Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Februar 2010 |
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Sektion 3.8. | Roman und Erkenntnis Sektionsleiter | Section Chair: Jürgen Heizmann (Montréal) |
Jürgen Heizmann (Montréal) [BIO]
Email: jurgen.heizmann@umontreal.ca
„Ein Buch wie seinesgleichen derzeit die Welt nicht hat.“ So der syntaktisch etwas schräge, doch jubelnde Kernsatz einer der ersten Rezensionen zu Thomas Manns Roman Doktor Faustus, der im Oktober 1947 in der Schweiz erschien. Die Würdigung, die aus der Feder des bekannten Essayisten Max Rychner stammte, gab den Ton an für die begeisterte Aufnahme, die das Buch − von Thomas Mann als sein „wildestes“, als sein Parsifal bezeichnet − in den folgenden Dekaden finden sollte. Rezensenten wie Literaturwissenschaftler fanden an dem Spätwerk rühmenswert, wie es die Lebensgeschichte und künstlerische Entwicklung des Komponisten Adrian Leverkühn mit dem Massenwahn des Nationalsozialismus verband. Der kalte, mit dem Teufel im Bunde stehende Artist als Repräsentant des Zeitgeists, die Verquickung von Geschichtsphilosophie, Mythos und musikalischer Ästhetik, überhaupt die Neigung zur Essayistik: das waren in der Regel die Aspekte, die an Manns „Schmerzenswerk“ als genuin modern empfunden wurden.
Ex negativo wird diese Bewertung noch durch die wenig ablehnenden Kritiken bestätigt, auf die der Roman vor allem in den USA stieβ. Philosophische Überfrachtung, Gedankenschwere und Pedanterie warf man dem Roman vor, und ein Kritiker spottete über die musikalischen Partien, für die bekanntlich Theodor Adorno verantwortlich zeichnete, ein Leser könne sie nur dann verstehen, wenn er eine Symphonie geschrieben oder die New Yorker Philharmoniker dirigiert habe. In der Tat, das kann ich aus meiner eigenen Heidelberger Studienzeit berichten, waren es in Germanistikseminaren immer die besonders beflissenen, etwas bleichgesichtigen, in der Regel mit Vollbart ausgestatteten Oberseminaristen, die sich über die Entsprechung von Zwölftonmusik und Romanstruktur im Faustus in einem kabbalistischen Geheimcode unterhielten, der normalsterbliche Studenten alt aussehen lieβ.
Doch wie positiv oder mäkelnd man auch immer das vermeintliche intellektuelle Schwergewicht des Romans bewertete: seine Bedeutung, das zeigt die Rezeptionsgeschichte, wurde am Gehalt gemessen. Man bemühte Thomas Manns Tagebücher, Kierkegaard, Nietzsche, Adorno und Benjamin, um die Affinität zwischen Leverkühns musikalischem Schaffen und dem Faschismus nachzuweisen. Lieβen sich Kritiker und Philologen von der fraglosen Wortgewalt Thomas Manns blenden? Lähmte der brillante Stil ihre kritische Reflexion, so dass sie diese eigentümliche Verquickung von Gotik und Syphilis, von Beethoven und Massenwahn, Nietzsche und Teufelsspuk für bare Münze nahmen? Folgten sie alle willig Manns Eigeninterpretationen, die er in der Schrift Die Entstehung des Doktor Faustus verbreitet hatte? Wenn man sich nämlich die gedanklichen Konzeptionen des Werks auf ihre Stringenz hin ansieht − dann kann man nur den Kopf schütteln. Sie sind so schrullig und verschroben wie manche der Figuren in diesem Roman. Die alles andere als völkische Zwölftonmusik Leverkühns und der Nationalsozialismus sind einander wesensfremd, im Dritten Reich wären diese Kompositionen wie alles Modernistische als entartete Kunst gebrandmarkt worden, so dass die Parallelisierung mit dem Rausch des deutschen Volks absurd erscheint. Auch hatte der faschistische Terror eher mit Krupp und Zyklon B zu tun als mit altfränkischer Spitzgiebeligkeit und Butzenscheibendämmerlicht. Nein, zur Erklärung des deutschen Massenwahns taugt Doktor Faustus nicht, dazu ist das Buch zu sehr in der Spätromantik verwurzelt. Die Dämonisierung des Hitlerregimes bot den Deutschen sogar eine Art Ausflucht und überhöhte ein kleinbürgerliches Mordgesindel, das in Wahrheit nur banal war und sich an die Dienstvorschriften hielt.
Uns Heutigen kann Thomas Manns Roman aufgrund seines Gehalts kaum als modern gelten. Doch auf Modernität war Mann bei der Konzeption seines Werks durchaus bedacht. Wie alle ernsthaften Romanciers des frühen 20. Jahrhunderts stand auch er im Bann jener 1922 in einer kleinen Pariser Buchhandlung erschienenen „novel to end all novels“. Die Rede ist natürlich vom Ulysses des groβen Iren James Joyce, der gleich einem Wirbelsturm die Romanlandschaft der westlichen Welt veränderte. „Mein Vorurteil war“, so Thomas Manns Bekenntnis in der Entstehung des Doktor Faustus, „dass neben Joyce’s exzentrischem Avantgardismus mein Werk wie flauer Traditionalismus wirken müsse.“ Der traditionelle Roman: dazu gehörten der Abbildrealismus des 19. Jahrhunderts, die ungebrochene Präsentation von Geschichten und die weite Perspektive eines allwissenden Erzählers. Eine der entscheidenden Veränderungen, die das Genre im 20. Jahrhundert erfuhr, war der erzählerische Zugriff auf die Welt. Nicht zufällig trägt Adornos knappe aber grundlegende Auseinandersetzung mit den modernen Formen der epischen Groβgattung den Titel: „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman.“ Traditionell realistische Romane lenken von ihrer Künstlichkeit ab. Sie sind bemüht, ihre fiktionale Welt auf eine Weise zu präsentieren, als handle es sich um die empirische Wirklichkeit. Erreicht wird dies in der Regel durch die Suggestion, es gebe keinen narrativen Diskurs, sondern nur die dargestellten Ereignisse, die Story. Realisten sind, um ein Aperçu Maupassants in den Vorbemerkungen zu seinem Roman Pierre et Jean aufzugreifen, Illusionisten. Wird die reine Immanenz der Darstellung einmal durch Reflexionen unterbrochen, so dienen diese der moralischen Beurteilung eines Charakters oder haben − allgemein gesprochen − explikative Funktion. In seinem Hinweis auf die neue Art der Reflexion im modernen Roman bezieht Adorno Thomas Mann ausdrücklich mit ein: „Die neue [Reflexion] ist Parteinahme gegen die Lüge der Darstellung, eigentlich gegen den Erzähler selbst, der als überwacher Kommentator der Vorgänge seinen unvermeidlichen Ansatz zu berichtigen trachtet. Die Verletzung der Form liegt in deren eigenem Sinn. Heute erst lässt Thomas Manns Medium, die enigmatische, auf keinen inhaltlichen Spott reduzierbare Ironie, sich ganz verstehen aus ihrer formbildenden Funktion: der Autor schüttelt mit dem ironischen Gestus, der den eigenen Vortrag zurücknimmt, den Anspruch ab, Wirkliches zu schaffen“.
Diesem erzählpoetologischen Hinweis ist man in der Faustus-Forschung nicht gefolgt, so dass Jürgen H. Petersen in seiner jüngst erschienenen Streitschrift zu diesem Buch von eklatanter Textverfehlung spricht, die sich den Blick für die Modernität dieses Romans verstellt (130) habe. In der Tat ist es die Erzählposition, in der die Bedeutung dieses Romans zu suchen ist. Der Erzähler Serenus Zeitblom gibt sich als Biograph aus, der über Leben und Schaffen seines Freundes Adrian Leverkühn berichten will. Auch wenn der Paratext natürlich von einem Roman spricht, insistiert der Erzähler immer wieder auf seinem Status als Biograph:
„Dies ist kein Roman, bei dessen Komposition der Autor die Herzen seiner Personnagen dem Leser indirekt, durch szenische Darstellung erschlieβt. Als biographischer Erzähler steht es mir durchaus zu, die Dinge unmittelbar bei Namen zu nennen und einfach seelische Tatsachen zu konstatieren, welche auf die von mir darzustellende Lebenshandlung von Einfluss gewesen sind.“ (393) Nun ist diese Art der Fingierung nicht neu. Der Roman kann alles mögliche fingieren. Er ist ein Bastard, eine Gattung, die jede beliebige Form imitieren kann. Einer der ersten neuzeitlichen Romane, Robinson Crusoe, gibt sich als authentischer Bericht eines Schiffbrüchigen aus und nannte in der Erstausgabe nicht einmal den Namen des wahren Verfassers Daniel Defoe. Bei Mann ist die Fingierung jedoch so komisch und parodistisch, dass sie eben dadurch auf ihr Maskenspiel aufmerksam macht. Denn Zeitblom ist ein Biograph, der gegen alle Regeln der Biographie verstösst. Er ist nicht nur Erzählender, sondern auch Handelnder in dieser Lebensgeschichte. Und auch wenn er gleich im ersten Satz versichert, er wolle keineswegs seine Person in den Vordergrund schieben, so berichtet er doch immer wieder weitschweifig von sich selbst. Sätze wie die folgenden würden uns in einer ernst gemeinten Biographie sehr befremdlich erscheinen: „Mein Alter ist sechzig Jahre, denn A.D. 1883 wurde ich, als ältestes von vier Geschwistern, zu Kaisersaschern an der Saale, Regierungsbezirk Merseburg, geboren…“ Oder, zweites Beispiel: „… mein Vater, Wolgemut Zeitblom, war Apotheker, − übrigens der bedeutendste am Platze: es gab noch ein zweites pharmazeutisches Geschäft in Kaisersaschern, das sich aber niemals des gleichen öffentlichen Vertrauens erfreute wie die Zeitblom’sche Apotheke ‚Zu den seligen Boten’ und jederzeit einen schweren Stand gegen sie hatte.“ Es mag angesichts solcher Digressionen nicht verwundern, dass Zeitblom seinen Lebensbericht immer wieder durch autoreflexive Passagen unterbricht, in denen er die eigene Schreibkompetenz in Frage stellt. Gleich im ersten Abschnitt befürchtet er, beim Leser Zweifel zu wecken, „ob er sich auch in den richtigen Händen befindet, will sagen: ob ich meiner ganzen Existenz nach der rechte Mann für eine Aufgabe bin, zu der vielleicht mehr das Herz als irgendwelche berechtigende Wesensverwandtschaft mich zieht.“ (7) Dass dieser Erzähler vielleicht der rechte Mann nicht ist, seinen Gegenstand zu meistern, legt auch sein umständlicher barocker Sprachstil nahe. Wer Mitte des 20. Jahrhunderts den Hochzeitstag als „Opfer der Magdschaft“ (248) bezeichnet, den Brautschleier als „das weiβe Sterbekleid der Jungfräulichkeit“ (299) und den ersten Liebhaber einer Frau als den „Bezwinger ihrer Magdschaft“ (505); wer sich noch der alten Dativformen bedient: „Ich erzählte ihm von Helenen“ (251): der ist wohl doch reichlich zeitfremd.
Es spricht manches dafür, dass sich Thomas Mann bei seiner Entscheidung für diesen fingierten Biographen der erzähltechnischen Konsequenzen nicht in vollem Ausmaβ bewusst war. In der Entstehung des Doktor Faustus berichtet er zur Konzeption dieser Erzählerfigur:
„Zu welchem Zeitpunkt ich den Beschluβ fasste, das Medium des Freundes zwischen mich und den Gegenstand zu schalten, also das Leben Adrian Leverkühns nicht selbst zu erzählen, sondern es erzählen zu lassen, folglich keinen Roman, sondern eine Biographie mit allen Charakteristiken einer solchen zu schreiben, geht aus den Aufzeichnungen von damals nicht hervor. Gewiβ hatte die Erinnerung an die parodistische Autobiographie Felix Krulls dabei mitgewirkt, und überdies war die Maβnahme bitter notwendig, um eine gewisse Durchheiterung des düsteren Stoffes zu erzielen und mir selbst, wie dem Leser seine Schrecknisse erträglich zu machen.“ (164) Mann stellt hier die Behauptung auf, in der Er-Form sei der Autor mit dem Erzähler identisch und lässt nur dieses Erzählverfahren als Roman gelten, dem er dann eine nicht-fiktionale Gattung gegenüberstellt. Soviel dichtungstheoretische Unkenntnis ist denn doch verblüffend. Man darf hier vielleicht an ein − in einem anderen Zusammenhang geäuβertes − Wort Joseph Roths erinnern: „Er [Thomas Mann] hat die Gnade, besser zu schreiben, als er denken kann. Er ist dem eigenen Talent nicht geistig gewachsen.“ (Harprecht 780)
In der Tat ist Thomas Mann die Erzählerfigur Zeitblom unter der Hand so ausgewachsen, dass ihr weit mehr Bedeutung zukommt als nur für comic relief zu sorgen. Dieser Serenus Zeitblom ist nämlich ein äuβerst unzuverlässiger Erzähler, der uns die Subjektivität des Dargestellten immer wieder vor Augen führt. Schon seine immer wieder betonte emotionale Anteilnahme am Geschehen garantiert nicht eben einen kühlen Kopf. Dass es dem Biographen, wie er oben behauptet, gegeben sei, seelische Tatsachen direkt zu benennen, ist zudem natürlich reine Flunkerei. Nur fiktionale Literatur hat das Vorrecht, in das Innenleben Dritter direkt hineinzusehen. Doch Zeitblom täuscht immer wieder ein Wissen vor, das er nicht haben kann, berichtet en detail und angeblich wortgetreu über abendfüllende Gespräche, über intime Begegnungen, bei denen er nicht anwesend war und bietet dem Leser jene szenische Darstellungen, die nach seinem eigenen Bekunden doch nur dem Romancier vorbehalten sind. Schon bei Dostojewskis Chronisten wundert man sich zuweilen, wie sie an all ihre Informationen gekommen sind, doch Zeitblom ist ein wahrer epischer Hochstapler. Als Ines Institoris den Geiger und Frauenheld Rudolf Schwerdtfeger verführen will, liegt Zeitblom nicht als Beobachter unterm Bett und gibt darum zunächst vor, nicht darüber berichten zu können − um dann eben doch darüber zu berichten: „Nochmals, ich schreibe keinen Roman und spiegle nicht allwissende Autoreneinsicht in die dramatischen Phasen einer intimen, den Augen der Welt entzogenen Entwicklung vor. Aber soviel ist gewiβ, dass Rudolf, in die Enge getrieben, ganz unwillkürlich und mit einem ‚Was soll ich machen?’ jenem stolzen Kommando parierte.“ (439) Dieses „Aber soviel ist gewiβ“ ist nichts als Blendwerk, das Fakten vortäuscht, wo Fantasie waltet. An einer anderen Stelle schreibt Zeitblom: „Was nur zwei Tage nach dem geschilderten, mir denkwürdigen Ausflug zwischen Adrian und Rudolf Schwerdtfeger sich abspielte, und wie es sich abspielte, − ich weiβ es, und möge man zehnmal den Einwand erheben, ich könne es nicht wissen, da ich nicht ‚dabeigewesen’ sei. Nein, ich war nicht dabei. Aber heute ist seelische Tatsache, dass ich dabeigewesen bin, denn wer eine Geschichte erlebt und wieder durchlebt hat, wie ich diese hier, den macht seine furchtbare Intimität mit ihr zum Augen- und Ohrenzeugen auch ihrer verborgenen Phasen.“ (576) Diese Argumentation wird man kaum ernst nehmen können. Zeitblom versucht durch allerlei Rabulistik immer wieder darüber hinwegzutäuschen, dass er ständig seine Kompetenzen überschreitet und sich in Spekulationen ergeht. Auch Leverkühns Begegnung mit dem Leibhaftigen ist eine solche Spekulation, die sich wohl nur einer Fieberphantasie des syphilitischen Komponisten verdankt, von Zeitblom nach anfänglichem Zögern jedoch als Fakt präsentiert wird. Bei einem solch unzuverlässigen Erzähler kann man sicher nicht von einer objektiven Darstellung des Geschehens sprechen. Der Roman lässt sich darum auch mitnichten auf eine message reduzieren. Alle Interpreten, die durch Heranziehen musikästhetischer, mythologischer und geschichtsphilosophischer Kontexte versucht haben, ihn auf Eindeutigkeit festzulegen, haben seine Textgestalt verkannt, der vielmehr jene Vieldeutigkeit und Offenheit zu eigen ist, die Umberto Eco als Kennzeichen des modernen Kunstwerks bestimmte.
Aber es liegt noch mehr in dieser Erzählfigur Zeitblom. Ihre ausufernden Reflexionen sind, mal offen, mal ironisch-verdeckt, metafiktionale Passagen, die uns, gerade entgegen aller abstrusen Beteuerungen Zeitbloms, ins Bewusstsein rufen, dass wir es hier mit einer Fiktion zu tun haben. Zeitbloms argumentative Schaumschlägerei macht dabei immer wieder auf die erzählerischen Gesetze der Fiktion aufmerksam. Denn natürlich kann dieser erfundene Erzähler, in welcher Rolle auch immer er auftritt, alles wissen, weil sowieso alles erfunden ist. Thomas Mann treibt diesen Jux soweit, dass er Zeitblom selbst noch da mit seinem Wissen prunken lässt, wo es gar nicht nötig ist. „Zweifelt irgend jemand, dass ich, was zwischen Rudolf und Marie Godeau sich abspielte, in derselben Wörtlichkeit wiedergeben könnte, wie das Gespräch in Pfeiffering? Zweifelt jemand, dass ich ‚dabeigewesen’ bin? Ich denke nicht. Aber ich denke auch, ein genaues Ausbreiten des Vorgangs ist für niemanden mehr erforderlich, oder nur wünschbar.“ (587) Tatsächlich verzichtet Zeitblom hier auf die Ausmalung der Szene, aber wir zweifeln natürlich nicht daran, dass er sie in allen Farben ausmalen könnte. Zeitbloms Intimität mit den Figuren der Geschichte ist ein Hinweis auf den Erfinder des Ganzen, den auctor, den Schöpfer, der seine Puppen, zu denen auch der Erzähler gehört, bestens kennt und sie nach Gutdünken agieren lässt. Die zahlreichen selbstreflexiven Aussagen Zeitbloms lenken die Aufmerksamkeit auf den Schreibprozess, auf die Künstlichkeit, das Erfundene des Textes. Gleich auf der zweiten Seite des Werks offenbart Zeitblom, der sich uns noch eben als Biograf präsentierte, seinen Kunstwillen und vergleicht den Aufbau seiner Aufzeichnungen mit der Kompositionstechnik Leverkühns: „Hier breche ich ab, mit dem beschämenden Gefühl artistischer Verfehlung und Unbeherrschtheit. Adrian selbst hätte wohl kaum, nehmen wir an: in einer Symphonie, ein solches Thema so vorzeitig auftreten − hätte es höchstens auf eine fein versteckte und kaum schon greifbare Art von ferne sich anmelden lassen.“ (8) An dieser wie an manch anderer Stelle wird deutlich, dass die Metafiktionalität im Doktor Faustus nicht allein der Illusionsdurchbrechung dient, sondern auch der poetologischen Reflexion und dem ästhetischen Selbstkommentar. Bereits der Erzähler in der Josephs-Tetralogie macht immer wieder auf das Fiktive seiner Darstellung aufmerksam, und in dem Roman, der auf den Faustus folgte, in Der Erwählte, führt Mann dieses Erzählverfahren konsequent fort. Nach der Eingangsbeschreibung eines gewaltigen Geläuts aller Glocken Roms lesen wir: „Wer läutet die Glocken? Die Glöckner nicht […] Wer also läutet die Glocken Roms? − Der Geist der Erzählung. Er ist der spricht: ‚Alle Glocken läuteten’, und folglich ist er’s, der sie läutet.“ (10) Hier wird nicht nur sofort der Rahmen der Fiktionalität durchbrochen, hier findet auch eine Feier des Erzählens statt: Am Anfang war das Wort des Erzählers, und aus dem Wort wurde Geschehen. Durch seine Ironisierung des Vortrags gelingt es Mann, sich das stolzeste Erbteil der groβen Epik, den homerischen Götterblick des allwissenden Erzählers zu bewahren, wobei er den Leser zugleich immer wissen lässt, dass dieser olympische Blick im 20. Jahrhundert an sich nicht mehr möglich ist.
Der groβe Zampano Thomas Mann feiert sich dabei auch selbst ein wenig, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Regiearbeit des Schreibenden, zuweilen, indirekt, auf dessen Wirklichkeit. Wer sich mit autobiographischen Spuren in Manns Werk befasst, müsste darum auch diese selbstreflexiven Passagen berücksichtigen.
Es ist die Metafiktionalität, die die Modernität des Doktor Faustus und des gesamten Spätwerks Thomas Manns ausmacht. Dabei wird eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem Roman des 20. Jahrhunderts und den Anfängen neuzeitlicher Erzählkunst ersichtlich. Denn während das 19. Jahrhundert Kunst vor allem als Imitation des Lebens begriff, dominiert sowohl im 18. als auch im 20. Jahrhundert die Konzeption von Kunst als Artefakt. So kann man Thomas Mann als Romancier sehen, der eine Brücke zwischen Tradition und Modernismus zu schlagen versucht. Die Krise des Romans führt bei ihm zum Spiel mit der Form, aber nicht zu deren Destruktion, führt nicht zur Auflösung des plots, zum sprachlichen Kryptogramm oder zur Flucht in die Authentizität: vielmehr versucht er, die Qualitäten, auch und gerade die unterhaltsamen Qualitäten des Erzählens zu bewahren, ohne den konstruktiven Charakter des Schreibens zu kaschieren. Mit Fug darf man ihn darum als Vorläufer postmoderner Romankunst bezeichnen. Denn nachdem manche modernistische Romanexperimente zusehends alle erzählerischen Konventionen über den Haufen warfen, versuchen postmoderne Romanciers, an diese Konventionen wieder anzuknüpfen. Nicht naiv, sondern im Schillerschen Sinn sentimentalisch. Die Metafiktionalität ist dabei zu neuer Blüte gekommen, zumal das Verhältnis von Realität und Fiktion in den letzten Dekaden gehörig ins Wanken geriet. In der heutigen Konstellation wäre vorstellbar: ein Buch, das den Doktor Faustus und Die Entstehung des Doktor Faustus, den Roman und den Roman eines Romans miteinander verschmilzt. Dies wäre in der Tat ein wildes Buch, vielleicht schon Götterdämmerung.
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