Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Juni 2010 | |
Sektion 3.6. | Inhalte und Formen unterschiedlicher Epochen der künstlerischen Moderne vom 18. ins 21. Jahrhundert SektionsleiterInnen | Section Chairs: Zoltán Zsávolya (Győr), Anette Horn, Peter Horn (Johannesburg) und Paul Michael Lützeler (Washington) |
Humane Öffentlichkeit:
Das historische Exemplum in Herders Briefen zur Beförderung der Humanität
Anette Horn (University of the Witwatersrand, Johannesburg) [BIO]
Email: anettehorn@iafrica.com
Jürgen Habermas schreibt: „Die Ideale des bürgerlichen Humanismus, die das Selbstverständnis von Intimsphäre und Öffentlichkeit prägen und sich in den Schlüsselbegriffen von Subjektivität und Selbstverwirklichung, rationaler Meinungs- und Willensbildung sowie persönlicher und politischer Selbstbestimmung artikulieren, haben die Institutionen des Verfassungsstaates soweit imprägniert, dass sie als utopisches Potential über einer Verfassungswirklichkeit, die sie zugleich dementiert, auch hinausweisen (1990:33f.).“ Habermas warnt vor einer Aufgabe dieser humanistischen Ideen im Namen der Ideologiekritik: „Wenn die bürgerlichen Ideale eingezogen werden, wenn das Bewußtsein zynisch wird, verfallen jene Normen und Wertorientierungen, für die die Ideologiekritik Einverständnis voraussetzen muß, wenn sie daran appellieren will (ebd. 34).“ Das kommunikative Handeln ermöglicht jedoch erst einen vernünftigen Konsens, der dem Humanitätsgedanken zugrunde liegt: „Die Theorie des kommunikativen Handelns soll ein in der kommunikativen Alltagspraxis selbst angelegtes Vernunftpotential freilegen (ebd.).“
Das ist so weit von Herders Konzept einer auf Kommunikation beruhenden demokratischen Öffentlichkeit nicht entfernt, „denn das einsame Lesen ermattet: man will sprechen, man will sich ausreden“ (Bd. 1, 13). Er fährt fort: „die Frucht aber von dem, was der andere bemerkte, ist oft mehr wert als das Gelesene selbst“ (ebd.). Das Bemerken gehe aber erst aus dem Gespräch hervor, indem die Teilnehmer einander zuhörten und erzählten: „Wer nicht zu hören versteht, verstehet auch nicht zu bemerken; und aus dem Erzählen zeigt sich, ob jemand zu hören gewußt habe (ebd., 14).“ Hören trägt hier unverkennbar die Bedeutung von Verstehen, die aus der narrativen Imagination hervorgeht und auch zu besseren Schriften führe, weil sie das Ergebnis eines lebendigen Gedankenaustauschs sind: „In Zeiten, da man viel hörte, viel erzählte und wenig las, schrieb man am besten“ (ebd.). Dagegen erscheint die Gegenwart als Verfall: „Schrift und Rede ist bei uns oft zu weit voneinander getrennt; daher sind Bücher oft Leichname oder Mumien, nicht lebendig-beseelte Körper (ebd.).“ Daraus entwickelt Herder ein eindeutiges Plädoyer für die mündliche Kommunikation, die auf die Menschen unmittelbarer als abstrakt—philosophische Schriften wirke, da sie zu humanen Handlungen anrege: „Überhaupt äußert sich in den entscheidendsten Fällen der wahre Geist der Humanität mehr sprechend und handelnd als schreibend (ebd.).“
Herder verspricht sich jedoch von den Autobiographien bemerkenswerter Männer [!] eine Korrektur des Mangels einer Öffentlichkeit in Deutschland: „Wie weit stehen wir Deutsche hieran andern Nationen, Franzosen, Engländern, Italienern, nach! Wir lebten, dachten, müheten uns; aber wir konnten nicht schreiben. Die rauhe oder ermattete Hand, die das Schwert, den Zepter, das Handwerk- und Kunstwerkzeug, wohl auch die breite Kanzleifeder führte, verachtete meistens die Reißfeder mühsamer Selbstschilderung; mit der alten Chronikenzeit ging auch das häusliche und Familiengefühl, für die Seinen und mit ihnen fortzuleben, großenteils zu Grabe. Was also von merkwürdigen alten Selbstbeschreibungen gerettet, was von neuen hie und da entdeckt werden kann, sollte gerettet und genützt werden (ich weiß, dass die Zeit kommt) merkwürdige Geschäfte auch freiere Gesinnungen und diese den Geist einer edlen Publizität erwecken werden, bei dem alle Stände im Lichte wandeln (ebd., 24).“ Diese Öffentlichkeit trägt zugleich individualistische und demokratische Züge, aber sie beruht nicht auf vielen einzelnen Willen, sondern sei das Resultat einer Beratung aller (vgl. Manin in: Habermas 1990:38).
Inwiefern Herders Abgrenzung des Kosmopolitismusbegriffs von dem der Humanität sich aus heutiger Sicht auflöst, zeigt ein Vergleich zwischen Herders Humanitätskonzept und Martha Nussbaums Kosmopolitismusbegriff. Nussbaum beruft sich in ihrer Definition des Kosmopolitismus vor allem auf die Stoiker und Kant. Sie meint, dass wir, wenn wir moralisch und politisch dächten – und das schließt die Gerechtigkeit ein – sich auf das beziehe, was das weltweite „wir“ sowohl als rationale als auch voneinander abhängige Menschen teilen (zit. nach Nielsen 2005: 274).“ Das bedeutet, dass wir unsere Zugehörigkeit nicht in erster Linie in Bezug auf eine Gruppe definieren – ob nationalistisch, geschlechtsspezifisch oder religiös – sondern daß unsere erste Zugehörigkeit der Weltbürgerschaft gilt (ebd.). Sie gibt zu, dass es schwierig sei, einfach ein Mensch zu sein ohne ein spezifischer Mensch zu sein – dass wir somit nicht alle unsere Partikularismen aufgeben könnten –, doch beziehe sich unsere erste Zugehörigkeit auf die weltweite Gemeinschaft von Menschen und auf das, was moralisch gut sei ... und daß ich das, was gut sei, als solches allen anderen Menschen empfehlen könne. (ebd.)“.
Dieses kosmopolitische Ideal beruhe auf einer Erziehung, in der wir lernen sollten, kritisch über uns zu reflektieren, aber auch über andere, nicht nur diejenigen, die weit entfernt von uns lebten, sondern auch diejenigen in unserer Mitte, die als subaltern gelten, z.B. die Fremdarbeiter oder die Asylanten usw. Unsere Erziehung sollte also multikulturell sein und sich nicht nur auf den Westen beziehen (vgl. Nielsen 2005:274).
Wenn man von einer Weltgemeinschaft spricht, heißt das, dass wir alle Menschen als gleich wertig behandeln sollten, die der gesamten Bevölkerung des homo sapiens auf unserem Planeten angehören. Nussbaum gibt jedoch zu, dass wir schließlich in zwei Gemeinschaften lebten – der lokalen Gemeinschaft unserer Geburt und der weltweiten Gemeinschaft „of human argument and aspiration“ (ebd.). Diese Gemeinschaft der Menschheit sei die Quelle unserer moralischen Pflichten in Bezug auf die grundlegendsten moralischen Werte. „We should regard all human beings as our fellow citizens and neighbours (zit. nach ebd. 274f.).” Mit Hilfe der Stoiker argumentiert Nussbaum, dass wir Konflikte nicht in erster Linie als nationale betrachten sollten, die keiner anderen glichen, sondern als menschliche Probleme in spezifischen konkreten Situationen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass jede Person durch Zufall in einer spezifischen Nation geboren wurde; sie oder er hätte auch in jeder anderen Nation geboren sein können. Daraus zieht Nussbaum den Schluß: „We should recognize humanity wherever it occurs, and give its fundamental ingredients, reason and moral capacity, our first allegiance and respect (vgl. ebd.).”
Damit wirft Nussbaum die Frage nach der Aktualität der Rationalität in der Aufklärung wieder auf. Frederick M. Barnard stellt fest, daß man vom 18. Jahrhundert behaupten könne, „es habe den beiden Hauptgedanken der humanistischen Tradition, nämlich der Säkularisierung des Wissens und der Anerkennung der Rechte des Individuums, Nachdruck verliehen“ (1964: 21). Damit macht Barnard auf den Nexus der Befreiung der Wissenschaften von der religiösen Autorität und der Befreiung des Menschen von der politischen Willkür eines absolutistischen Staates aufmerksam. In den Briefen zur Beförderung der Humanität, die selber vom Systemzwang eines orthodoxen Denkens frei sind, formuliert Herder das Recht des Individuums auf die Kritik jeglicher Autorität in einem fiktiven Gespräch zwischen einem Anhänger Friedrichs des Großen und einem Josephs des Zweiten.
Wie irritierend ein solches Gespräch auf einen Herrscher wie Herzog Carl August gewirkt haben muß, zeigt dessen scharfzüngige Reaktion auf die Erhaltung der zweiten Sammlung der Briefe während seines Feldzugs gegen die französische Belagerung von Mainz, die zur Gründung einer kurzlebigen Mainzer Republik führte, die von Intellektuellen wie Georg Forster miterrichtet wurde. 1793 schreibt Carl August an Herder, die Briefe hätten ihn nicht „in der humansten Beschäftigung gefunden; indessen zweckt unser Bestreben ab, die fränkischen Unmenschlichkeiten vom deutschen Boden zu kehren. Und das ist ja auch wohl ein Beitrag zu Ihrem humanen Vorhaben, lieber Herder?“ (Conrady 1982:20f.)
Es war Herders Absicht, wie er in seiner Rigaer Abschiedspredigt erklärte, „ein würdiger Lehrer der Menschheit“ zu werden (zit. nach Conrady 1982:113). Seinem Lehrer in Königsberg, Immanuel Kant, äußerte er sich ähnlich zu seiner Entscheidung, Geistlicher geworden zu sein: „[W]eil ich wußte und es täglich aus der Erfahrung mehr lerne, daß sich nach unserer Lage der bürgerlichen Verfassung von hieraus am besten Kultur und Menschenverstand unter den ehrwürdigen Teil der Menschen bringen lasse, den wir Volk nennen“ (ebd.). Herder versuchte sowohl Philosophen als auch Plebejer mit seinen Schriften und Predigten zu erreichen, d.h. im weitesten Sinne zu wirken. Das bedeutete jedoch auch eine andere Bestimmung der Philosophie, die nun nicht mehr bloß von der Ratio ausging, sondern den ganzen Menschen mit seinem Verstand und seinen Emotionen ansprechen wollte. Herder schrieb: „Alle Philosophie, die des Volkes seyn soll, muß das Volk zu seinem Mittelpunkt machen“ (ebd.). Er sah das Volk jedoch nicht als allgemeinen Maßstab, sondern würdigte auch die Eigentümlichkeit des Individuums, die aus einer bestimmten historischen Zeit hervorgegangen sei.
Die Belehrung wird durch die verdeutlichende und veranschaulichende Wirkung des Exemplums erzielt, „es verdeutlicht, wenn es das, was dunkel ist, mehr ins Klare setzt; es erhöht die Wahrscheinlichkeit, wenn es die Sache glaubwürdiger macht; es veranschaulicht, wenn es alles deutlich ausdrückt, so dass die Sache sozusagen mit der Hand gegriffen werden kann“ (Klein in: Ueding 1996a: 62). Nun läßt Herder die Leser der Humanitätsbriefe aber selbst die Schlußfolgerungen aus dem Exemplum ziehen, ein wichtiges rhetorisches Mittel der Humanitätsbriefe.
Herder stellt die rhetorische Strategie des anschaulichen Exemplums anhand des deutschen Anti-Machiavells Hugo Grotius dar, der selbst kein theoretisches Werk schrieb, sondern Beispiele des Völkerrechts aus der Geschichte zusammenstellte, um seine Ansichten zu begründen: „Zu deinem Grabe wallfahrtete ich einst, mein Anti-Machiavell, Hugo Grotius. Du schriebst kein Recht des Krieges und Friedens, denn du warest kein Prinz; du schriebst Vom Rechte des Krieges und Friedens. Und zwar sammletest du dazu nur Kollektaneen, nicht aus Italien und deiner Zeit allein, sondern vorzüglich aus den guten Alten, aus den Gesetzen der Vernunft und Billigkeit, aus der Religion selbst, woraus denn allmählich ein Recht der Völker erwuchs, wie man in den barbarischen Zeiten es nicht hatte erkennen mögen. Laß dich das Ungemach nicht gereuen, heilige Seele, das du deiner guten Grundsätze und Bemühungen wegen hier erduldetest. Religionen hast du nicht vereinigen können, wie du es wolltest; aber Grundsätze der Menschen hast du vereiniget, und auch Völker werden sich einst zu ihnen verbinden.“ (Herder, 470 [333f.]) Signifikant scheint die Vermeidung des definitiven Titels Recht des Krieges und Friedens zugunsten des vortastenden Vom Rechte des Krieges und Friedens, das die Grundsätze eines solches Völkerrechts zunächst einmal aus den zerstreuten historischen Beispielen aus den Klassikern herauszuarbeiten versucht, die allmählich eine Verbindlichkeit für alle Völker erhalten sollen.
Es erscheint außerdem bezeichnend, daß Herder die vertrauliche Ansprache „du“ für den verstorbenen Autor verwendet, so als ob er noch im kollektiven Gedächtnis lebendig wäre und ihm aus dem Geisterreich antworten könnte. Damit propagiert Herder nicht nur einen Dialog mit den Brieflesern, sondern auch mit den verstorbenen Autoren, die seinen Zeitgenossen durch ihr Beispiel noch etwas zu sagen haben. Sie werden somit im Hinblick auf die Verwirklichung seines Humanitätsideals reaktualisiert.
Herder wählt die vortastende Form des Briefes, um Beispiele der Humanität aus der Geschichte zu versammeln, aus denen die Grundsätze der Humanität erst abgeleitet werden sollen, die von den Lesern in die Praxis umgesetzt werden müssen. So benutzt er denn auch die Präposition „zur“ in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität, um anzudeuten, daß das Ziel der Humanität erst noch erreicht werden muß und daß er zu diesem Zweck nur Vorschläge macht. Diese Briefe sind somit nur als vorläufige Thesen zur Humanität zu verstehen anstatt eine vollständigen Theorie der Humanität zu bieten.
Der Brief selbst ist bereits eine offene Form, der die Adressaten in das Denken des Briefschreibers mit einbezieht. Darüber hinaus erfordert die Briefform nicht die konsequente Durchführung eines einheitlichen Gedankens, sondern kann für die verschiedenen Briefe jeweils ein anderes Thema für sich beanspruchen. Herder faßt die Briefe in Sammlungen zusammen, durch die sich zwar ein gemeinsamer Faden zieht, doch kann auch jeder einzelne für sich gelesen werden und fügt sich somit wie ein Mosaiksteinchen in das Gesamtgemälde ein. Dieses Gemälde ist der Humanitätsgedanke, der nicht bereits vorhanden ist, sondern sich erst in einem Dialog mit und unter den Brieflesern herauskristallieren soll. Deshalb sollen die Briefe die Humanität auch nur befördern, d.h. sie wollen einen Anstoß zur Verwirklichung dieses Zieles geben. Zwar gibt es schon Beispiele für die Humanität in der Geschichte, doch müssen diese noch weiter entwickelt werden. Das schließt auch die Partikularismen einzelner Völker ein, die sich erst zu einem universalistischen Humanitätsbegriff schließen sollen.(1)
Ein wesentlicher Grund für die Verwendung des Exemplums und des Briefes ist der Umstand, daß sich die Humanität nicht rigoros in einem philosophischen System definieren läßt, da er auf einer Tautologie beruht, nach der „Menschentum, Menschlichkeit, also Humanität der Zweck alles menschlichen Handelns“ sei (Fischer 2006:175). Statt den Humanitätsbegriff daher aus heutiger Sicht als untauglich zu verwerfen, zieht Bernd Fischer aus dessen Undefinierbarkeit den Schluß, dass es „gerade die Gleichzeitigkeit von Kritik und Apologie der Metaphysik wie auch der Aufklärung, also Herders spezifischer Struktur skeptischen Denkens [ist], die vielleicht noch heute von Interesse sein könnte“ (ebd.). In seiner Rezension der Briefe brachte Kant Herders Humanitätsbegriff „nur wenig Toleranz entgegen“ (ebd.) und „schrieb dem Begriff innerhalb der Ordnung seiner Metaphysik der Sitten einen eher untergeordneten Stellenwert zu: als Pflicht zur Menschlichkeit“ (ebd.).(2) Fischer spricht dem Humanitätsbegriff daher nur eine „Platzhalterfunktion“ zu (ebd.).
Dieser Platzhalter kann jedoch nicht mit einem beliebigen Inhalt gefüllt werden, wie eine aufmerksame Lektüre der Briefe zeigt, sondern erhält je nach Kontext eine spezifische Bedeutung. Der Begriff fungiert somit als gleitender Signifikant, dem kein eindeutiges Signifikat entspricht, sondern je nach historischem oder räumlichem Kontext variiert. Somit steht der Begriff innerhalb eines Wortfeldes, dem Begriffe wie Menschenliebe, Glückseligkeit, Gerechtigkeit, Toleranz und Verstand zugeordnet sind.
Habermas schreibt über die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit in der Spätaufklärung, deren Organisationsformen ihn eher interessieren als ihre Funktionen. Es handelt sich um „eine kleine, aber kritisch diskutierende Öffentlichkeit (Wehler zit. nach Habermas 1990: 13)“. Sie unterscheide sich grundlegend von der Gelehrtenrepublik, indem sie sich aus Stadtbürgern und Bürgerlichen zusammensetzt und „nun nicht mehr nur wenige Standardwerke immer wieder intensiv liest, sondern seine Lektüregewohnheiten auf laufende Neuerscheinungen einstellt“. Dadurch „entsteht gleichsam aus der Mitte der Privatsphäre heraus ein relativ dichtes Netz öffentlicher Kommunikation“. Herder verweist bereits auf den explosiv wachsenden Büchermarkt, den Habermas wie folgt skizziert: „Der sprunghaft ansteigenden Zahl der Leser entspricht eine erheblich erweiterte Produktion von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, die Zunahme der Schriftsteller, der Verlage und Buchhandlungen, die Gründung von Leihbibliotheken und Lesekabinetten, vor allem von Lesegesellschaften als der sozialen Knotenpunkte einer neuen Lesekultur (ebd.).“ Damit einher geht ein neues Vereinswesen: „Die Aufklärungsgesellschaften, Bildungsvereinigungen, freimaurerischen Geheimbünde und Illuminatenorden waren Assoziationen, die sich durch die freien, d.h. privaten Entscheidungen ihrer Gründungsmitglieder konstituierten, aus freiwilligen Mitgliedern rekrutierten und im Innern egalitäre Verkehrsformen, Diskussionsfreiheit, Majoritätsentscheidungen usw. praktizierten. In diesen gewiß noch bürgerlich exklusiv zusammengesetzten Sozietäten konnten die politischen Gleichheitsnormen einer künftigen Gesellschaft eingeübt werden (ebd., 14).“
Martha Nussbaum verteidigt ihren Begriff des Kosmopolitischen - „the very old ideal of the cosmopolitan, the person whose allegiance is to the worldwide community of human beings“ - gegen verschiedene Partikularismen, zu denen sie einige Formen des zivilen Patriotismus und Nationalismus zählt (zit. nach Nielsen 2005:273). Damit nähern sich Nussbaums Begriff des Kosmopolitismus und Herders Humanitätsbegriff auf überraschende Weise an. Diese frappierende Übereinstimmung dürfte jedoch nicht verwundern, wenn man die Kosmopolis als die Gemeinschaft aller begreift.
Obwohl Martha Nussbaum die politischen Strukturen einer Weltregierung als erstrebenswertes Ziel sieht, birgt sie auch Gefahren, die in deren Unverwaltbarkeit und Unverantwortbarkeit liegen. Sie kommt zu dem Schluß, dass die Nationalstaaten – bei aller Unzulänglichkeit – diejenigen Einheiten sind, die sich am besten verwalten lassen, da sie noch überschaubar sind. Damit läßt ihr Konzept des Kosmopolitismus, den sie in erster Linie als einen moralischen versteht, der soziale und politische Implikationen hat, lokale Partikularismen zu, allerdings in einem nicht-ausschließendem Sinne, da sie der nächst höheren Identifikationsstufe untergeordnet sind. Damit überschneidet sich aber ihr Verständnis des Verhältnisses zwischen Partikularismus und Universalismus mit dem Herders (vgl. Friedman in: Nielsen 2005:278). Demnach ließe sich aber auch die schematische Gegenüberstellung Kants und Herders nicht mehr aufrecht erhalten. Es scheint als ob Herder aus einer empirischen Perspektive und Kant aus einer theoretischen zum gleichen Schluß gekommen wären, nämlich einer universalen Humanität. Ohne auf Herder einzugehen, ermöglicht Martha Nussbaums Kosmopolitismuskonzept eine Verbindung zwischen den beiden Philosophen, die gleichzeitig zeigt, wie dringend eine kritische Untersuchung des Humanitätsbegriffs der Aufklärung heute wieder ist.
Literatur:
Anmerkungen:
3.6. Inhalte und Formen unterschiedlicher Epochen der künstlerischen Moderne vom 18. ins 21. Jahrhundert
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Webmeister: Gerald Machlast change: 2010-06-03