Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Februar 2010 |
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Sektion 3.9. | Gibt es ein Politisches Theater des 21. Jahrhunderts? SektionsleiterInnen | Section Chairs: Tobias Sosinka (Berlin) und Birgit Fritz (Universität Wien) |
Nicht vergessen, nicht gewöhnen. Performative Ästhetik einer zeitgenössischen Choreographie.
Martina Gimplinger (Universität Wien) [BIO]
Email: martina@hurtig.ch
„Trotz Kriegen, Revolutionen und Regimes gibt es Menschen, die verrückt genug sind, zu hoffen, dass die erbärmliche Kunst es mit den gigantischen Scheußlichkeiten des Lebens aufnehmen kann“ (1)
Im Juni 2001, nach acht Jahren des Exils kehrt der Theatermacher, Tänzer, Choreograph und Intellektuelle Faustin Linyekula in seine kongolesische Heimat, direkt ins Zentrum des Zusammenbruchs zurück. In Kinshasa gründet er die Studios Kabako, die sich als ein Labor verstehen, als ein Ort, „an dem man Zweifel hat, wo man immer auf der Suche nach sich selbst ist und manchmal fündig wird“(2), wie es der Gründer selbst formuliert. Es geht darum einen Raum zu schaffen – einen Raum der Begegnung, der Debatte und des künstlerischen Austausch. In diesem Sinne ist Tanz, Theater, Literatur, die Kunst schlechthin, das unermüdliche bemühen des Menschen, selbst eine Ordnung der Wirklichkeit zu erschaffen. Gibt es inmitten dieser Geschichten von Gewalt und Diktatur noch Freiräume, noch Plätze für Träume? Kann man in so einem geschlossenen Raum der Diktatur Fenster öffnen – für alternative Raumordnungen? In neue Räume? Diese schaffen und sie erhalten? Das Eröffnen von Räumen, in denen man selbständig denken kann, in denen man träumen kann? So abstrakt das Verlegen der Neonröhren in Festival der Lügen(3) beim ersten Eindruck wirken könnte, es liegt darin eine Dringlichkeit, eine Bedrückung. Ein Versuch, Raum zu gestalten, der einem keine Chance lässt. Da ist der Raum. Da ist der Körper. Und da ist die Beziehung zwischen beiden. Ein Versuch dem Form zu geben, was noch keinen Namen hat. Das Gestalten und Rahmen des Raums wird zum Experiment und zugleich erzählt es von der Geschichte eines Landes, in dem Faustin Linyekula lebt. In Le Festival des mensonges – wie er die Geschichte seiner Heimat ironisch betitelt – rollt Faustin Linyekula die Geschichte seines Landes rückwärts auf. Beginnend mit der jüngsten bis hin zu König Leopolds Geistern. Kleine Geschichten beanspruchen in der großen ihren Platz und ihr Recht auf Sprache. Ins Vergessen gehüllte Geschichten blitzen für Momente wieder auf. Er verschiebt sie, deplaziert sie, wodurch sie eine andere Bedeutung annehmen. Dabei streift Faustin Linyekula Fragen nach den ideologischen Gründen für das Ausblenden der Alternativen, die er in den Bühnenraum zurückholt. Der zeitgenössische Tanz will nicht repräsentieren, sondern durch Bewegung Unzugängliches präsent machen. Dabei kreist die Bewegung immer um die Abwesenheit, die im Spalt zwischen der subjektiven Erfahrung des Tänzers – seiner Geschichte – und der theatral vermittelten Erfahrung entsteht.
„Walter Benjamin commented that historical reconstruction and cultural criticism should aspire to honor the ‚memory of the nameless’. More than this, I want to use this impulse to raise a series of questions about the relationship between the body, language, memory. How does the body become a medium and a fleshy canvass through and on which belonging and structures of feeling are expressed?”(4)
Das Wissen des Körpers, die Geschichte die er in sich trägt und die an ihm nagt wird in Faustin Linyekulas TanzTheaterPerformance wie eine Art Material behandelt, das bearbeitet, verändert, entfremdet und deplaziert wird, in einem bestimmten Raum, in einer bestimmten Zeit. Der Tanz ist hier ein Mittel, um die Erinnerung des Körpers wiederzuerwecken. Alle Kriege und Diktaturen sind uns im Fleisch eingegraben, sagt der Tänzer Faustin Linyekula. Die Geschichte sei im Fleisch eingegraben, etwa wie die belgischen Kolonisateure den Kongolesen, die zu langsam arbeiteten, die Hand abschlugen und sie als Trophäe zeigten. (5) Vor allem in Le Festival des mensonges werden historische Figuren, wie beispielsweise Leopold II. sowie bestimmte Handlungen und Entwicklungen in der Geschichte, die etwa unter dem Deckmantel von Fortschritt und „Zivilisierung“ ihre Legitimation erhielten, als Tyrannen beziehungsweise Ideologien entlarvt und entmystifiziert.
Was bedeutet „leibhaft“? Was haftet am Leib und wie wirkt dieses Etwas? „Leibhaft“ macht die Vergesslichkeit zuallererst zu einer körperlichen Angelegenheit. Der Körper vergisst, wenn man ihn nicht kennzeichnet, ihn mit Markierungen versieht. Was sollen diese Markierungen, Einschreibungen erinnern? Sollen sie den Schmerz ihrer Einschreibung erinnern? Diese unmittelbare, körperliche Narben- Schrift bedeutet nicht, sie wirkt, da ihre Zeichen sich einer narrativen Ordnung widersetzen. „Unheimlich vertraut wirkt der Körper als Gedächtnis, weil er an seiner Oberfläche das Geheimnis seiner Narbenschrift trägt, die keinen Sinn hat, außer das Erinnern zu erinnern.“ (6) Im selben Maße wirkt der Körper auf der Bühne, der Körper im Theaterraum- da seine Formbarkeit sichtbar wird. Wenn der Körper zum Zeichen gemacht, zur Figur geformt wird, wenn in ihn Zeichen eingeschrieben werden, ist das nicht ohne Gewalt möglich. Dieses Einschreiben, dieses Formen gehört zum wesentlichen Prozess der theatralen Arbeit. Ein Prozess, der den Körper zum Zeichen macht, seine Gewaltsamkeit während des Formens jedoch meist hinter einer fertigen Rolle verbirgt. Was zählt, ist nur das Resultat, die fertigen dramatischen Figuren. Was zählt, ist das Agieren der fertigen Zeichen mit- und gegeneinander auf der Bühne, nicht der Prozess ihrer Entstehung. Diesen (gewaltsamen) Entstehungsprozess gilt es als ästhetischen Verstehungsprozess für mein Verständnis von Gedächtnis, Körper und Theater zu reklamieren.
„Der Körper wirkt, weil er immer verwundbar, mithin zerstückelbar, ist und sich dies über die offenen ‚Wunden’ wunder- sam überträgt. Wenn er als individueller im Schutzraum der Bühne hinter der Maske der Rolle sichtbar wird, so trägt er seine ganze Geschichte in den öffentlichen Raum hinein. Sein Körpergedächtnis wird zum Gedächtniskörper an das nicht subsumierbare Besondere innerhalb der gesellschaftlichen Rahmungen. Diese potentiell immer gegebene, in vielen Inszenierungen auch tatsächlich ausgespielte (in der Doppelbedeutung von zum Tragen kommen und nicht mehr spielen) Verbindungen des Körpers zum Schmerz öffnet das geschlossene Imaginäre der Bühne auf das Reale hin, das die Totalität des Bildes als Gedächtnis unterläuft.“ (7)
Der Körper wirkt durch die Möglichkeit des Schmerzes der Totalität des hermeneutisch geschlossenen Bildes entgegen. Dem Theater gelingt es als Gedächtnis des Körpers der Entmaterialisierung der Zeichen entgegen zu wirken, die uns die gewalttätigen, zeitgenössischen Bilderwelten auf Bildschirmen so attraktiv und ungefährlich erscheinen lassen. Das Bildschirmbild kostet uns nichts, weil wir von ihm abgeschirmt sind, das körperliche Theaterbild aber vermittelt uns zumindest eine Ahnung von der realen Möglichkeit des Schmerzes, die aufgrund der anwesenden Körper im Raum immer gegeben ist. Die anwesenden Körper auf der Bühne einer zeitgenössischen Theaterproduktion sind nicht mehr Träger fertiger, geschlossener Subjektentwürfe. Es sind bewegte Körper, Körper in Bewegung. Durch das Vergehen der Bewegung, die sich in ihrer Flüchtigkeit ständig neu hervorbringt, schreibt sich die Abwesenheit in die Bewegung selbst ein. „Der Verlust der Orientierung und damit des aufrechten axialen Körpers des Balletts führt zu seiner Umschreibung als abwesendem Körper“ (8), beschreibt der deutsche Theaterkritiker Gerald Siegmund die Körper auf der Bühne. Diese Körper sind unlesbare Körper, man kann sie nicht mehr codieren, weil sie zu viele uneindeutige Schriften in sich vereinen, die sich im Prozess der ständigen Neuartikulation auslöschen. Diese Form der Subjektivität verweist auf ihr Unfertiges, auf ihre Unabgeschlossenheit im Selbstentwurf. Sie verlässt sich nicht und kennt keine vorgängige Selbstgewissheit. Sie hat ein Verständnis vom Selbst als ein unvollendetes Projekt, das keine bestimmbare, fixe Identität annimmt. „In einem prinzipiell offenen Prozess bringt sich das Ich immer wieder neu und anders hervor, entwirft Alternativen zu bereits gemachten Entwürfen, ohne dass dabei eine letztgültige Form festzulegen wäre.“(9)
Faustin Linyekula- zeitgenössischer Tänzer und Choreograph- versucht sich seines Namens zu erinnern. Die Geschichte eingeschrieben in seinen Körper. Geboren in einen neu erdachten Raum: Heute Zaire, morgen Kongo. Geboren in einen Raum und eine Zeit der Diktatur. Faustin Linyekulas entgleitende Erinnerungen. Zwischen Mobutus 32 Jahre andauernder Diktatur und Kabilas Demokratischer Republik Kongo. Mit seinen Theaterstücken tritt er den Versuch einer Erinnerung an und verführt gleichzeitig uns als Zuseher zu einem Akt der Erinnerung. Die Arbeit an der Erinnerung oder auch Arbeit an dem Bild der Geschichte ist ein Prozess in Bewegung, bei dem kollektives und individuelles Bewusstsein ständig interagieren. Verdrängen. Vergessen. Erinnern. Die Geschichte Belgiens ist die Geschichte Kongos und umgekehrt. Erinnern ist ein gewaltsamer Akt. Im Sinne von Michel Foucault und Walter Benjamin entwirft Faustin Linyekula in seinem TanzTheater einen Gegen-Gedächtnisraum, in dem das auf die Szene dräng, was sonst ausgegrenzt und verdrängt bleibt. Die ästhetische Wirkung vermag ein „Mehr“ an Sinn zu erzeugen, wodurch das ausgegrenzte Heterogene im Zwischenraum von Bühne und Zuschauerraum aufblitzen kann. Meine rezeptionspsychologischen Überlegungen gehen davon aus, dass de Rezipient im Verweis auf seine eigene sinnliche Erfahrung das Wahrgenommene speichert und ins Gedächtnis einschreibt. Er wird zu seinem eigenen Erfahrungsinstrument. Im Blick über den Zuseher und Performer zusammen geschlossen sind, schwingt ein asymmetrisches Kräfteverhältnis mit. Was ich sehe blickt mich an und setzt meinen eigenen Subjektivitätsentwurf mit aufs Spiel.
Das von mir, durch mein be- trachten auf der Bühne zum Objekt gerahmte Subjekt wirft Blicke zurück in den Zuschauerraum. Es kommt zu keinem reibungslosen, reziproken Austausch zwischen Betrachter und Objekt. (10) Blinde Flecken, erzeugt durch Positionen, die Betrachter und Betrachtetes nicht gleichzeitig besetzen können, schreiben sich der Seherfahrung auf beiden Seiten gleichermaßen ein. Der Körper auf der Bühne ist eigentlich noch kein Subjekt, er ist nicht mehr Träger einer bestimmten zu codierenden Rolle, sondern Artikulationsmedium seiner Energien, Emotionen und Wünsche. Es handelt sich um Subjekte, die ihre Geschichte erst entwickeln- hin zu einer möglichen Identität. Als solche inszenieren und figurieren auch sie als handelnde Subjekte die Abwesenheit, die uns anblickt, um uns als Subjekte auf verschiedenen Ebenen ins Spiel zu bringen. Das Objekt auf der Bühne beansprucht gleichermaßen Recht auf sein Dasein als Subjekt- das noch kein Subjekt ist- und als solches blickt es uns an und stellt uns als geschlossenes identisches Subjekt infrage. Es fügt dem Bild eine (Ver-)Störung zu, in dem es die Wahrnehmungssituation bewusst macht. Eine Wahrnehmungssituation, in der mir die Dinge nie vollständig gegeben sind, weil sie aus einer Abwesenheit heraus erscheinen. Das Gesehene ist mir immer nur von einer Seite aus perspektivisch zugänglich. Die Kommunikationssituation zwischen Zuschauerraum und Bühne kann also immer nur eine asymmetrische sein, die eine Dezentrierung sowohl der Seherfahrung als auch des Subjekts bewirkt:
„Es ist nicht länger das Publikum, das Bilder auf den Körper des Tänzers projiziert. Es ist jetzt der Tänzer auf der Bühne, der fragmentierte und ungesehene Bilder von sich selbst an das Publikum zurückspielt und dadurch den scheinbar stabilen Blickwinkel des Publikums, der für das Erfassen und Reduzieren seines Körpers zum Bild verantwortlich ist, (zer-)stört.“ (11)
Positioniere ich mich selbst aber als zentrales, makelloses, in- sich- geschlossenes Subjekt, so wird mein Blick auf den Anderen immer ein Blick sein, der außerhalb der Dezentralisierung und Zerstreutheit des Anderen steht. Der Andere wird zum Objekt, während mein Blick von außerhalb ein totales Bild entwirft. Solange das Selbst nicht seine eigene Verstreutheit in den Blick hereinnimmt, eigene Erfahrungen erinnert, kann kein offenes Bild vom Anderen aufflackern. Um das Hereinnehmen der eigenen Verstreutheit in den Blick zu provozieren und zu evozieren muss auf geschlossene, sofort und gänzlich zu codierende Rollenfiguren verzichtet werden.
Die Choreographie erzählt keine lineare Geschichte mehr und vermittelt sie, nach dramaturgischen Gesichtspunkten, den Zusehern. Mit der Bewegung im Raum wird eine Beziehung etabliert zwischen den Tänzern und den Zuschauern. Die Bühne wird zum Ort der Teilhabe, die Theaterperformance zur gemeinsamen Erfahrung, erzeugt durch die ungeteilte Anordnung des Theaterraums, die bewegten Körper, den sich ständig verändernden Raum. Ähnlich wie die Heimat des Choreographen ein sich ständig verändernder Raum ist, der mit jeder Erinnerung zu entgleiten droht. Faustin Linyekulas Theaterraum befriedigt die Bedürfnisse eines spektakelverwöhnten Publikums nicht. Die einzelnen Elemente der Tanzperformance fügen sch nicht mehr zu einem einheitlichen Bild zusammen, sie halten seine und unsere Wunden offen.
„Der letzte Moment in einem Stück muss eine Frage sein, das letzte Wort ein Beginn, eine sich öffnende Tür.“ (12)
Ich werde Zeugin einer anderen Wirklichkeit und des Versuchs sie erfahrbar zu machen. Ich sehe nicht nur was auf der Bühne passiert, ich mache eine Erfahrung damit. Und darin liegt das politische und emanzipatorische Potenzial, das durch eine solche selbstreflexive Struktur evoziert wird. Die performative Ästhetik, derer sich der Choreograph und Tänzer bedient, die Bewegungen, Klänge und Bilder, die zwischen den intimen Geschichten aufblitzen, öffnen Fenster zum eigenen Ich.
„Going on stage: an attempt to remember my name. Trying to show a body that refuses to die.”
Faustin Linyekula
Anmerkungen:
3.9. Gibt es ein Politisches Theater des 21. Jahrhunderts?
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last change: 2010-02-16