TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Februar 2010

Sektion 3.8. Roman und Erkenntnis
Sektionsleiter | Section Chair: Jürgen Heizmann (Montréal)

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Die Erzählbarkeit der Geschichte.

Metanarrative und metafiktionale Reflexionen
in Alfred Döblin historischem Roman November 1918

Adriana Cutieru (Université de Montréal) [BIO]

Email: adriana_florentina@yahoo.de

 

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung
II. Der historische Roman November 1918
II.1. Harmonisierung der Diegesis und der Mimesis
II.2. Der Erzähler als Historiker – Triumph der Diegesis
II.3. Geschichte als Fiktion
II.4. Die Geschichte als phantastische Geschichte
III. Abschließende Bemerkungen: ein erweiterter Realismusbegriff
IV. Auswahlbibliographie

 

I. Einleitung

In einem Roman ist das Spannungsverhältnis zwischen der Diegesis der Narration und der Mimesis der Erzählung ein Mittel zur Entschlüsselung des vorherrschenden Wirklichkeitsbildes und der Spannung zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Denkt man an den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts, dann fällt das perfekte Gleichgewicht zwischen der Mimesis und der Diegesis auf. Die Mimesis der Erzählung ist hier durchgehend durch die metanarrativen Kommentare des Erzählers, durch die Diegesis der Narration begleitet, so dass die Wirklichkeitsillusion unverletzt und der Unterschied zwischen Kunst und Wirklichkeit verschleiert bleibt. Die Metakommentare des Erzählers bestärken, auch wenn sie indirekt auf die Gemachtheit des Erzählten hinweisen, die hohe Illusion der Wirklichkeit, die durch die mimetische Inszenierung des Geschehens erzeugt wurde. Daher geht die Erzählillusion auf der extradiegetischen Ebene nicht mit einer Störung der Geschehensillusion auf der diegestischen Ebene einher, sondern kann mit dieser Illusion harmonieren. (1) So erzeugt diese Romanform die Illusion, dass sich die Wirklichkeit reibungslos erzählen lässt, dass die im Roman dargestellten Ereignisse die Wirklichkeit selber sind und der Erzähler ihr treuer Berichterstatter. Miguel de Cervantes oder Lawrence Stern sind Ausnahmen, Vorboten der modernen Literatur, da sie in ihren Werken dieses Gleichgewicht zwischen Diegesis und Mimesis zerstören und den Akzent auf die Diegesis der Narration verschieben: So parodieren sie in ihren Romanen den Akt des Erzählens selber und reflektieren darüber, ob und wie die Wirklichkeit wiedergegeben, abgebildet werden kann. Explizit heben die Erzähler dieser Romane durch metanarrative und metafiktionale Kommentare und Digressionen den Hiatus zwischen der Wirklichkeit und ihrer literarischen Darstellung hervor.

In der modernen Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts wird das Gleichgewicht zwischen Diegesis und Mimesis zugunsten der Mimesis zerstört, man denke an Flaubert, der von „l’impassibilité de l’auteur“ sprach, oder an D.H. Lawrence, der meinte, „the author should keep hin thumb out of the pan“ (2) oder an die berühmte Spiegelmetapher Stendhals ("Le roman est un miroir qui se promène sur une route"). Diese Äußerungen kündigen nicht an, dass diese Schriftsteller an der perfekten Nachahmung der Wirklichkeit glaubten und dass sie nicht bewusst waren, dass die höchste mimetische Inszenierung der Wirklichkeit eigentlich die höchste Illusion in sich birgt. Sehr raffiniert haben sie die Abwesenheit der Diegesis und die Illusion der Mimesis durch die Verlagerung der Perspektive ins Innere der Figuren bzw. durch den Verzicht auf den allwissenden, olympischen Erzähler bestärkt und den Erzähler entweder verschwinden lassen (3) oder ihn als erzählende Figuren der Geschichte naturalisiert.

Im Gegensatz dazu wendet sich die so genannte postmoderne Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwiegend der Diegesis zu (4): Die metanarrativen Signale und die Metafiktionalität betonen ganz explizit die Präsenz des Erzählers als (subjektiver) Vermittler oder als Schöpfer seiner Erzählung. Ganz ausdrücklich und konsequent wird hier die mimetische Illusion zerstört, die Diegesis der Narration betont und die Erzählung als eine im Nachhinein zustande gekommene Konstruktion oder als fiktive Erdichtung eines phantasiereichen Erzählers enthüllt.

Die Geschichte des Romans ist also von diesem Zusammenspiel zwischen Mimesis, der Illusion der getreuen Schilderung der Wirklichkeit und Diegesis, der Präsenz des Erzählers in der Erzählung, geprägt. Es ist deswegen sehr interessant, einen historischen Roman aus dieser Perspektive zu erforschen, weil der historische Roman, sogar mehr als jeder realistische Roman, aus dieser Spannung zwischen Wirklichkeit und mimetischer Wirklichkeitsillusion entsteht. Es ist umso interessanter, Alfred Döblins Roman November 1918 unter die Lupe zu nehmen, da der Roman auch in dieser Hinsicht ein erzählerisches Experiment ohnegleichen ist: Er enthält Elemente des traditionellen, des modernen und postmodernen Romans, denn er spielt mit dem Gleichgewicht zwischen Mimesis und Diegesis auf eine eigenartige Weise, um ein Geschichtsmodell zu entwerfen, das einer fragwürdig gewordenen historischen Wirklichkeit entspricht, die nicht so leicht in Griff zu bekommen ist. Durch die Betonung der Diegesis der Narration ist Döblin ein Nachfolger der großen Realisten Cervantes und Lawrence Stern und er nimmt gleichzeitig die Entwicklung des so genannten postmodernen Romans aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorweg: Er bricht mit dem überkommenen Realismus, mit dem perfekten Gleichgewicht zwischen Mimesis und Diegesis, er bricht auch mit dem Modernismus, der die Illusion der Mimesis, der Welt, die sich ohne Anfang und Ende erzählen lässt, systematisch aufbaut, und schafft eine Romanform, die sich schwer in eine Kategorie einordnen lässt.

 

II. Der historische Roman November 1918

Döblins Novemberroman entfaltet ein weites Spektrum von erzählerischen Möglichkeiten, die historische Wirklichkeit darstellbar zu machen: Der Roman ist ein gewagtes Unterfangen, alle Erzähltechniken zur Darstellung der historischen Wirklichkeit zu verbinden und gegeneinander auszuspielen. Er deckt fast alle erzählerischen Möglichkeiten zur Darstellung der Geschichte, von der diegetisch inszenierten Geschichte, die die Figuren- und die Handlungsebene szenisch, unmittelbar darstellt und somit den höchsten Grad der Erzählillusion erreicht, bis zur dezidiert extradiegetisch thematisierten Darstellung, die extrem illusionsdurchbrechend sein kann, da der Akzent sich von der direkten, mimetischen Darstellung der historischen Ereignisse auf Reflexionen über ihre Köhärenz, Rekonstruierbarkeit und Sinnhaftigkeit verlagert. Von daher ist der Erzähler des Novemberromans eine höchst heterogene Figur, eine Art Hydra mit neun Köpfen, die durch sein Bemühen, durch eine Vielfalt von erzählerischen Möglichkeiten die Geschichte darzustellen, die Darstellbarkeit und die Erzählbarkeit der Wirklichkeit als fragwürdig erscheinen lässt. Mal ist er der Beteiligte an der Geschichte, mal der Historiker, mal der Dichter; Mal ist er ein Objekt der überwältigenden Geschichte und somit fast eine Figur der eigenen Erzählung, mal der Berichterstatter objektiver historischer Ereignisse, mal der phantasierende Dichter, der die Erzählung aus seiner Zauberkiste hervorbringt und sie als solche enthüllt, mal ein Demiurg, der aus seinem Jenseits die Entstehung und die Auflösung der Menschheit betrachtet.

II. 1 Harmonisierung der Diegesis und der Mimesis

Der Novemberroman fängt in media res mit der Darstellung der verengten Perspektive eines Dienstmädchens, die als erste Wahrnehmung der Revolution auftaucht. Dieses erste Kapitel, das in der Überschrift ankündigt, den revolutionären Tag des 10. Novembers zu beschreiben, fängt mit den täglichen Unruhen des alten Dienstmädchens an, und ignoriert die Beschreibung der Marneschlacht, der ersten großen Schlacht der Revolution, die den Ausgang der Revolution entschied:

Sie blickte mit einer kleinen Kopfbewegung in die Stube zurück. Der Mann saß an seinem Platz am Tisch, die Krücken neben sich, das Käppchen auf dem Kahlkopf, die Zeitung ausgebreitet vor sich. Er putzte sich die Stahlbrille und prüfte das graue Morgenlicht, das durch das Hoffenster hereinfiel. Sie sagte: „Kannst dir Licht machen.“ Er: „Wird schon gehen.“ Dann zog sie die Tür hinter sich zu. “(5) (I, 5)

Die Alte dient hier als Fokalisierungsinstanz, die Perspektive ist sehr verengt, sie bleibt in ihrem Alltag stecken und nimmt die Revolution als Unruhe ihrer bürgerlichen Gewohnheiten wahr. Die Verlagerung des Geschehens ins Innere der Figur, die detaillierte, lebendige Beschreibung ihrer Wahrnehmung erweckt den Eindruck, dass das Innenleben des Dienstmädchens sich unmittelbar erzählt und nicht durch einen Erzähler vermittelt wird (dessen Anwesenheit doch ziemlich stark ist und sich an den Personalpronomen „sie“, „er“ erkennen lässt). Durch diese Verknüpfung der historischen Ereignisse mit dem Bewusstsein des Dienstmädchens wird die Vergangenheit zur geschichtlichen Gegenwart: Die Geschichte wird somit vergegenwärtigt und verlebendigt, und als unabgeschlossenen Prozess dargestellt. Diese Spiegelung der historischen Ereignisse im Lichte ihrer Wirkung auf die Figuren ermöglicht Döblin, die geschichtliche Vergangenheit als Gegenwart erscheinen zu lassen und somit eine höchst mimetische Illusion der historischen Wirklichkeit zu erzeugen. Indem am Anfang des Romans der Erzähler verhüllt bleibt und das Geschehen sich so entfalten lässt als würde sich die Wirklichkeit selber erzählen, tritt er später in einem metanarrativen Kommentar auf, er nimmt ganz explizit Stellung, er bewertet, gibt sein Urteil über das alte Dienstmädchen ab, er thematisiert explizit auf der extradiegetischen Ebene, was am Anfang des Romans durch auf der diegetischen Ebene implizit vorgeführt wurde:

Unsere stille Alte, die Portierfrau des Pfarrers, wo finden wir sie? Sie, die pünktlich ein Jahrzehnt den blinden Hauptmann betreute und sorgsam auf der Straße Pferdemist sammelte, empfindlich gegen jede Störung ihrer Ordnung – was war mit ihr geschehen! Welche Verwandlung in so hohem Alter, eine Revolution im kleinen. Sie machte den Tanz in Lazarett bis zum Ende mit. Zum ersten Mal sahen Schwestern und Kranke die Alte schwatzen und kichern.“ (I, 133)

In diesem extradiegetischen Kommentar des Erzählers wird der Akzent von der diegetisch inszenierten Geschichte, die einen hohen Grad von mimetischer Illusion erzeugt, zur extradiegetisch thematisierten Geschichte verlagert, ohne dass die Wirklichkeitsillusion gebrochen wird: Der allwissende Erzähler rafft das Geschehen zusammen, er reflektiert nicht nur über die Revolution, sondern auch über die Wahrnehmung der Revolution durch die Einzelfiguren, hier durch die Alte. Die Geschehensillusion, die diegetisch inszeniert wurde, wird durch die Erzählillusion unterstützt, so dass der Eindruck entsteht, dass die durch den Erzähler vermittelten Ereignisse der historischen Wirklichkeit entsprechen. Durch die phatische Äußerung „unsere stille Alte“ weiht der Erzähler den Leser in seine Welt ein, das ist eine Gunst, die er dem Leser erweist, eine Art Pakt, den er mit ihm schließen möchte, eine Verschwörung gegen die alte Frau als Inbild der so genannten Revolutionäre, die keine revolutionäre Vision besitzen.

Immer wieder folgen wie in den oben genannten Romanfragmenten den diegetisch inszenierten Ereignissen die bewertenden Kommentare des Erzählers auf der extradiegetischen Ebene: Die Mimesis und die Diegesis sind so miteinander verwoben, dass ein hoher Grad von historischer Wirklichkeitsillusion erreicht wird. Vorgeführt wird, wie die Soldaten aus den Fronten heimkehren, wie sie sich freuen, dass „man das Joch der Hohenzollern abgeworfen hatte“ (I, 39), wie sie rote Fahnen hissen, den Frieden begrüßen und schreien: „Es ist herrlich.“ Menschen, die sich umhalsen, Männer und Frauen die sich mit Wein und Gänseleber vollstopfen und das Ende des Krieges und die Revolution begrüßen - diese betonte Leiblichkeit, die auf der diegetischen Ebene der Erzählung inszeniert wird, erinnert an den mittelalterlichen Karneval, ein Bild, das der Erzähler sodann explizit in einem weiteren extradiegetischen Kommentar untermalt:

„Und welche laufen zu dem Justizrat, der behaglich seinen Platz am Ofen behauptet, und küssen ihn. Drei, vier küssen ihn hintereinander. Sie umarmen auch andere Männer, es ist wie im Karneval.“ (I, 133)

„Bürger und Soldaten näherten sich im Trinken, die Verbindung war noch inniger als bei den Demonstranten auf dem Markt. Auch an Gänsen konnte man sich laben, denn man war ja im Paradies der Stopfgänse...“ (I, 67)

In diesen Passagen sind die Mimesis der Erzählung und die Diegesis der Narration miteinader harmonisch verquickt: Die diegetisch inszenierte Darstellung der Geschichte und die extradiegetisch thematisierte befinden sich in einem perfekten Ausgleich, so dass der Eindruck entsteht, dass der Erzähler das historische Geschehen getreu mitteilt. Er verschwindet aus der Erzählung, die historischen Ereignisse und das Privatleben der „kleinen Leute“ rollen ab, als ließe sich die Geschichte selber erzählen; Dann greift er in die Erzählung ein und betont die Wahrhaftigkeit der Figuren und ihrer Handlungen: Die Geschehensillusion und die Erzählillusion münden in eine vollkommene Wirklichkeitsillusion ein, so dass der Eindruck entsteht, dass die Wirklichkeit sich treu und reibungslos darstellen lässt. Die Alte, die der Revolution durch Schwatzen und Kichern entgegenkommt, die „Revolutionäre“, die sich umhalsen und sich mit Gänseleber voll stopfen als wären sie im „Paradies der Stopfgänse“ – diese Bilder sind trotz der subversiven Karikierung und Ironisierung des Erzählers als der Wirklichkeit entsprechend vorgeführt. Die historische Wirklichkeit scheint somit darstellbar und erzählbar zu sein, sie scheint sich vom Erzähler überwältigen zu lassen.

Die Grenzlinie zwischen dem vermittelnden Erzähler und seiner Erzählung, zwischen der extradiegetischen Ebene der Narration und der diegetischen Ebene der Erzählung ist klar markiert. Diese Grenze fällt aber ab, wenn der Erzähler als Beteiligter, als Objekt der Geschichte auftritt und wie seine Figuren am Unheil der Revolution zu leiden scheint. Er hört auf, ein objektiver Berichterstatter zu sein, der aus einer olympischen Distanz das historische Geschehen berichtet. Die häufigen phatischen Äußerungen zielen darauf, dem Leser das historische Geschehen näher zu bringen, seine Anteilnahme an der Geschichte zu wecken aber auch den Erzähler als Beteiligten an der Geschichte bloßzulegen:

Trübselig floß da unten die Spree, ein grauschwarzes schmales Rinnsal zwischen schmutzigen Häusern, zwischen hohen Schornsteinen, die nicht rauchten, stummes, zerbrochenes Berlin.“ (I, 247)

Indem das deiktische „da“ den Erzähler als Augenzeuge der Revolution enthüllt, vermögen die Antropomorphisierung der Spree und der Häuser und die phatische Äußerung „stummes, zerbrochenes Berlin“ den Erzähler als Beteiligten an der Geschichte aufzuzeigen: Die Geschichte wird dadurch als dämonisch, unentrinnbar perspektiviert und der Erzähler deutet durch seine gefühlsbetonte Anteilnahme darauf, dass er gleich den Revolutionären als Objekt dieser unabwendbaren dämonischen Geschichte erscheint. Diese Inszenierung der Geschichte, in der die Grenze zwischen der diegetischen Ebene der Erzählung und der extradiegetischen Ebene der Narration immer fließender wird, schafft eine hohe Wirklichkeitsillusion: Der Erzähler als vermittelnde Instanz, der nachträglich aus einer räumlichen und zeitlichen Distanz die historischen Ereignisse vermittelt, verschwindet zugunsten einer mimetischen Inszenierung der Wirklichkeit, die von sich abzurollen scheint. Der Erzähler hat Schwierigkeiten, die historische Wirklichkeit gefügig zu machen, er scheint von den historischen Ereignissen überwältigt zu sein und nicht mehr durchblicken zu können. So leitet er die Beschreibung der Wirkung der Revolution im Elsass durch eine Aufzählung nutzloser Begebenheiten ein, die ihn anfluten. Diese Beschreibung sinnloser Details und Geschichten kann einerseits zu einer erhöhten Wirklichkeitsillusion beitragen, weil die historische Wirklichkeit sich unmittelbar zu entfalten scheint, als liefe sie parallel zum narrativen Diskurs des Erzählers, der gleich einem Chroniker keine Zeit zum Auswählen und Anordnen der Ereignisse hat; Andererseits kann diese Anhäufung die mimetische Wirklichkeitsillusion zerstören und als indirektes Fiktionalitässignal fungieren (6), das die Aufmerksamkeit auf die Intention des Erzählers lenkt, wie in dem folgenden Abschnitt:

Statt dessen erfuhr die jubilierende Stadt, daß ein restlicher Spuk umgehe, daß zum Beispiel eine große Menge Schneeschuhe aus der Werderkaserne verschwunden sei. Wer sich diese Scheeschuhe widerrechtlich angeeignet habe, solle sie sofort dem Polizeipräsidium abliefern. Andernfalls würden sie sich leicht unter der Hand verkaufen lassen. Und jeder Schnapsverkauf ist, zur Dämpfung der exzessiven Freude bei Zivil und Militär und zur milderen Austragung politischer Differenzen verboten. Die Benutzung des Telephons ist untersagt, so daß, wer etwas zu flüstern habe, es schreien möge.“ (II/1, 78)

Auf einen ersten Blick scheinen solche Ausschweifungen, die diegetisch inszeniert sind, mit der Revolutionsdarstellung nichts zu tun: Sie scheinen jeglicher realistischen Motivation, die dem traditionellen historischen Roman innewohnt, entkleidet zu sein. Jedoch weisen sie auf die Intention des Erzählers hin, die Aufmerksamkeit auf das Revolutionsbild zu lenken, das er entwerfen wird: Das Bild einer verratenen Revolution, die nur in Form von kleinen, kontingenten Privatrevolutionen stattfindet. Durch diese Perspektivierung der Revolution will der Erzähler eindeutig darauf hingewiesen, dass die Fehlentwicklung der Revolution im Elsass aus den mentalitätsgeschichtlichen Schwächen der gesamten Revolutionäre abzuleiten ist.

II. 2 Der Erzähler als Historiker – Triumph der Diegesis

Der Erzähler, in einer weiteren Passage des Romans die Maske des Historikers aufsetzend, thematisiert und erklärt auf der extradiegetischen Ebene seine Methode und die Rolle der Anhäufung der diegetisch inszenierten Geschichten:

„Es gibt eine Sorte von Erzählern und Geschichtsschreibern, die auf Logik, auf nichts anderes als Logik schwören. Für sie folgt in der Welt eins aus dem anderen, und sie betrachten es als ihre Aufgabe, dies zu zeigen und die Dinge entsprechend auseinanderzuentwickeln. Sie machen für jeden Vorgang der Geschichte einen anderen ausfindig, aus dem er sich dann ergibt. Es bleibt dem zweiten Vorgang schlechterdings nichts anderes übrig, als sich aus dem ersten zu ergeben, wie ein Kücken aus dem Ei.

Wir sind nicht von einer solchen logischen Strenge. Wir halten die Natur für viel leichtfertiger als die genannten Geschichts- und Geschichtenschreiber.“ (II/1, 423)

In diesem Kommentar, der die Diegesis der Erzählung betont und die mimetische Illusion der Wirklichkeit, die sich selber erzählt, durchbricht, verwischt der Erzähler-Historiker die tradierte Scheidung zwischen Geschichte als Darstellung der res factae und Literatur als Schilderung der res fictae und setzt die Historiker und die Schriftsteller gleich: Sie alle machen Geschichten „ausfindig“, die sie dann durch logische Stränge zu einem kohärenten, teleologischen Bild verknüpfen. Der Historiker wird als ein „rückwärts gewandte Prophet“ (Heine) betrachtet, der etwas prophezeit, was sich schon ereignet hat: Er selektiert und ordnet die Fakten und die Details an und deckt somit die Lücken in der Geschichte, so dass er das historische Geschehen zu einem kohärenten Bild verdreht, das die Differenz „zwischen faktischem Geschehen und erzählter Geschichte, den res gestae und der historia rerum gestarum verdeckt.“ (7)

Durch diese Eingriffe wird der Akzent von der diegetisch inszenierten Schilderung der deutschen Revolution auf die Reflexionen über ihre Darstellbarkeit, Konstruktivität und Erkennbarkeit verlagert. Der Erzähler-Historiker stellt nicht nur den Zugang der Geschichtsschreibung zur historischen Objektivität sehr in Frage, sondern er kritisiert auch den traditionellen historischen Roman und seine Zugehörigkeit zum naiven Abbildrealismus, der durch mimetisch-illusionistische Beschreibung eine Objektivität der historischen Darstellung vortäuscht, der den Unterschied zwischen Kunst und Wirklichkeit verschleiert. Indem der Erzähler seine Skepsis gegenüber der Darstellbarkeit und Erkennbarkeit der Geschichte zeigt, die Historiker und die Schriftsteller des überkommenen Abbildrealismus gleichsetzt und sie als „Geschichten-Schreiber“ definiert und sich von ihnen distanziert, äußert er die Eigenständigkeit und die Angemessenheit seiner Geschichtsdarstellung. Das teleologische Geschichtsbild, das von den so genannten Realisten und Historikern nach Rankes „Gesetz der Harmonie“ entworfen wird, ist, so der Erzähler in dieser Passage, eine Verfälschung der historischen Wirklichkeit. Akkurate Wiedergabe der Wirklichkeit gibt es nicht, daher solle der Schriftsteller versuchen, die Geschichte als unabgeschlossenen Prozess, so wie sie die Menschen erlebt haben, darzustellen und erlebbar zu machen.

Solche extradiegetische Eingriffe, die die Erzählbarkeit und Darstellbarkeit der historischen Wirklichkeit thematisieren, sind nicht als Bruch der Wirklichkeitsillusion aufzufassen, denn auch wenn der Erzähler durch seinen Eingriff die Illusion der Mimesis stark zerrüttet und die Gemachtheit und Künstlichkeit seiner Geschichtsdarstellung und der ganzen historischen Handschriften anzeigt, betont er sein Bemühen um die Darstellung einer historischen Wirklichkeit, die er nicht negiert. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen historischen Ereignissen und ihrer Rekonstruktion bleibt bestehen (8) und somit der Eindruck einer Geschichte, die dargestellt, aufgefasst, ergründet werden kann. Diese Grenze bleibt weiterhin unberührt, wenn der Erzähler, diesmal die Maske des Chronikschreibers aufsetzend, in einem weiteren Kapitel des ersten Bandes Der Verfasser geht mit sich zu Rate sein Bemühen um eine akkurate Revolutionsdarstellung kundgibt, die erzählten Ereignisse zusammenrafft, über seine Arbeitsmethode nachsinnt und sie erklärt:

„Überblicken wir an diesem Zeitpunkt die Ereignisse, die verflossen sind und uns unabwendbar überströmen, und bedenken wir, von einer erklärlichen plötzlichen Müdigkeit überfallen unter dem unaufhaltsamen Ansturm der Begebenheiten (und es sind erst zwanzig Tage der Revolution vorbei), was nun kommen wird, so ist uns schon einiges klar: mit der Revolution wird es auf diese Weise nicht vorwärtsgehen. Es wird mit ihr wahrscheinlich rückwärtsgehen.

Bisher sind wirkliche revolutionäre Massen nicht in unser Gesichtsfeld getreten. Man kann einem, wenn er eine Revolution beschreibt, dies zum Vorwurf machen. Aber es liegt nicht an uns. Es ist eben eine deutsche Revolution.“ (II/1, 280)

Trotzdem ist der Schreiber dieser Zeilen, der Chronikschreiber, etwas eigenartig: Er kann durch den „Ansturm der Begebenheiten“ nicht schauen und erklärt seine Geschichtsmüdigkeit, er hat nicht die olympische Perspektive des Historikers oder des allwissenden Schriftstellers, der über seine Darstellung verfügt. Er ist nur ein Chronikschreiber, der gegenwärtige Daten und Ereignisse aufzeichnet, ungeachtet deren Bedeutsamkeit und Wichtigkeit, ohne eine gewisse Richtung und eine Zielstrebigkeit in der Geschichte durchblicken zu können. Die Geschichte bietet sich nur als unabgeschlossenen Prozess an und die lineare Geschichte der Historiker, mit Anfang, Mitte und Ende scheinen aus dieser Perspektive eine Verfälschung der historischen Wirklichkeit zu sein. Durch diese narrative Inszenierung der Revolution kritisiert Döblin auch die Abgeschlossenheit des traditionellen historischen Romans als Formproblem der Gattung, nämlich „die illusionäre Verendlichung dessen, was seinem Grunde nach unabschließbar ist“. (9) Auch wenn die mimetische Illusion durch den Hinweis auf die Diegesis des Erzählers zerstört ist, bleibt der Eindruck der Wirklichkeitsillusion bestehen, da der Erzähler sein Bemühen um eine akkurate Darstellung der Revolution explizit betont: Die Revolution entspringt nicht seiner Phantasie, „es liegt nicht an uns“, sagt er, sondern die geschichtlichen Ereignisse rollen ab, bei allen seinen Versuchen, sie aufzufangen und ihre Richtung zu erraten. Der Erzähler als Chronikschreiber bemüht sich, eine gewisse Distanz zur eigenen Darstellung zu halten, er weist auf die Grenze zwischen seiner Erzählung und der historischen Wirklichkeit hin und zieht die Aufmerksamkeit darauf, dass seine Darstellung Text ist und nicht die Wirklichkeit, die sich selber erzählen lässt. Diese Grenze zwischen dem narrativen Diskurs des Erzählers und den erzählten Ereignissen ist aber sehr fließend, denn den geschichtlichen Ereignissen gelingt, ihre narrative Instanz zu verschlingen: Der Erzähler ist ohnmächtig gegenüber der geschichtlichen Fülle, die sich ihm anbietet. Die Geschichte verschlingt die Erzählung: „Es liegt nicht an uns“, dieser verzweifelte Kommentar des Erzählers zeigt, dass er die Zügel seiner Erzählung nicht in Hand hat, die Geschichte scheint parallel zum narrativen Akt zu laufen, sie scheint sich selber zu erzählen – und die mimetische Illusion der Wirklichkeit wird auf diese Weise noch einmal konsolidiert.

II. 3 Geschichte als Fiktion

Das eigenartige Spannungsverhältnis zwischen Geschichte, Erzählung und narrativer Instanz (Erzähler), zwischen der Mimesis der Erzählung und der Diegesis der Narration widerspiegelt, spiegelt, wie ich oben gezeigt habe, das Bemühen eines fast hoffnungslosen Erzählers um eine listenreiche historische Wirklichkeit, die sich ihm mal darzubieten, sich ihm mal zu entziehen scheint. Diese Illusion der historischen Wirklichkeit wird aber an vielen Passagen des Romans dadurch zerstört, dass der Erzähler die unberührbare Grenze zwischen Geschichte, Erzählung und Narration überspringt, wodurch der Hiatus zwischen historischer Wirklichkeit und Fiktion in Frage gestellt wird. Wenn in den oben angeführten Passagen der Erzähler die diegetische Ebene der Erzählung von der extradiegetischen Ebene der Narration klar abtrennt, vermag er sich oft in einen schnodderigen, spitzbübischen Erzähler zu verwandeln, der diese Grenze überspringt. Von der Vertreibung der Deserteure und der Versprengten aus dem Reichstag am 6. Dezember erzählt er auf folgende Art und Weise:

Man hatte sie mit Feuer und Schwert aus dem zweifelhaften Paradies des Reichstags vertrieben und sie wollten es sich nicht gefallen lassen. Wir waren zugegen, als sie nachher emsig ihre Plakate ankleisterten, eine friedliche Arbeit, bei der sie keiner störte.“ (II/1, 428.)

Der Erzähler ironisiert die Deserteure und die Versprengten, die den Reichstag als Paradies betrachten und darin heimisch werden. Er enthält sich nicht davon, das Paradies als „zweifelhaft“ zu nennen und somit die Deserteure und die Versprengten als beschränkt zu ironisieren. Demnächst tritt er explizit auf: „wir waren zugegen“, sagt er, und bewirkt eine Ambiguität, die auf einen ersten Blick schwer zu deuten ist. Denn es ist nicht klar, wer spricht: Der Erzähler als Beteiligter an der Geschichte oder der schnodderige, spitzbübische Erzähler, der die Erzählebenen überspringt und sich aus lauter Spielerei als Revolutionär gibt? Die Distanz und die schnippische Ironie, mit denen der Erzähler allen Revolutionären, Matrosen, Versprengten und Deserteuren entgegentritt, treten für die zweite Variante, für die Transgression der Erzählebenen ein. Diese Eingriffe des extradiegetischen Erzählers oder Metalepsen des Erzählers bewirken einen komischen, befremdlichen Effekt (10) denn der extradiegetische Erzähler bricht in die diegetische Welt hinein und demoliert die unberührbare Grenze zwischen der diegetischen Ebene der Erzählung und der extradiegetischen Ebene der Narration, wodurch die Wahrscheinlichkeit des Erzählten stark ins Wanken kommt. Das Befremdliche an diesen Metalepsen des Erzählers ist, so der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges, das dabei aufkeimende Gefühl, dass, wenn der Erzähler vielleicht nur eine Figur seiner Geschichte ist und seine Figuren nur Geschöpfe seiner Phantasie, dann können wir auch als Leser nur fiktive Gestalten sein: Wir Leser, der Erzähler und seine Romangestalten, die Wirklichkeit und die Geschichte wären dann eine große Fiktion, die um uns wirbelt. (11)

Diese Transgression der Erzählebenen soll zuerst die Parodierung und die Karikierung der Revolutionäre unterstützen. Dadurch, dass der Erzähler als Figur erscheint und die Versprengten und Deserteure verhindern will, die Plakate anzukleistern, will er auf ihren Mangel an revolutionärem Verhalten hinweisen: Es ist, als möchte er durch die gewaltige Transgression der Grenze zwischen der extradiegetischen Ebene der Narration und der diegetischen Ebene der Erzählung in die Geschichte eingreifen und ihren Ablauf ändern, die Existenz der Versprengten und der Deserteure wegschaffen und sie als schreckliche Illusion entkleiden.

Diese Idee wird an einer weiteren Passage veranschaulicht, in der der Erzähler die Revolution der Matrosen im Finanzministerium darstellt. Die schonungslose Karikierung der Matrosen bleibt unverschleiert, der Erzähler enthält sich nicht davon, seine Beschreibung bis ins Groteske zu führen: So erzählt er, die Zeit auf eine eigentümliche, phantastische Weise ausdehnend, wie die Matrosen ihre Zeit im Finanzministerium „nicht ungenutzt verstreichen lassen“ und sich heiraten, Kinder und Kindeskinder bekommen und mit Eltern, Groß- und Schwiegereltern „ein gewaltiges Familienleben“ entfalten. Dass die Matrosen in Wirklichkeit im Finanzministerium nur ein paar Tage verbracht haben, das verschweigt der Erzähler hier explizit. Nach dieser Beschreibung bricht der Erzähler noch einmal die Grenze zwischen der diegetischen Ebene der Erzählung und der extradiegetischen Ebene der Narration:

„Nun aber griff das Wunderbare, das sich des Finanzministeriums bemächtigt hatte, auf sie über, und was ihnen geschah, stand hinter den Erlebnissen der Geheimräte nicht zurück. Kaum dem Fluch und dem Eheleben entronnen, sahen die Matrosen Wasser vor sich, jenes Wasser, das von den Geheimräten floß. Sie sahen es wallen und sieden und brausen und zischen und wie einen Strom aus vielen Quellen sprudeln. Und sie glaubten sich, vom Wahn verblendet und vom Zauber dieser Erzählung hingerissen, auf dem offenen Meer. Ihr Geist verwirrte sich. Sie sprachen sich griechisch und lateinisch an, übersetzten es aber gleich auf deutsch und ermunterten einander, das Meer zu befahren, den Ozean, zwischen den Säulen des Herakles hindurch. ... Sie stürzten herunter, ins Wasser, ins Meer, und fanden sich da neben den anderen, die schon Rettungsboote bestiegen hatten, und schlugen mit ihnen gemeinsam kräftig in Hexametern die Ruder, um die Durchfahrt zu erzwingen.“ (III, 125)

Der Erzähler bricht hier ganz absichtlich und explizit die Illusion der Mimesis mit seinem extradiegetischen Eingriff und betont die Fiktionalität seiner Darstellung. Die Matrosen werden „vom Zauber dieser Erzählung“ verblendet, sie sind somit Leser der eigenen Erzählung – die Geschichte, die Erzählung und der narrative Akt des Erzählers verlaufen parallel, so dass die unberührbare Grenze zwischen den drei Ebenen zunichte gemacht wird. Noch einmal tritt das befremdlichste Gefühl auf, dass der Erzähler, seine Erzählung, die Matrosen und nicht letztendlich wir Leser Teil einer anderen fiktiven Erzählung, einer anderen Diegesis sein könnten. Diese narrative Metalepse weist auf die Intention des Erzählers hin, die Matrosen als Inbegriff der Revolutionäre karikierend, parodierend zu beschreiben und so den grotesken Unterschied zwischen ihnen und Ulysses Reisegefährten, die auf ihrer abenteuerlichen Reise den Ozean zwischen den Säulen des Herakles hindurch befahren und heldenhafte Taten begehen, bis ins Fantastische zu überhöhen. Der extradiegetische Erzähler, der ins diegetische Feld einbricht, die Matrosen, die die diegetische Ebene der Erzählung verlassen und dem Akt der Narration, der die Erzählung gestaltet, beiwohnen – diese Transgression der Grenze zwischen den Erzählebenen geht mit einem gewaltigen Bruch der Wahrscheinlichkeit der Erzählung und somit der Wirklichkeitsillusion einher (12). Erzeugt wird dadurch eine erzählerische Ambiguität, die in verschlüsselter Form die Fragwürdigkeit der Scheidung zwischen historischer Wirklichkeit und Fiktion nahe bringt.

Im Gegensatz dazu vermag die explizite Metafiktion diese Ambiguität zu zerstören und die auf der diegetischen Ebene dargestellten Ereignisse als fiktive, erdichtete Erzählung des phantasiereichen Erzählers zu entblößen. Wenn der Erzähler sich an eine seiner Figuren wendet und ihr die Zukunft voraussagt, erscheint er als Puppenspieler, der das Theaterstück nach seinem Belieben und seiner Phantasie inszeniert:

Warum so nervös, liebes Kind? Warum sich das Leben so schwer machen. Sie haben zu viel Phantasie. Und andererseits haben Sie zu wenig Phantasie, sonst wüßten Sie zum Beispiel: Sie werden bald aufstehen, sich verzweifelt in der Wohnung umsehen, ob nicht jemand da ist, der Ihnen helfen kann, mit dem Sie sprechen können, vor dem Sie etwa weinen können…“ (I, 109)

Diese ironische Ansprache wird von einer Reflexion über die schriftstellerische Arbeit bzw. über die künstlerischen Verfahren bei der Darstellung von Geschichte(n) begleitet:

„Das alles weiß der Dichter. Für ihn ist es keine Neuigkeit, es geht fast immer so still herum und in seinem Inneren bilden sich Gestalten, noch unklar, sie bewegen sich in ihm wie in einem wohligen feuchten Garten, einem Treibhaus, aber nach einiger Zeit öffnet er die Tür – er muss es schon tun, um Platz für neue zu lassen –, und sie bewegen sich hinaus, er verfolgt sie mit einem liebenden Blick, sie entschwinden.“ (I, 109)

Wenn der Dichter am Anfang dieses metafiktionalen Eingriffs seine Figur direkt anspricht, die Anteilnahme an ihrem Schicksal erweckt aber sie gleichzeitig als Figur seiner Phantasie enthüllt, distanziert er sich in der zweiten Sequenz von seiner Figur ab und lenkt die Perspektive von der Darstellung der Revolution auf Reflexionen über den Entstehungsprozess erzählerischer Diskurse. Die dargestellten Ereignisse entblößen sich jetzt als Phantasiebilder des Erzählers und der Gedanke keimt, dass die ganze Revolution nur eine Ansammlung von fiktiven Geschichten ist. Dass Hanna, eine der mannigfaltigen Figuren der Revolution als erdichtete Figur eines Puppenspieltheaters erscheint, bringt den Lesern nahe, dass alle in der Revolutionsdarstellung hervortretenden Figuren nur Phantasiegestalten des Erzählers sein könnten. Die Figuren und ihr historisches Dasein, ihre historische Agierungskraft, ihr historisches Bewusstsein, erscheinen als willkürliche Spiele des Dichters, wodurch die Revolution als kontingenzhaft, willkürlich, noch einmal herausgekehrt wird. Es sind nicht historische individuelle Mächte oder eine historische Vernunft im Sinne Hegels, die den historischen Verlauf bestimmen, sondern es ist der Dichter, der die Geschichte aus seiner „Zauberkiste“ hervorbringt.

II. 4 Die Geschichte als phantastische Geschichte

Die eigenartigste Metamorphose des Erzählers ist die Verwandlung des Erzählers in einen Demiurg, der eine Art allwissender, olympischer Erzähler ist, der alle Grenzen des Wahrscheinlichen und Glaubwürdigen sprengt und aus einer Weltallperspektive jenseits von Raum und Zeit die historischen Ereignisse betrachtet und darstellt. Diesen Erzähler möchte ich einen Demiurg nennen, weil er mehr als ein allwissender Erzähler ist, der in seiner Erzählung die Grenzen des Wahrscheinlichen und des Glaubwürdigen bewahrt. Dieser Erzähler verfügt nicht nur über die Ereignisse seiner Erzählung, sondern auch über das ganze Universum jenseits der Erzählung. Er setzt sich über alle Grenzen der menschlichen Kenntnis hinweg, und blickt aus einem Universum jenseits von Zeit und Raum die Welt der Menschen aufkeimen, aufblühen, sich entfalten und verwelken. Sein Auge dringt ins Undurchdringliche der Natur, des Menschen und der Geschichte, er vermag sich am Anfang und am Ende der Universalgeschichte und der Menschheitsgeschichte zu situieren. Durch einen raschen Perspektivenwechsel von der diegetisch inszenierten Geschichte, entführt dieser Demiurg den Leser ohne jeden Übergang in eine Welt, die der bisher geschilderten Welt der Geschichte so unähnlich ist, dass er sich ganz unvermittelt auf einem unheimlichen, abgründigen, phantastischen Boden befindet. Wenn in der nächsten Passage der Erzähler wie ein weiser Historiker über den Verlauf des Lebens und der Geschichte reflektiert und ihn zu ergründen versucht, setzt er die Maske des Demiurgs auf und betrachtet den Schauplatz der Revolution aus seinem Kosmos jenseits von der Universalgeschichte und Menschheitsgeschichte. Die Distanz zum Schauplatz der Revolution wird riesig, die Perspektive aus dem Weltall betont die Ewigkeit des Universums und kehrt gleichzeitig die Vergänglichkeit des Menschen und der Geschichte heraus:

„Aber wären nur alle Dinge das, was unsere Wiegeschalen und Metermaße aus ihnen machen, so wäre das Leben nicht Leben, der Mensch nicht Mensch, und es hätte keine Schießerei in der Chausseestraße gegeben.
Das Blut, das auf dem Pflaster gerann und verklumpte, hatte menschliche Seelen getragen, die auch nicht viel von sich wußten und denen vorkam, sie wäre eben Schlosser und Soldaten oder Arbeitslose und damit Schluß. ...
Obwohl losgerissen von dem großen Körper, in dessen Haus es warm gewohnt hatte, wußte das Blut vom Gang der Gestirne, vom Blitzen des Nordlichts, von Viehweiden und Alpenwiesen, von Gebirgen, über deren Gletscher sich Wanderer schleppen, von blauen Seen, von Tanzkapellen. ... Sie erfaßten die Sehnsucht, den Schmerz, das Glück der Menschen, deren Blut da lag, und entzündeten sich daran. Sie staunten über die Wunder der weiten Welt, die ihnen nie zu Gesicht gekommen waren, und mochten nichts hören von den Klagen, die das Blut aushauchte – über die Kürze des Lebens, über das Plötzliche des Todes. Sie waren noch rascher hin.“ (II/1, 440f.)

Wenn der Erzähler als alter Weiser mit seiner Erklärung für die „Schießerei“ in der Chausseestraße im Rahmen des Wahrscheinlichen und Glaubwürdigen bleibt, vermag er in den danach folgenden Betrachtungen alle Grenzen des Möglichen und Wahrscheinlichen aufzusprengen. Ein Erzähler, der sich in die menschlichen Seelen einschleichen kann, dem geheimen Leben des Blutes zulauschen und seinem Fließen durch Gestirne, Viehweiden und Gebirge folgen kann, ist ein höchst eigenartiger Erzähler, wie es nur in der phantastischen Literatur gibt. Diese Bevollmächtigung, alle Grenzen des realistisch Wahrscheinlichen auseinander zu reißen, die der Erzähler in solchen Passagen genießt, perspektiviert die Geschichte der deutschen Revolution als kurze Episode einer unentrinnbaren Geschichte des Niedergangs. Die Menschen, die an der Revolution teilgenommen haben, sind Schatten, nur ihr Blut vermag länger zu bestehen um dann „den Rinnstein entlang, mit Bindfaden, Papierfetzen, Hundekot und Obstresten“ (II/1, 441) zu verschwinden. Diese eigenartige Gestaltung, die in Döblins Werken sehr oft anzutreffen ist, soll den Leser zur Einsicht in die Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit menschlichen und geschichtlichen Handelns bringen. Im Rahmen der Revolutionsdarstellung hat sie die Funktion, die Geschichte als willkürlich, als undurchschaubar zu schildern, und die große Vernunft in der Geschichte und Zielrichtigkeit der historischen Ereignisse, für die die positivistische Geschichtsdarstellung beteuert, stark in Zweifel zu ziehen.

Diese Auflösung der Geschichte ins Phantastische hat einen stark befremdenden, illusionsstörenden Effekt, der das historische Geschehen entchronologisiert und enttheleologisiert. Die Überführung des Lesers in die phantastische Welt lässt die Objektivität der Geschichte als bedenklich, porös, fragwürdig erscheinen. Realistik und Fantastik treffen hier zusammen: Dieser Überführung in diese phantastische Welt, wo der Demiurg in aller seinen Dämonie herrscht und das willkürliche Entfalten und Absterben der Menschheit und der Geschichte als sein dämonisches Spiel genießt, wohnt der Leser ratlos und zögernd bei. Die Unschlüssigkeit (13) des Fantastischen, wie Todorov sie nennt, tritt im ganzen Novemberroman immer wieder hervor. Die Geschichte wird vom Fantastischen empor gewogt, so dass die Grenze zwischen der faktualen Welt der Geschichte und der phantastisch-dämonischen Welt des Demiurgs fließend wird: Was bleibt, ist nur die Unschlüssigkeit des Lesers gegenüber einer eigenartigen Geschichtsdarstellung, denn jede Zeit kann die Geschichte ins Fantastische umkippen, und jede Zeit kann das Fantastiche zugunsten einer realistisch inszenierten Beschreibung oder Problematisierung der Geschichte verschwinden. Diese Inkonsistenz der Grenze, die Gefahr, dass die wirkliche und die fantastische Welt sich jederzeit zerlösen können, ist auch für Todorov ein Hauptmerkmal des Fantastischen: „Das Fantastische ist stets bedroht, es kann sich jeden Augenblick verflüchtigen.“ (14) Unschlüssig, fantastisch bleibt die Atmosphäre durch die Verquickung der Realistik mit dem Irrealen, des Gegenständlichen mit dem Phantasmagorischen, des Wahrscheinlichen mit dem Unwahrscheinlichen. So wird den Gegenständen und den Schauplätzen der Geschichte eine übernatürliche Dimension eingehaucht: Um die Schatten der Schornsteine und der Dachfirste ziehen wie in einer Art Totentanz die Schatten der Seelen verstorbener Revolutionäre, deren Schmerz, Glück und Leiden besungen werden:

„Und die Schatten verstanden es, obwohl nur flüchtige, eben unter dem Mondlicht entstehende Gebilde, denen man kaum ein Dasein zuerkennen würde neben dem wuchtigen Schornstein, um den sie lagen, und dem soliden Dachfirst, von dem sie herabstürzten. Aber sie führten ihr Leben nicht anders wie der Dachfirst, der Schornstein, oder wie eine rasselnde Kanone oder ein schwertrabendes Pferd.
Sie erfassten die Sehnsucht, den Schmerz, das Glück der Menschen, deren Blut da lag, und entzündeten sich daran.“ (II/1, 440f)

Nach dieser riesigen Inkursion, die die Geschichte entchronologisiert und ihr eine phantastische Dimension einhaucht, verlässt der Erzähler-Demiurg seinen überzeitlichen Kosmos und kommt zurück auf den Schauplatz der Geschichte, indem er die Morgendämmerung ankündet, und mit ihr das Verschwinden der Schatten:

„Die Reise durch den Körper wandelnder, liebender und himmelssüchtiger Menschen war beendet.
Ein Husch war man gewesen, wie die Dach- und Laternenschatten, die sich jetzt in der Morgendämmerung auflösten.“ (II/1, 441)

Der Einbruch der Morgendämmerung und die Auflösung der um das Weltall reisenden Schatten verkündigen auch die Auflösung des Fantastischen zugunsten der Realistik: Der Erzähler-Demiurg verlässt seine Urwelt und nimmt die Maske des Historikers, der, um die historische Genauigkeit der Darstellung bemüht, seine ausführliche Darstellung des historischen Datums des 7. Dezembers so anfängt: „Ebert hat ausgeschlafen.“ Diese Verknüpfung der Fantastik mit der Realistik bewirkt hier einen komischen Effekt, der die Kleinlichkeit, die mangelnde revolutionäre Vision des Sozialdemokraten Friedrich Ebert entschleiert, der als Subjekt einer karikierten, skurrilen, sinnlosen Geschichte auftaucht.

 

III. Abschließende Bemerkungen: Ein erweiterter Realismusbegriff

Die Vielfalt der erzählerischen Möglichkeiten, die Döblin zur Darstellung der Geschichte entfaltet, das Spannungsverhältnis zwischen Mimesis und Diegesis, die Transgression und das Spiel mit den Erzählebenen, das Spiel des Erzählers mit seiner Erzählung letzten Endes, machen deutlich, wie fragwürdig die Darstellung und die Erzählung der historischen Wirklichkeit in der Moderne geworden ist. Die Metamorphosen des Erzählers, der mal Berichterstatter, mal Beteiligter an der Geschichte, mal Chronikschreiber, Historiker oder Dichter ist, mal Demiurg, zeugen gleichzeitig von den vielfältigen Möglichkeiten, über die der historische Roman verfügt. Wie kein anderer vor ihm hat Döblin diese Vielfalt von erzählerischen Strategien, so tendenziös oder ästhetisch fragwürdig sie erscheinen mag (15), um neue Möglichkeiten zur Darstellung der historischen Wirklichkeit entfaltet, ihr neue Impulse gegeben und die Darstellung der Wirklichkeit vom Kanon des traditionellen Abbildrealismus befreit (16).

 

IV. Auswahlbibliographie


Anmerkungen:

1 Siehe dazu Ansgar Nünning, Mimesis des Erzählens. Prolegomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts des Erzählens und der Metanarration, in: Jörn Helbig (Hrsg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, Heidelberg 2001, S.13-47, hier S. 19f.
2 David Lodge, Mimesis and Diegesis in Modern Fiction, in: Hoffman, Michael J., and Patrick D. Murphy, eds. Essentials of the Theory of Fiction. Durham, 1996. S.364.
3 Auch wenn Flaubert für das Verschwinden der erzählerischen Instanz plädiert hat, ist die Präsenz des ironischen Erzählers in seinem Roman Madame Bovary für den aufmerksamen Leser nicht zu übersehen. In den extremsten Formen der mimetischen Darstellung wie in Joyces Ulysses, gibt es verschlüsselte Signale wie die Verknüpfung von erlebter Rede mit dem inneren Monolog, die die Anwesenheit des Erzählers ankündigen. Siehe dazu David Lodge, Mimesis and Diegesis in Modern Fiction, S.358ff.
4 Vgl. dazu David Lodge, Mimesis and Diegesis in Modern Fiction, S. 370: „what we see happening in postmodernist fiction is a revival of diegesis: not smoothly dovetailed with mimesis as in the classic realist text, and not subordinated to mimesis as in the modern text, bur foregrounded against mimesis.“
5 Alfred Döblin, November 1918, hrsg. von Werner Stauffacher, 4 Bde. (München: dtv, 1991). Im Folgenden wird die Band- und Seitenzahl der zitierten Textstelle aus diesem Werk in Klammern nachgestellt.
6 Vgl. Dazu Monika Fludernik, Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiantions, in: Jörn Helbig (Hrsg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, Heidelberg 2001, 85-103, hier S.96: “The proliferation of plots only become a fictional marker when its excessiveness starts to become suspect, drawing attention to the inventiveness of the narrator and to the ad libitum-quality of plot strands. Lack of consistency, logical discrepancy and striking (and non-verisimilar) coincidences tend to undermine the credibility of profuse plotting much more than the mere complexity of narrative action in itself.”
7 Ansgar Nünning, Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion, in: Literatur und Gechichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp, Berlin 2002, S. 540-569, hier S. 547.
8 Auch Ansgar Nünning weist in seinem Artikel Mimesis des Erzählens darauf hin, dass die metanarrativen Kommentare des Erzählers, d.h. die „Thematisierung des Erzählvorgangs“ nicht mit der Metafiktion verwechselt werden soll. Denn nicht alle metannarativen Kommentare haben einen illusionsdurchbrechenden Effekt: „Gerade das Konzept der Erzählillusion verdeutlicht, daß metanarrative Äußerungen keineswegs die ästhetische Illusion stören müssen, sondern im Gegenteil mit ihrer Akzentuierung des Akts des Erzählens eine eigenständige Art von Illusionsbildung begünstigen und eine entsprechend andere „Naturalisierungsstrategie“ nahe legen können.“ S.33.
9 Wolfgang Iser, Möglichkeiten der Illusion im historischen Roman (Sir Walter Scotts Waverley) in: Hans Robert Jauss (Hrsg.) Nachahmung und Illusion, München 1964, S. 135-156, hier S. 156.
10 Vgl. dazu Gérard Genette, Die Erzählung, München 1998, S.168: „Jedes Eindringen des extradiegetischen Erzählers ins diegetische Universum bzw. diegetischer Figuren ins metadiegetische Universum zeigt eine bizzare Wirkung, die mal komisch ist, mal phantastisch.“
11 Borges, Magies partielles du Quichotte, Oeuvres complètes, I, S.709, zitiert nach Gérard Genette, Discours du récit, Paris 1972, S. 246: „De telles inventions suggèrent que si les personnages d’une fiction peuvent être lecteurs ou spectateurs, nous, leurs lecteurs ou spectateurs, pouvons être des personnages fictives.“
12 Genette, Discours du récit, S. 245: „Tous ces jeux manifestent par l’intensité de leurs effets l’importance de la limite qu’ils s’ingénient à franchir au mépris de la vraisemblance, et qui est précisément la narration (ou la représentation) elle-même; frontière mouvante mais sacré entre deux modes: celui où l’on raconte, celui que l’on raconte.“
13 Siehe dazu Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, München 1972.
14 Ebenda, S. 40.
15 Helmut Kiesel, Literarische Trauerarbeit. Das Exil- uns Spätwerk Alfred Döblins, Tübingen 1986, S. 291.
16 Vgl. dazu David Lodge, Mimesis and Diegesis in Modern Fiction, S. 369: „ [...] metafiction has been particularly useful as a way of continuing to exploit the resources of realism while aknowledging their conventionality.“

3.8. Roman und Erkenntnis

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS
INST

For quotation purposes:
Adriana Cutieru
: Die Erzählbarkeit der Geschichte. Metanarrative und metafiktionale Reflexionen in Alfred Döblin historischem Roman November 1918 - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/3-8/3-8_cutieru.htm

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