder selbstgewählt - durchaus die kognitiven Fähigkeiten schärfen und Emotionen freisetzen kann. Die Konfrontation mit dem Unbekannten - ob getragen von einem neugierigen oder einem skeptischen Blick - zwingt zur Distanzierung, zu Vergleich und Neudefinition der eigenen Position. Sie "stört", legt Verletzungen frei und befreit gleichzeitig auch davon. Sie regt an zur Suche nach formaler Innovation ‑ kurz, die Kehrseite des "verlorenen Paradieses" kann durchaus eine positive sein.

Auf die Suche nach dieser Kehrseite begaben sich fünfzehn LiteraturwissenschaftlerInnen aus insgesamt neun Ländern, die ihren kritischen Blick auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlicher Perspektive ‑ mit einer einzigen Ausnahme (Beitrag Angelo Pagliardini) ‑ auf AutorInnen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts richteten. Unabhängig davon, ob die behandelten AutorInnen in Asien, Europa, Schwarzafrika, im Maghreb oder in der Karibik beheimatet sind, ob ihr Lebensweg sie in die Metropolen Frankreichs oder der USA führt oder ob sie als "éternels migrants" mehrere Stationen durchlaufen, sie teilen die Primärerfahrung der Migration und die Reflexion über diese Grenzsituation und entwerfen in ihrem literarischen Werk – in autobiographischer oder autofiktionaler Form, in der Zeichnung ihrer Figuren oder aber im Umgang mit dem sprachlichen Material ‑ Antworten auf die damit verbundene existentielle Herausforderung. Die Beiträge der Sektion und die sehr eingehenden Diskussionen kreisten im Einzelnen um folgende Punkte:

  1. die Literaturen der Migration, ein postmodernes Phänomen?
  2. Migration als Impuls zur Konstruktion eines neuen Ich und eines neuen Weltverständnisses
  3. Migration als Impuls zum Spiel und zur formalen Erneuerung der Welt.

 

Die Literaturen der Migration, ein postmodernes Phänomen?

Obwohl das Corpus der bearbeiteten AutorInnen deutlich auf die Postmoderne verweist, gibt es in der wissenschaftlichen Debatte sehr wohl den Versuch, den Begriff der Migrationsliteratur aus der zeitlichen Umklammerung der Gegenwart zu lösen und in einem universellen Sinn zu begreifen.(3) Wie das Beispiel der Quebecker Literatur zeigt,(4) lassen sich dabei durchaus verschiedene Phasen und ein unterschiedlicher Umgang mit den jeweiligen kulturellen Referenzen nachweisen. Auch in den Beiträgen der Sektion kam dies mehrfach zum Ausdruck. So entwarf Papa Samba Diop ein beeindruckendes Panorama des schwarzafrikanischen Romans seit den 60er Jahren, um bei der "génération 2000", den in den 60er Jahren geborenen "cadets de la postindépendance", deren künstlerisches Wirken mit der eingangs erwähnten vorerst letzten Beschleunigungsphase der Globalisierung zusammenfällt, neue Schreibstrategien und neue inhaltliche Positionierungen zu orten. Die in den 60er Jahren häufig thematisierte innerafrikanische Migration weicht einer viel tiefgreifenderen Deterritorialisierung, die über den afrikanischen Raum hinausweist. Trotzdem endet das Trauma der Entwurzelung nicht zwangsläufig mit dem Tod des Protagonisten, sondern lässt auch andere, weniger destruktive Lösungen zu. Während der Protagonist zum Explorieren der "inépuisable pluralité de l'individu" aufgefordert sei, entziehe sich der Autor der ideologischen Festlegung und des politischen Engagements im klassischen Sinn und finde statt dessen in der Schrift und in der doppelten Distanz zu Herkunfts- und Aufnahmeland eine neue Heimstatt. Von einer Entwicklung bzw. Ausdifferenzierung der (zeitgenössischen) Migrationsliteratur im maghrebinischen Raum sprechen auch die Beiträge von Afifa Bererhi und Miloud Gharrafi. So sieht Bererhi die neue Qualität der maghrebinischen Migrationsliteratur in der Tatsache begründet, dass etwa in Nourredine Saadis Roman La Nuit des origines nicht ein (sozial randständiger) männlicher Protagonist die Rolle des (E)migranten übernimmt, sondern eine gebildete junge Frau, eine Architektin aus angesehener Familie, der der Großvater das Familienbuch zu treuen Händen übergibt. Gharrafi spricht seinerseits von einer qualitativen Veränderung, wenn sich der arabische Migrationsroman der Gegenwart der illegalen Immigrationserfahrung anzunehmen beginnt, die er in der Form von Chroniken erfasst und bei der die alten Themen der Rückkehr oder des Kulturschocks nur mehr sekundär erscheinen.

 

Migration als Impuls zur Konstruktion eines neuen Ich und neuen Weltverständnisses

Der überwiegende Teil der Beiträge widmete sich jedoch der zentralen Frage der Sektion, inwieweit Migration und ein wie immer zu definierendes "Nicht-Zuhause-Sein" und Exil(5), die zwangsläufig Konfrontation mit Neuem und Störung des Gewohnten bedeuten, die Betroffenen dazu anregen, sei es die Schrift überhaupt erst zu entdecken, sei es im Schreiben dem genannten Mechanismus nachzuspüren. Den philosophischen Hintergrund dieser Präsupposition hat in bestechend klarer Form der französische Philosoph François Jullien(6) artikuliert, dem der Merve Verlag Berlin vor wenigen Jahren das Bändchen Der Umweg über China. Ein Ortswechsel des Denkens widmete. Jullien, der Advokat der "theoretischen Unbequemlichkeit und Verschiebung des Denkens" (43), arbeitet dort in einer Reihe von Interviews seine persönliche, bewusst herbeigeführte und über mehrere Jahre gehende "Ent-Ortung" in China auf, die er in folgenden Zusammenhang stellt: "Die Methode, das Denken den Ort wechseln zu lassen" (84), dient in erster Linie dazu, "andere Arten von Intelligibilität" (84) zu entdecken und mit der "vermeintlichen Vertrautheit" (96) des eigenen Denkens zu brechen, ohne jedoch der Faszination der Differenz (Exotik) oder der Überhöhung der eigenen Position (Ethnozentrismus) anheim zu fallen (173). Im Aufsuchen der Foucault'schen Heterotopie erblickt er vielmehr die Möglichkeit, beide Pole aus ihrer "gegenseitigen Indifferenz" (173) zu lösen, implizite Grundlagen des eigenen Denkens explizit zu machen (102) bzw. das eigene Denken zu "ent-falten" (dé-plier; 175). Auf diese Weise soll das Denken zu "neuer Spannung" (193) gelangen und dazu befähigt werden, in einen Dialog der Kulturen einzutreten:

Damit es zum Dialog zwischen den Kulturen kommen kann, wie man es heute predigt, muss es sowohl das dia – den Abstand, den Unterschied zwischen verschiedenen Positionen oder Konzeptionen – als auch den logos der Logik geben. Sonst besteht die Gefahr, dass unter der vorherrschenden Tautologie erneut stupide, weil geschlossene Identitäten auftauchen. (165-6)

Die von Jullien favorisierte methodische Distanz, der Umweg über China, ist der Leitgedanke des Beitrags von Laurence Dahan-Gaida, "'Eloge de la fuite': la poétique de l'exil de Gao Xingjian". Sehr klar zeichnet die Verfasserin die Position des Autors nach, der sowohl die nationale Vereinnahmung als auch die unüberbrückbare ideologische Antinomie zwischen China und dem Okzident als Denkmodelle ablehnt. Wesentlicher Bestandteil seiner Poetik ist die Auffassung, dass das Exil eine kreative Dimension hat, dass es die Persönlichkeit reifen lässt und den Blick für die Möglichkeiten der Sprache schärft; zudem stellt es jenseits politischer und geographischer Gegebenheiten auch per se eine Existenzform dar. Wie dieselbe Thematik schließlich das literarische Werk bestimmt, zeigt Dahan-Gaida in einer Analyse von Le Livre d'un homme seul (2000), der zufolge die Flucht des Protagonisten als "expérience inaugurale" zu werten ist. Zugleich flieht er aber auch vor einer "identité figée" und bezahlt dies mit dem Verlust des Selbst, bevor es im Erleben der Einsamkeit und in der Schrift letztendlich zu einer "Wiederaneignung" des Ich kommen kann. Gao Xingjian, der sich selbst im Kontakt mit dem Okzident entdeckt, weist in diesem autofiktionalen Text dem Okzident die Rolle der "heilsamen Heterotopie" zu, so wie er es in La Montagne de l'âme (1995) mit dem traditionellen China getan hatte.

Das Denken des Umwegs als kreativen Faktor lässt auch der Beitrag von Susanne Gehrmann erkennen. Ihr geht es um jene Generation afrikanischer Intellektueller, die Afrika "verloren" ging und die sich zwischen den Kontinenten bewegt. Die Migrationserfahrung, die sie in ihren Werken thematisieren, ist dabei auch auslösendes Moment ihres Schreibens, das sich häufig als Synthese von lebensgeschichtlichem Erzählen, Gesellschaftsanalyse und philosophischen Betrachtungen darstellt und individuelles wie kollektives Schicksal miteinander verbindet. Im einzelnen widmet sich Gehrmann zwei Werken des aus Mali stammenden Manthia Diawara, der sowohl in In Search of Africa (1998) als auch in We won't budge (2003) in gewisser Weise nach Afrika "zurückkehrt", ohne freilich einem essentialistischen Denken zu verfallen. Im Gegenteil, Diawara bleibt bewusst "in der Schwebe", im Zwischenstadium des Fremdseins, und empfiehlt seinem "doppelten Publikum" – durchaus engagiert – sowohl den Kampf gegen den weltweiten Rassismus als auch die Erneuerung des afrikanischen Kontinents. Ein weiterer Beitrag zu einem schwarzafrikanischen Autor ‑ Arthur Mukenges Reflexionen zu dem aus dem Kongo stammenden Ngandu Nkashama ‑ geht in eine ähnliche Richtung, wenngleich hier explizit auf die besondere Situation der Opfer postkolonialer afrikanischer Diktaturen verwiesen wird. In ihrem Fall ist die Migrationserfahrung tatsächlich Akt der Befreiung, Flucht, und erst nachträglich Anlass nicht nur zu schreiben, sondern es anders, bedeutender, bedeutungsvoller zu tun, d.h. "une écriture plus significative" zu praktizieren. Dabei entdeckt sich das Ich zunächst als ein in doppelter Weise ausgeschlossenes, das bald jedoch den kreativen Freiraum zwischen den Polen Afrika und Okzident wahrnimmt und mit Entschlossenheit in diesem "entre-deux" verweilt, um beide Pole aus ihrer gegenseitigen Indifferenz zu lösen (Jullien). Hier entdeckt es seine "propres clairières", hier auch ‑ nach der unwiederbringlichen Vertreibung aus dem Paradies ("hors du Jardin") ‑ die Möglichkeit der Schrift, die es weltweit mit anderen AutorInnen der Migration verbindet. Vertreibung und Exil ermöglichen somit die Neudefinition des Ich, die Entdeckung der Kreativität und – wichtig für Nkashama – die Übernahme von sozialer Verantwortung.

Die durch die Migrationserfahrung bedingte Konstruktion eines neuen Ich und neuen Weltverständnisses ist aber auch in einer Reihe anderer Beiträge die zentrale Botschaft. Dabei geht es weniger darum, dass die betreffenden AutorInnen in ihrer Poetik explizit einen "Ortswechsel des Denkens" anstreben oder ihre Migrationserfahrung in derartigen Termini beschreiben; es geht vielmehr um den "Umweg" der Migration selbst. Interessanterweise führt aber auch hier das Endergebnis fast immer zu einem letztlich positiven und produktiven Zustand der Schwebe. In ihrem Artikel The Reconstitution of the Self stellt Stefana Roussenova mit Eva Hoffmans Lost in Translation (1989) und Lubomir Kanovs Between the Two Hemispheres (2002) zwei Autobiographien von Immigranten vor, die es erlauben, den Prozess von "dislocation and reconstitution" des Ich gleichsam modellhaft vorzuführen. Erstmals wird hier auch die Rolle der Sprache ausführlich thematisiert. In beiden Fällen fühlt sich das Ich durch den Verlust der Muttersprache zutiefst bedroht, bricht damit doch die vermeintlich natürliche Koinzidenz von sprachlichem Zeichen und Referent wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das Gefühl der Marginalisierung und Instabilität lässt sich auch durch die Flucht in die Assimilation nicht beseitigen; wie siamesische Zwillinge liefern sich beide Sprachen, beide Kulturen im Inneren des Ich einen erbitterten Kampf. Er kommt erst dann zur Ruhe, wenn jenseits des ständigen "Übersetzens" ein dritter unbekannter Ort sichtbar wird, von dem aus eine neue Stimme ertönen kann. Beginnt für Hoffman an diesem Punkt auch die Schrift ‑ "true acculturation implies finding the right medium through which to express new meanings" (Roussenova) ‑, so sieht Kanov, der in der bulgarischen Muttersprache schreibt, in der Schrift ebenfalls ein Mittel, das bedrohte Ich vor dem Bersten zu bewahren. Eine positive Bewältigung der Migrationserfahrung setzt letztlich also nicht die Aufhebung, sondern die Annahme von "Otherness" voraus (Julia Kristeva), die das Ich zum ewigen "outsider-participant" macht. Beide Pole bleiben präsent, keiner "monopolisiert" und die Schrift wird zur Heimat der neuen, ewig spannungsgeladenen Existenz.

Auch im Fall der in New York geborenen, aber aus der Dominikanischen Republik stammenden Julia Álvarez liegt ein ähnlicher Sachverhalt vor. Der Verlust der Heimat(kultur) und die Notwendigkeit, das Erlebte, das sich dem sprachlichen Zugriff verwehrt, zu verbalisieren, bringt Dynamik in die Persönlichkeitsentwicklung der Autorin und Protagonistin und zwingt sie, aus der Distanz zum Heimatland das eigene Selbstverständnis neu zu bestimmen. Diese Neubestimmung, die Verena Berger insbesondere im Bereich von Sprache und Gender festmacht, ist ihrerseits wieder Impuls zur Freisetzung kreativer Energie. Den "Umweg" der Migration und die Problematik des Ich analysiert aber auch Afifa Bererhis bereits erwähnter Beitrag, wenn auch auf metaphorische Weise: Die Protagonistin Abla/Alba "bezahlt" mit Wahnsinn und Tod für den Verrat am großväterlichen Erbe, ihr Tod jedoch löst letztendlich die Selbstfindung einer zweiten Person, Alain, mit aus. Zum Exil als Verlust gesellt sich somit erneut jene "autre lecture de l'exil perçu comme expérience initiatique d'accession à soi et de dépassement de soi". Als Ausdruck von Kreativität, wenn auch problematisch, sieht Veronika Bernard den Prozess des Lebens und Schreibens in der Fremde, der eine individuelle migrantische Identität konstituiert. Am Beispiel türkischer AutorInnen, die in Deutschland schreiben, legt sie dar, wie sehr die Befreiung von innerem und äußerem Zwang ihrerseits abhängig ist von den wechselseitigen kulturellen Stereotypen. Die Sektionsthematik nimmt schließlich Angelo Pagliardini aus einer etwas ungewöhnlicheren Sicht ins Visier, wenn er anhand von Giuseppe Gioachino Bellis Sonetten darlegt, wie dieser der schwebenden "Otherness" der jüdischen Migranten in Rom gerecht zu werden versucht: Zum einen allen wohlvertraut, sind die Juden Roms zugleich auch ein mit Stereotypen belegter und ewig fremder Teil der römischen Gesellschaft.

Die Konstitution des migrantischen Ich ‑ dies wurde bereits angesprochen – ist meist aber auch mit einer tiefliegenden Sprachenproblematik verbunden. Wenn sich Eva Hoffmans "doppelte" Protagonistin für das Englische entscheidet, nachdem sie in einer Therapie zum "ground zero" ihrer polnischen Muttersprache vorgedrungen ist, geht Bertina Henrichs, wie Helga Lux es darlegt, in Leben und Werk scheinbar mit fliegenden Fahnen zur französischen Sprache über. Die "Verstoßung" der Muttersprache, die das Unbewusste von der Zensur befreit, ist dennoch auch bei Henrichs ein wesentlich diffizilerer Vorgang, lässt sich ihr erster Roman La joueuse d'échecs (2005), in dem es um das Erlernen des Schachspiels geht, doch durchaus "als Parallele zum Sprachlernprozess und als Metapher für die Auswanderung und Fremdheitserfahrung" lesen. Olympia Antoniadou und Vassiliki Lalagianni fügen in ihrer Darstellung der griechischen Diaspora mit dem Beispiel Vassilis Alexakis eine dritte Variante der Sprachenproblematik hinzu. Nicht von "ground zero" ist hier die Rede, auch nicht vom Verstoßen der Muttersprache, sondern vielmehr von einem Prozess der Identitätssuche, der erneut beide, auch beide sprachlichen Pole impliziert. So schreibt Alexakis nicht nur in französischer und in griechischer Sprache ‑ d.h. er eignet sich nicht nur eine fremde Sprache an und lernt seine Muttersprache neu zu gebrauchen ‑, sondern erwirbt schlussendlich eine dritte, zutiefst fremde weil afrikanische Sprache (Zango), die er auch in sein schriftstellerisches Werk integriert. Nur scheinbar unproblematisch ist schließlich Leïla Sebbars starres Beharren auf der französischen Muttersprache, das Subha Xavier in ihrem Beitrag La poétique du trauma chez Leïla Sebbar analysiert. Sebbars Monolinguismus bleibt nämlich von Melancholie und Schuldgefühl geprägt. Wenn sie in Je ne parle pas la langue de mon père (2003) erklärt, "je n'apprendrai pas la langue de mon père", so scheint das verdrängte Arabisch dennoch durch und der "widerständige" Text entpuppt sich letztlich als Versuch "de capter l'hétéroglossie que son existence coloniale en Algérie a renié des années durant."

 

Migration als Impuls zum Spiel und zur formalen Erneuerung der Welt

Dies führt zum dritten, in der Sektion immer wieder thematisierten Bereich, der Erfindung einer Formensprache, die die "störende" Komponente der Migrationserfahrung auf adäquate Weise wiedergibt. Dabei tauchen Konstanten auf wie der Wechsel zwischen 2. und 3. Person, zwischen ehemaligem und jetzigem Ich, der eine "simultaneous doubleview perspective to both cultures" (Roussenova) erlaubt. In diesem Prozess kann die Bipolarität als Spiegelbild der inneren Entwicklung allmählich an Schärfe verlieren oder gar bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Auch läuft der Dialog der Stimmen, des Ich mit sich selbst, durchaus vor einem dritten kalten Auge aus einer kameraähnlichen emotionslosen "ex-optique" ab (Dahan-Gaida). Eine andere Konstante ist der Rekurs auf ungewöhnliche Kompositionsprinzipien wie die Verbindung von Polizeiakten, subjektiven Impressionen und logisch diachronen Passagen (Roussenova). Fieberanfälle des Protagonisten begründen textlogisch die zerstörte Linearität (Gehrmann) und lassen den Eindruck eines Patchworks entstehen (Berger). Viele der hier erörterten Texte verbinden zudem wie bereits erwähnt lebensgeschichtliches Erzählen, Gesellschaftsanalyse und philosophische Betrachtung, wobei die Grenzen häufig verschwimmen und sich (Auto)biographisches und Reflexives nicht immer auseinanderhalten lassen. Grundsätzlich erscheinen jedoch alle Spielarten der Autobiographie und Autofiktion geeignet, der "dislocation" wie dem kreativen "readjustment" der Persönlichkeitsentwicklung Rechnung zu tragen.

Der Migrationsautor greift aber durchaus auch produktiv auf Vorhandenes zurück, wie Sabine van Wesemael am Beispiel von Makines "kreativer" Replik auf Marcel Proust und den literarischen Kanon darzulegen versteht: Er betritt damit den Raum der Intertextualität. Schließlich sind es bekannte wie neue Bilder und Metaphern, die der Migrationserfahrung gerecht zu werden versuchen und von denen nur einige wenige erwähnt seien: "ground zero", Tod und Wiedergeburt, der siamesische Zwilling, die Triangulation, das Fieber, der Schwindel umschreiben letztlich dieselbe zwiespältige Erfahrung wie das Brettspiel oder die Figur des Spions, dessen französische Bezeichnung "espion" die Spielfigur "pion" mit evoziert.

Die Spielmetaphorik ebenso wie die Technik der Wiederholung im Sinne einer heilsamen "réécriture" von traumatisierenden Erfahrungen, die ebenfalls eine Konstante zu sein scheint, wird nachhaltig sichtbar im Werk Shan Sas und Leïla Sebbars. Julia Pröll legt in ihrer Analyse der aus China stammenden Shan Sa dar, dass das Spiel nicht nur die inhaltliche Ebene, sondern auch den Schreibprozess bestimmt. Es nimmt dabei zwei von Caillois theoretisch beschriebene Formen an, die sich besonders gut für die Transposition der Migrationsthematik eignen: zum einen die "poursuite du vertige" als momentane spielerische Aufhebung der stabilen Perzeption zugunsten einer "sorte de panique voluptueuse", zum anderen die Technik des Mimicry, der Freude an der Verkleidung. Beide Prozesse prägen das Werk Shan Sas, in dem die Autorin ein traumatisches Urerlebnis im Heimatland – Tian An Men ‑ in eine "multitude d'histoires feintes, en une multitude d'identités éclatées" auflöst. Das Spiel des Go führt dabei zur "Unterwanderung" der ursprünglich binären Opposition von Identität und Alterität, Wahrheit und Fiktion. Außerdem kann das Spielfeld, das sich in Les conspirateurs gar über den ganzen Globus spannt, als hybrider Raum, als instabile und prekäre Zone des Kulturkontakts begriffen werden, in der sich binäre Oppositionen und essentialistisches Denken überwinden lassen.

Diese "écriture thérapeutique", die Subha Xavier veranlasst im Falle von Sebbar von einer "thérapoétique" zu sprechen, besteht also darin, Traumata bewusst aufzusuchen und sie schreibend, "umschreibend" zu exorzieren. So wandelt Sebbar in den Überschriften jedes Kapitels den Titel des Buches selbst ab, das Schweigen des Vaters quittiert sie mit dem eigenen Verschweigen ihrer unterschwelligen Heteroglossie. Die Wiederholung neutralisiert und erlaubt zugleich, wie es auch andere Texte (etwa von Kanov) zeigen, "[d'] assimiler ce qui était trop douloureux pour être pleinement accepté à l'époque". Die Wiederholung ist somit ein probates Mittel, sich der Migrations- und Exilerfahrung auf kreative Weise zu nähern.

Wie die sehr unterschiedlichen Fallbeispiele zeigen, kehren die in der Sektion so ausführlich diskutierten und hier resümierten Phänomene – und dies könnte ein Fazit sein – in allen Kulturen der Welt, bei allen Autoren der Migration wieder, und dies unabhängig davon, wie die individuellen oder regionalen Voraussetzungen im einzelnen sein mögen. Dabei nehmen Kunst und Literatur in der gegenwärtigen Phase einer beschleunigter Globalisierung und Transformation des kollektiven Wissens einmal mehr zentrale Aufgaben wahr, und sei es nur die, in Skepsis oder Zuversicht, in Schmerz oder Euphorie nach neuen Wegen des Bedeutens zu suchen.

 


Anmerkungen:

1 Ottmar Ette, "Philologie und Globalisierung", in: Portal 1-3/07, 14.
2 Cf. Ottmar Ette, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin, Kulturverlag Kadmos, 2005.
3 Ursula Mathis-Moser, "La littérature migrante en France. Esquisse d’un projet de recherche", in : Nella Arambasin – Laurence Dahan-Gaida (Hg.) : L’Autre EnQuête. Médiations littéraires et culturelles de l'altérité (= Annales littéraires de Franche-Comté. Littérature et histoire des pays de langues européennes), Besançon, Presses Universitaires de Franche-Comté, 2007, 39-55.
4 Clément Moisan ‑ Renate Hildebrand, Ces étrangers du dedans. Une histoire de l'écriture migrante au Québec (1937-1997), Montréal, Nota bene, 2001.
5 Cf. Edward Said, "Reflections on Exile (1984)", in : Reflections on Exile and Other Essays, Cambridge, Harvard University Press, 4 2003, 173-186.
6 François Jullien, Der Umweg über China. Ein Ortswechsel des Denkens, Berlin, Merve Verlag, 2002.

3.4. Literaturen der Migration: Konfrontation und Perturbation als kreativer Impuls

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For quotation purposes:
Ursula Mathis-Moser: Sektionsbericht 3.4.: Literaturen der Migration: Konfrontation und Perturbation als kreativer Impuls - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/3-4/3-4_sektionsbericht.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-06-08