TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Februar 2010

Sektion 3.9. Gibt es ein Politisches Theater des 21. Jahrhunderts?
SektionsleiterInnen | Section Chairs: Tobias Sosinka (Berlin) und Birgit Fritz (Universität Wien)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Bürgerliche Öffentlichkeit - und (k)ein Ende?

Gedanken zum bürgerlichen Theater und dessen Funktion heute

Rainer Lewandowski (Bamberg, Intendant)

Email: rainer.lewandowski@t-online.de

 

Bürgerliche Öffentlichkeit - und (k)ein Ende?

Die Beantwortung dieser Fragestellung möchte versuchen, in historischen Zusammenhängen nachzuzeichnen, wie sich die Öffentlichkeit des Bürgertums in seiner eigenen medialen Form, dem Theater, zunächst herausgebildet hat, welche Funktion ihr historisch zukam und - als Gegenstück - Thesen darüber entwickeln welche Funktion ihr heute zukommt unter dem Einfluss der sie bedrängenden und verändernden Entwicklungen der Medien und ihrer Sende- und Verbreitungsformen.

Wir werden auf unserem gedanklichen Weg Themen streifen, die zunächst sehr disparat scheinen, aber ich hoffe, es gelingt trotzdem, die verbindenden oder trennenden Linien sichtbar zu machen.

Der Begriff Theater leitet sich von dem griechischen Wort ‚theatron’ ab, was soviel bedeutet wie ‚Schauplatz’? Das Wort Theater trägt also ursprünglich in sich schon die Bestimmung eines Ortes, eines öffentlichen Ortes, bezeichnet die Öffentlichkeit des Sehens und Gesehenwerdens.

Die Kunstgattung ‚Theater’ verbindet schon immer verschiedene Künste miteinander: Schauspiel, Bühnenbild, Kostüme, Masken, Tanz-, Sprache, Musik etc.

Entsprechend der Vielfalt der sich im Theater vereinenden Künste ist der Theaterbetrieb ein kleiner Kunst-Kosmos in sich. Der Großteil der Theaterarbeit findet zwar jenseits der öffentlichen Wahrnehmung statt, ebenso die Organisationsabläufe im Verwaltungs- und Techniksektor, öffentlich sind immer nur Aufführung und Kartenverkauf, aber Theater ist als eine darstellende Kunst, als eine darbietende immer auf Kommunikation gerichtet, eben auf Öffentlichkeit. Der Kommunikationsweg und das Kommunikationsergebnis, sprich: das Verständnis ist von der historischen Entwicklung der Kommunikationsmittel und dem historischen Bewusstsein der kommunizierenden Individuen abhängig. Und genau an dieser Abhängigkeit kristallisiert sich ein immer wieder aufkommendes Problem, das mit dem Begriff ‚Werktreue’ zu umschreiben ist, ein Kriterium, dass individuell so stark gewichtet wird, dass es über den Theaterbesuch entscheidet oder über das Fernbleiben, wenn man die Darbietung als zu ‚modern’ empfindet.

 

Was ist ‚Werktreue‘?

‚Werktreue’ tritt immer dann ein, wenn der individuelle Zuschauer individuell glaubt, auf der Bühne ein Stück so gesehen zu haben, wie er das Stück ‚kennt‘, genauer: wie er glaubt, es zu kennen, wie er es liest oder gelesen hat, wie er es schon einmal gesehen hat oder wie er sich an beides erinnert.

Um dieses Thema präziser zu fassen, betrachten wir zunächst Grundsätzliches, nämlich: Welche Vorgänge laufen beim ‚Theatersehen‘ überhaupt ab?

Wenn der Zuschauer eine Inszenierung sieht, dann ist die Inszenierung als das Ende eines Arbeitsprozesses und damit das Stück selbst, bereits durch die Phantasien mehrerer anderer (Regisseure, Bühnenbildner, Schauspieler) gefiltert. Das heißt, die Inszenierung, die Umsetzung auf eine bestimmte Bühnenrealisation hat den Ausgangspunkt, das Stück, den Stücktext, per se schon vielfältig verändert. Das ist der eigentliche Vorgang des Inszenierens.

Was geschieht dem gegenüber, wenn ich einen Text lese?

Der Lesevorgang ist immer individuell, d.h. das individuelle Ich interpretiert den Text im Lesevorgang mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln als Bezugsfolie: historische Kenntnisse, Vorwissen, Bildungsgrad, Lebenserfahrung, eigene Biographie. Das alles dringt - unbewußt - quasi ‚natürlich‘, d. h. unreflektiert, in den Lesevorgang mit ein und gestaltet ihn mit.

Im Unterschied zur Lektüre anderer Kunst-Gattungen gibt es in einem Theaterstück mit seiner dialogischen Textstruktur sehr viele unbeschriebene, zu erschließende, ‚unausgesprochene’ Wechselbezüge: zwischen den Personen, zwischen den Spielorten, in der Art und Weise, wie die Figuren miteinander reden, wie sie sich bewegen etc.

Das alles ergänzt sich der Leser - unbewußt - während seiner Lesephantasiearbeit selbst hinzu. Der Leser ‚versteht‘ einfach – oder auch nicht. Das Theaterstück hingegen hilft beim Verstehen einerseits mehr, die Sprache wird bereits ausgesprochen, andererseits aber auch weniger mit als epische Gattungen, z. B. durch fehlende Beschreibungen und Gedankenausformulierungen. In jedem Falle entsteht beim Lesen ein durch den Leser gefiltertes oder angereichertes individuelles, sehr subjektives Hirnprodukt.

 

Was ist ‚lesen’?

Lesen ist hinzufügen von Sinn. Ich füge beim Lesen ‚Sinn’ hinzu, mein Verständnis, meinen Sinn, nämlich den, wie ich die Buchstabenfolge - im Rahmen von gesellschaftlichen Konventionen, von intersubjektiven Vereinbarungen, von individuellen Erfahrungen - zu verstehen gedenke.

Das muss - und damit wird die Sache noch unübersichtlicher – das muss nicht unbedingt die Lesart sein, die der Autor vielleicht meinte.

Und damit kommen wir wieder zurück zum Problem der ‚Werktreue‘.

Der Sinn eines Satzes hängt - auch in einem Theaterstück - von einer Vielzahl von äußerlichen Faktoren ab, die sich im Falle Theater im Spiel, im Zusammen-Spiel ergeben und ergänzen. Diese Faktoren zu beobachten und zu analysieren ist die Arbeitsleistung des Regisseurs, der Schauspieler und des Zuschauers.

Es gilt z. B zu erkennen, wer sagt den Satz zu wem?

Wohin blickt die Person dabei?

Wohin blickt sie nicht?

An welche Position im Bühnenraum ist sie arrangiert?

Wie stehen - im wahrsten Sinne des Wortes - diese Personen zueinander?

Wie nah oder wie weit von anderen entfernt?

Ist der soeben gesprochene Satz ernst gemeint oder hat er vielleicht einen stummen Untertext aus der besonderen Gesprächssituation heraus, die eigentlich sogar das Gegenteil von dem meint, was da wörtlich im Buche steht?

Manchmal ist sogar wichtig, was nicht gesagt wird?

Zuschauen - wie Lesen auch - ist in jedem Fall richtige individuelle Arbeit, Geistesarbeit, Phantasieleistung.

Dadurch wird ‚Werktreue‘ offenbar weit vielschichtiger als man zunächst meinen möchte.

Denn – und das ist eine schiere zusätzliche Gemeinheit - nicht einmal der Text selbst, das einzige, an das man sich halten könnte, ist für sich eindeutig.

Ich möchte das an einem einfachen Satz demonstrieren:

‚Ich - gehe - jetzt - nach Hause.‘

So steht der Satz im Buch. Lesbar.

Was bedeutet er? Bedeutet er:

Ich gehe jetzt nach Hause.

Ich gehe jetzt nach Hause.

Ich gehe jetzt nach Hause.

Ich gehe jetzt nach Hause.

Und nun: Vorsicht! Erhöhter Schwierigkeitsgrad: Hat der Satz einen Untertext, d.h. eine darunter liegende, versteckte Bedeutung:

Untertext: ‚Welch ein Irrtum!‘:

[Tonhöhe bleibt gleich.] Ich gehe jetzt nach Hause...

Oder als beruhigende Lüge:

[Satzmelodie fällt gegen Ende ab.] Ich gehe jetzt nach Hause...

Welche dieser (und anderer) Bedeutungen des äußerlich gleich anzusehenden Satzes ist die passende , die ‚richtige’?

Das ist die zu treffende Entscheidung. Eine individuelle Entscheidung.

Lesen ist also von vorn herein immer schon Interpretation. Doch das merken wir gar nicht, wir geben unser ‚Verstehen’ scheinbar unbewusst dazu.

Beim Anschauen eines Theaterstückes nun werden viele solcher inhaltlichen Entscheidungen durch die Arbeit der Regie und der Darsteller vorgeleistet. Der Text erscheint gleich in der interpretierten Form und nimmt dem Zuschauer/-hörer gegenüber dem Leser viel Eigenarbeit ab. Aber dennoch ist diese Arbeit geleistet worden und in das Endprodukt eingeflossen. Allgemeines Verständnis beruht auf allgemeinen Konventionen.

Deshalb gilt: Eindeutige, allgemeingültige ‚Werktreue‘ sozusagen als objektiv einzufordernde Formen und Inhalte eines Textes kann es rezeptionsstrukturell gar nicht geben.

Dieser Sachverhalt wird gern vergessen und ungeprüft unter den kollektiven Konventionen traditioneller Vor-Interpretationen versteckt. Allzu gern meint man, so, wie ich das Werk kennengelernt habe, so, wie mir darüber berichtet wurde, so, wie ich es in der Schule gelesen habe, so, wie es im Schauspielführer beschrieben wird, so, wie ich es einmal aufgeführt gesehen habe, so ist es für mich, wenn ich es wiedererkenne, ‚werktreu‘.

Der vermeintliche Gegen-Begriff zur ‚Werktreue‘ wird gern als ‚Moderne‘ bestimmt.

Auch dieser Begriff ist nicht eindeutig, es gibt jeweils im sich verändernden historischen Zusammenhang betrachtet, verschiedene ‚Modernen‘, je nachdem auf welches ‚Ältere‘, Vorangegangene sich die Definition dessen, was jetzt das ‚Moderne‘ sein soll, bezieht.

Das ist ein Kerngedanke, denn er besagt, auch die ‚Moderne‘ wandelt sich.

Dieses Strukturphänomen zu akzeptieren hilft ein schlaglichtartiger, großflächig zusammenfassender Rückblick auf Entwicklungsphasen des Theaters oder theatralischer Vorgänge, der uns zu unserer Ausgangsfrage zurückführt.

Theater ist - ganz allgemein gesagt - ein sich ständig wandelndes Mittel oder Medium, mit Menschen und ‚Mit-Menschen‘ eine ‚Mit-Teilung‘ zu machen. Theater ist die unmittelbarste Ausdrucksform des dem Menschen innewohnenden Spieltriebes, des Triebes und der Fähigkeit, spielerisch Handlungsmodelle zu entwerfen und zu durchleben, ohne dass in ‚Realität‘ gehandelt werden muss, ohne dass leibhaftige Erfahrungen gemacht werden müssen. Theater ist ein hochorganisiertes ‚Gedanken‘-‚Spiel‘ von Menschen für Menschen, ein grundsätzlich öffentlicher Vorgang.

Dabei gibt es eine Arbeitsteilung. Es gibt Zuschauende und für Zuschauende Spielende.

Dadurch entrückt das Spielen für einen Teil der Beteiligten auf eine andere Ebene, nämlich weg von der direkten Aktion hin zum ‚Vorspielen‘ lassen, zum ‚Gedanken‘-Spiel, zum betrachteten ‚Probe-Handeln’.

Die menschliche Phantasie ist so beschaffen, dass für sie das unmittelbarste Ausdrucksmittel der Mensch selber ist, mit all seinen Fähigkeiten, mit seinem Geist, aber zugleich auch mit seinem Körper, seinen Gliedmaßen, seinen Sinnesorganen, seiner Stimme und was er sonst noch besitzt.

Diese Phantasie in Bewegung umgesetzt ist jenes ‚Probe-Handeln‘, ist die erste Voraussetzung zum nicht ins praktische Leben eingebundenen Spielen, zum Singen, Tanzen, Schau-Spielen, kurz: zum Theater.

Frühe Formen dieser theatralischen Phantasietätigkeit sind z.B. Opferrituale, ekstatische Tänze um das Feuer, rhythmisches Stampfen im Freuden- oder Trauertaumel. Diese Elemente sind zugleich auch frühe Formen des Theatralischen. Allerdings eine Form des Theaters, wie wir sie heute nicht mehr kennen. Die Anfänge dieses ‚Theaters‘ in prähistorischer Zeit sind ein ‚Theater‘ des Mitmachens. Spieler und Zuschauer sind eins. Spielen und Zuschauen sind identisch. Noch gibt es auf dieser Stufe der Entwicklung die Trennung zwischen Spieler und Zuschauer nicht. Was erlebt wird ist Kult. Der Nationalsozialismus und andere Regime haben z.B. mit ihren Aufmärschen und Paraden an diesen Kultmystifikationen angeknüpft.

Die Aufhebung der personellen Identität von Zuschauendem und Spielenden ist erst Folge einer späteren kulturellen Veränderung der Ausdrucksformen des Theaters, ist Ergebnis der Entwicklung gesellschaftlicher Arbeitsteilungen, wenn nicht mehr alle Menschen der Gemeinschaft benötigt werden, durch ihre Arbeit das Überleben der Gesellschaft zu sichern. Diese freigesetzten Kapazitäten konnten dann im Sozialgefüge andere Aufgaben erhalten, z. B. Künstler werden.

Auf dieser fortgeschrittenen Stufe der Arbeitsteilung beginnen die Rituale des Ur-Theatralischen sich in Formalisierungen umzuwandeln. Formgesetze entstehen, hohe Blüten der Kultur, für unseren europäischen Lebensraum im wesentlichen gebunden an die Entwicklung des griechischen Macht- und Kulturkreises.

Ans Ritual angelehntes chorisches Sprechen tritt neben neue technische Hilfsmittel (Kothurne, Masken), damit die Darsteller im weiten Rund des riesigen Amphitheaters besser zu hören und zu sehen sind. Darbietungsvoraussetzungen werden bedacht, strenge Formen des theatralischen Ablaufs festgelegt, Soziales mischt sich ein, z. B. nur Männer dürfen darstellen, auch die Frauenrollen.

Die strenge Trennung zwischen Zuschauer und Darsteller wird allmählich festgeschrieben, aber immer noch sucht diese Form des antiken Theaters seine Verbindung zu den urwüchsigen Gefühlen menschlicher Reaktionsfähigkeiten: zu Freude und Heulen.

Griechisches Theater ist trotz aller Formalisierung wesentlich gefühlsbetonter und ursprünglicher als es aus guten Gründen im 18. Jahrhundert aus bürgerlicher Sicht zum Beispiel von Lessing - fälschlicherweise und unter Berufung auf die Autorität Aristoleles - definiert wurde. Eine historisch bedingte Interpretation und Bestimmung, die heute noch als allgemein gültig angesehen wird.

Nicht Lessings moralisiertes ‚Furcht und Mitleid‘ ist damals gemeint, sondern elementar derbes Heulen und heftiges, erschrecktes Zähneklappern.

So stammt das Ursprungswort des Begriffes ‚Tragödie‘, die wir als hehrste und erhabenste Kunstform respektieren, vom Wort ‚tragos‘ ,Ziegenbock‘ ab, und bezeichnete des Fest des Tieropferrituals, bei dem der Tiergott aufgegessen und sein Blut getrunken wurde. Daher stammt auch der Begriff ‚Sündenbock‘, jemand, der herausgegriffen wird und für die Sünden anderer büßen muss.

Die Ursprünglichkeit des Gefühls wird in den theatralischen Formen zwar eingedämmt durch innere (regelhafter Aufbau des Dramas) und äußere formale Rahmen (Masken, Sprachstil), um allzu heftige, unkontrollierbare Ausbrüche der zuschauenden Menschen zu kanalisieren, aber es bleibt dennoch ‚ursprünglich‘, Urgefühle an- und aufregend.

Ziel dieses Theaters der Griechen ist nicht mehr nur die rituelle, ekstatische Entladung im Kult, aber auch noch nicht die bürgerlich-moralische Läuterung, die Pädagogik der Besserung, gemeint ist eine eher leibliche ‚Katharsis‘, die Reinigung des Körpers und der Seele durch Öffnen des Spundlochs, sehr organisch gedacht, denn die Lehre der Funktionen der Körpersäfte ist damals noch sehr verbreitet. Ungefiltert sind sie, diese Gefühle der hehren Griechen, urgewaltig, unmittelbar, eruptiv - eben Heulen und Zähneklappern. Eleos und Phobos.

Das ist es, was die griechische Tragödie hervorruft. Denn die drakonischen, grausamen Strafmaßnahmen des Blendens und Köpfens stimmen noch mit der Vorstellungswelt des eigenen Empfindens überein.

Der Mensch vernichtet den Gegen-Menschen noch von Hand, von Angesicht zu Angesicht, mit selbst geführten Waffen, er weiß, was der Todesstoß bedeutet. Der Mensch tötet noch nicht von Ferne aus der Luft, anonym, computergesteuert, radarüberwacht, gesendet als Live-Dokument im Frühstücksfernsehen. Die heutigen virtuellen Welten lösen die Beziehungen und Proportionen zur Realität gänzlich auf. Damals ist das Grauen noch unmittelbar, handgefertigt, noch nicht vorgefertigte, sich wiederholende, wiederholbare vorprogrammierte Bilderflut.

Die bürgerliche Welt – für die Lessing das Theater theoretisch definiert - hat diese ursprünglichen Empfindungen bereits eingeebnet und geglättet zu Gunsten eines nahezu abstrakten Verhaltens:

Nicht Leiden, sondern ‚Mit-Leiden‘.

Nicht Weinen, sondern ‚Einfühlen‘.

Nicht Zähneklappern, sondern ‚Furcht‘.

Nicht Flennen, sondern ‚Läuterung‘ -

nicht körperliche, sondern ‚geistige’ Katharsis,

nicht Reinigung des Darms, sondern ‚Reinigung der Seele’.

Es sind die neuen, bürgerlichen Maxime, die davon ausgehen, dass das Theater erzieherisch wirken solle, als ‚moralische Anstalt‘, als Instrument der Identitätsbildung, der ideellen Zusammenschließung bürgerlicher Individuen im politischen Gegensatz und Widerspruch zur damals herrschenden feudalen Gesellschaft. Theater wird der öffentliche Ort, wo sich das neue Denken etabliert und präsentiert. Es wird das Hauptmedium der bürgerlichen Öffentlichkeit, eines kollektiven Rezeptions- und Protestvorganges.

Die Verfeinerung des Theaters zum ‚bürgerlichen‘ Theater geht einher mit der Veränderung der gesellschaftlichen Gegebenheiten.

Die feudale Gesellschaft war in Auflösung begriffen und mit ihr die willkürlichen, im kaufmännischen Sinne unkalkulierbaren Formen ihrer repräsentativen Machtentfaltung und herrschaftlichen Machtdemonstration, wozu durchaus auch das höfische Theater mit seinen teuren repräsentativen (Opern)Aufführungen zählte. Das historische Problem des Adels war, dass der direkte Warentausch längst ersetzt worden war durch eine allgemeingültige Ware, durch das Geld. Geld ließ sich nicht von Äckern ernten, sondern nur über die Abgaben der ausgepreßten Untertanen einheimsen.

Geld und vor allem die Mehrung des Geldes bedurfte eines anderen Wirtschaftsverkehrs, des Handels, dessen Ziel der pekuniäre Zugewinn ist.

Die Stunde der Kaufmannschaft hatte geschlagen, selbst der deutsche Kaiser landete im Schuldbuch der Fugger. Die Kaufmannschaft, die erstarkte neue Macht in der ausgehenden mittelalterlichen Gesellschaft, formierte sich, bereitete den großen politischen Machtwechsel vor, den Machtwechsel in eine Gesellschaftsform, in deren fortgeschrittener Entwicklung wir alle heute noch leben.

Der Kaufmann verhielt sich rational, vernünftig, praßte nicht in Saus und Braus wie der von der Hand in den Mund lebende Adel, er investierte, um nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig neue Gewinne zu erzielen.

Triebaufschub wurde ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Verhaltenskatalogs. Erbe, Besitzstandmehrung und Besitzstandwahrung bestimmten die sozialen wie philosophischen Entwicklungen.

Der Trieb, die Leidenschaft, wurde mit ‚Vernunft‘ gedrosselt, die Rationalität begann, Leben und Kunst zu dominieren.

Neben den ausschließlich an Sprache gebundenen Zeitschriften, damals ein neues, bürgerliches Medium, das sein Entstehen der Buchdruckerkunst und der dadurch geförderten Verbreitung der Fähigkeit des Lesens verdankt, beanspruchte das Bürgertum, die um eine feudale Burg lebenden >Bu(ü)rger<, nun auch für sich ein spezifisches Öffentlichkeits- und Versammlungsmedium. Dieses wurde das Theater, das dabei zu eben dem bürgerlichen Theater umgeformt und damit geschaffen wurde.

Dieses - damals moderne - Theater des Bürgertums war, im Gegensatz zum höfischen Repräsentations- und Unterhaltungstheater, eine Theaterform, die den rationalen Dialog, die Vorstellung, die Sprache, das ‚Ver-Handeln’, könne alle Probleme lösen, zum Kernstück ihrer Existenz machte.

Der Aufwertung des rationalen Dialogs entsprach die immer größer werdende Kalkulierbarmachung des Menschen mit Hilfe systematischer psychologischer Beobachtungen. Wer gut ‚handeln‘ wollte - im doppelten Wortsinn -, musste beim ‚ver-handeln’ sein Gegenüber gut einschätzen können.

Der psychologisch geführte Charakter löste die Typen ab, genauer gesagt: die Stereotypen, die keine Charaktere sind, sondern nur mit bestimmten (psychologisch verstehbaren) Eigenschaften belegte Handlungsträger repräsentieren.

Nicht zuletzt auch daher rührt der Begriff ‚Handlung‘ gleichbedeutend für das Geschäft wie für das Geschehen im Theater und in der Literatur.

Dem entsprach, das Versammlungsorte des Bürgertums zunächst in Handelszentren entstanden. Hamburg hatte die erste Nationaltheater-Bühne, die Neuberin machte sich in Leipzig seßhaft. Lessing hatte mit beiden zu tun. Das Theater des Bürgertums, auf der Sprache beruhend, war der adäquate moderne Ausdruck dieser neuen Zeit.

Alle vorbürgerlichen Formen wurden verpönt. Unterhaltung und Harlekinaden verloren an literarischem Wert, wurden Kunst zweiten Ranges. Das mittelalterliche, vorbürgerliche Theater der Jahrmärkte und Schaubuden geriet ins Abseits: keine derbe, weihelose Belustigung des Volkes mehr, keine heruntergelassenen Hosen, keine Grobheiten, Zoten oder Stegreifspiele.

Theater bekommt - auf dieser Stufe der ‚Moderne‘ - einen politisch-sozialen, erzieherischen Stellenwert.

Selbst heute noch haben es das Unterhaltungstheater und die Versuche, die vorbürgerliche Theatertradition fortzuentwickeln, schwer. ‚U‘ und ‚E‘ werden überall qualitätsmäßig unterschieden, ‚U‘ herablassend behandelt. Übrigens ein vorwiegend deutsches Werturteil. Die angelsächsischen Länder z.B. kennen diese Klassifizierung nicht. Sie haben durch das ‚Elisabethanische Theater’ eine andere Theatertradition durchlebt.

Die sprachbezogene Entwicklung des dialogbasierenden bürgerlichen Theaters hat sich auch im Publikum niedergeschlagen.

Bildung war auf einmal nötig, um diesem Theater folgen zu können. Die Geste, der artistische Spaß wich dem Wortspiel, dem klug formulierten Gedanken. Damit verschloß sich das Theater jedoch mehr und mehr dem weniger (aus)gebildeten Volk.

Theater wurde ein Medium der höheren Kreise und ist es bis heute geblieben.

Das Unterhaltungstheater wird den weniger intellektuellen Schichten zugeordnet, fällt bei einigen nicht einmal mehr unter den Begriff der Kunst. Dadurch hat sich die Anzahl derer, die sich für Theater interessieren, ja, die es noch ‚verstehen’, kontinuierlich verringert. Zumal dieses ‚andere‘ Theater auch gerade jene besonderen Fähigkeiten erforderte, über die wir anfangs sprachen: Bewertung des Arrangements der Personen, Begreifen von unter dem vordergründigen Text liegenden Untertexten, Entschlüsselung von sozialen Positionen in den Kostümen und Räumen, in den Haltungen der Personen, in der Sprachebene.

Theater wurde, im Gegensatz zu seinen vorbürgerlichen Formen, ein Ausdrucksmedium des gebildeten Bürgers.

Erst mit der Entwicklung von Ausdrucksformen, die versuchten, diesem Modell des bürgerlichen Theaters entgegenzuarbeiten, begann, sehr vereinfacht gesagt, der Weg in Richtung ‚Moderne‘. Dabei schränken die inzwischen eingeübten und verstandenen bürgerlichen Ausdrucksformen das Verstehen neuer Formen ein, stehen ihnen dabei manchmal sogar regelrecht im Weg. Gerade das geübte bürgerliche Publikum - ‚Wir wollen unsere Klassiker wieder erkennen!‘ - tut sich deshalb mit dem Sich-Einlassen und Akzeptieren neuerer, anderer, eben ‚modernerer’ Formen des Theaters schwer, schwerer als das bei in dieser Hinsicht weniger geübten, z. B. jugendlichen Zuschauern der Fall ist. Und hierin liegt auch die Schere, die das traditionelle und das junge Theaterpublikum zerschneidet.

An dieser Stelle der Überlegungen muss kurz der Begriff des ‚Theaters der vierten Wand‘ eingeführt und erläutert werden.

Ein historischer Übergang zwischen der offenen und der in sich geschlossenen Form ist z.B. noch bei Marivaux oder Goldoni zu beobachten, der die Illusion der vierten Wand, des voyeurhaften Beobachtens, aber des Selbst-nicht-beobachtet-werdens, schon praktiziert, aber noch durch Relikte von Spielformen und Figuren der ‚Commédia d'ell arte‘ und des Stilmittels des Beiseitesprechens unterbricht.

Die Brechung der Illusion, das spontane Wecken der Phantasie, fehlt beim Theater der ‚vierten Wand‘. Es will ‚realer’ sein, realistisch.

Denis Diderot erhob das Spiel der ‚vierten Wand‘ zur künstlerischen Maxime.

In seinem Werk ‚Von der dramatischen Dichtkunst‘ schreibt Diderot:

Man denke also, sowohl während dem Schreiben als während dem Spielen an den Zuschauer ebensowenig, als ob keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußersten Rande der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterr abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.“ (Von der Dramatischen Dichtkunst, 1758)

Die gedachte ‚vierte Wand‘ bringt den Zuschauer unbemerkt in eine Schlüssellochperspektive, macht ihn, genau genommen, zum Voyeur.

Der Voyeur kann und darf sich nur noch mental am Spiel der anderen beteiligen. Zuschauer und Schauspieler tun, wider besseres Wissen, als wären sie nicht gleichzeitig gegenwärtig im selben Raum, gleichzeitig anwesend im Theater. Damit aber, und darauf kommen wir gleich noch zu sprechen, wird eine überaus bedeutende Eigenheit des Theaters überhaupt geleugnet bzw. verschenkt: sein Kommunikationscharakter ‚für andere’, d.h. sein unmittelbarer Öffentlichkeitsbezug.

An dieser Besonderheit könnte das Theater in seiner Situation heute vielleicht wieder sinnvoll anknüpfen. Diese Besonderheit ist ein Alleinstellungsmerkmal, denn diese grundlegende Beziehung der gleichzeitigen Anwesenheit von ‚Spielern‘ und ‚Bespielten‘ weist kein anderes Medium auf. Weder das Buch, noch der Film, schon gar nicht das Fernsehen, oder gar das Internet. Aber der ‚direkte’ Publikumsbezug scheint auch den neuen Medien wichtig.

Das Fernsehen z.B. versucht immer wieder mit der Scheinöffentlichkeit von im Studio anwesenden Zuschauern, die mit Hilfe von blinkenden Aufforderungen zum Klatschen und Lachen verurteilt werden, Publikum, Begleitung Gleichgesinnter, also Öffentlichkeit gegenüber dem vereinzelten Fernseher zu Hause zu suggerieren, wenn es nicht gar Lachen und andere Reaktionen eines virtuellen Co-Publikums im Studio gleich direkt von der Konserve einspielt. Hier wird die Phantasie an die Kandare genommen. Dabei ginge es im emanzipatorischen Sinne mehr um die Rettung der Phantasie, um derer wechselhafte Beziehung zwischen Realität und Fiktion, um die jeweilige gegenseitige Durchdringung beider Sphären. Das Fernsehen kann versammelte Öffentlichkeit nur suggerieren. Das Theater und sein gleichzeitig bei der allabendlichen Entstehung des Kunstwerks anwesendes Publikum hingegen bilden eine ganz besondere Einheit zwischen aktiver (An)Teilnahme und bloßem Zuschauen beim Probe-Handeln, wobei dem heutigen Zuschauer jedoch im Gegensatz zum vorbürgerlichen meist kein eigenes Eingreifen mehr möglich ist.

Betrachten wie die Öffentlichkeitsstruktur der neuen Medien näher und vor allem, welche Konsequenzen sie im Vergleich zur Öffentlichkeit stiftenden Geschichte des Theaters hat?

Die große historische und soziale Veränderung manifestiert sich vor allem in der Wandlung der Funktion des Theaters als öffentlicher Versammlungsort von Gleichgesinnten.

Diese Aufgabe hat das Theater in einst aufklärerischem, politischem Sinn verloren. Die Erwartungen der Zuschauer sind zerstreuter geworden, sind bildungs- und altersbedingt verändert, bei jüngeren Menschen vor allem aber auch durch neue Sehgewohnheiten anderer Medien überlagert und abgelöst. Personen, die dem Ideal der moralischen Anstalt noch anhängen, haben meist ein etwas höheres Alter. Diese Gruppe scheint für die Legitimation der Existenz des Theaters nach wie vor die tragende Stütze, obwohl ihre Zahl stetig abnimmt. Daher rührt auch die Schwierigkeit des Theaters, die Jugend für sich zu interessieren. Gerade diese Jugend braucht diesen traditionellen kollektiven Versammlungsraum nicht. Sie ist geprägt durch den Konsum anderer Medien und hat viele Notwendigkeiten zum Verständnis von Theater verlernt oder nie erlernt. Fernsehen, Internet, wahrscheinlich bald auch Handy-TV und andere neue digitale Techniken, bestimmen die aktuellen Seh- bzw. Konsumgewohnheiten. Die Folge ist zunächst einmal eine zunehmende Individualisierung, der Verlust für die Notwendigkeit, sich an einem bestimmten Ort zum ‚Theater-Sehen’, zum ‚Theater-Verstehen’ zu versammeln. Heute ist das Individuum medial überall zu erreichen, zu Hause, unterwegs. Es bedarf nicht mehr der Anstrengung, sich mit anderen an einem bestimmten Ort zu sammeln. Trotz dieser körperlichen Isolation, der Vereinzelung weiß sich das Individuum aber gleichgestellt mit Tausenden, Millionen, die ebenfalls in ihren vereinzelten Lagen die gleichen Informationen, Bilder, Musiken konsumieren.

Das technische Medium schafft eine andere Form von Öffentlichkeit, ohne körperliches Versammeln, schafft - gemessen am alten Sinne - eine Scheinöffentlichkeit, die allerdings bei vielen ein Bewusstsein ihrer Vereinzelung gar nicht aufkommen lässt. Im Gegenteil: Der Internet-Chat suggeriert sogar den ständigen Dialog. Man steht sozusagen ewig mit Partnern am anderen Ende der Kommunikationsstrecke in Verbindung, gleich, wo dieser sich aufhält, ob im Zimmer nebenan oder auf dem Kontinent der Antipoden. Bei dieser Verständigungsart, die allerdings, wie auch das bürgerliche Theater, noch immer auf dem Dialog, sogar auf dem geschriebenen Dialog basiert, kommt der Sprache die kommunikationstragende Funktion zu.

Aber nicht mehr in der geschliffenen Ausführlichkeit des traditionserprobten Briefes oder Bühnendialogs, vielmehr wird die Sprache durch Kürzel beschleunigt. Damit verliert sie etwas von ihrer universellen Verständlichkeit innerhalb der eigenen Sprachgruppe, es entstehen vereinzelte Sprachinseln, die sich untereinander verstehen, manchmal aber nicht einmal mehr für andere ähnlich geartete Zusammenschlüsse von kommunizierenden Personen kommunikabel sind.

So entstehen Öffentlichkeitsinseln, individualisierte Teilöffentlichkeiten.

Kein Ort nirgends überall.

Wie sieht die Struktur der Teilöffentlichkeiten im Vergleich zur bürgerlichen Öffentlichkeit aus?

Diese technisch medialisierte und technisch produzierte Öffentlichkeit ist kein ‚öffentlicher Ort’, sie ist virtuell, unkörperlich. Sie verhindert den kollektiven Rezeptionsprozess. Der ist ‚ghettoisiert’ den Sportereignissen in Arenen überlassen. Aufgestaute Energien werden folgerichtig dort entladen.

Die Öffentlichkeit des bürgerlichen Theaters ging einher mit Gedanken zur Veränderung der gesellschaftlichen Gegebenheiten, ersetzt die Repräsentationsfunktion der Kunst durch eine politisch aktiv erzieherische der neuen Leistungsträger.

Das alles gibt es nicht mehr.

In den neuen Medien findet als Ziel keine Läuterung statt, ist der Gedanke der moralischen Anstalt aufgegeben. Diese Medien wollen kein Instrument und kein Ort der kollektiven Identitätsbildung sein, entsprechend geraten sie auch nicht in einen Widerspruch zum bestehenden System.

Die Kalkulierbarkeit des Menschen ist der inzwischen total etablierte neue Zugang. Ein florierender Handel der Kaufmannschaft braucht den Konsum. Der ist zum eigentlichen Sinn geworden. Das ökonomische Denken dominiert die Hirne. Der einstige Triebverzicht des Kaufmanns zur Erlangung höherer Ziele hemmt den Konsum, folglich ist diese Hemmung aufzuheben durch die Produktion von ständig neuen Wünschen, Kaufanreizen und Begierden, die die konsumierende ‚Ingroup’ auszeichnet. ‚Public relations’ ist das neue, alte Zauberwort, gezielte Werbung für zersplitterte Teilöffentlichkeiten, zumeist noch virtuell via Internet. Um hier gezielter arbeiten zu können, sind Informationen über das Computerverhalten der Konsumenten notwendig. Die scheinbare Privatsphäre des heimischen Surfens wird daher systematisch ausspioniert.

Dazu muss der Mensch als modisch wechselbare Konsumeinheit psychologisch kalkulierbar und steuerbar sein, nicht mehr kollektiv und auch nicht einmal mehr individuell. Er wird beworben, als Konsumzielobjekt manipuliert, in einem Ausmaß, dass er es meist gar nicht mehr bemerkt, da die sinnlich erfahrbare Alternative fehlt. Die Psychologisierung der Konsumgesellschaft ist bis heute seit den ersten Tagen des Bürgertums zur Perfektion herangewachsen. Sogar die Anordnung der zu verkaufenden Waren im Supermarkt erfolgt nach psychologischen Regeln, zuerst das Obst, dann die Milchprodukte.

Die durch solche Steuerungen sich einstellende Stumpfsinnigkeit, die Sinne werden in ihrer Eigenständigkeit ja nicht mehr wirklich benötigt, sie sind nur noch Ziel ökonomisch ausgerichteter Stimulans, müssen Abwechslung suggeriert bekommen.

Die Unterhaltung kehrt in der derbsten Art zurück. Unterhaltung ist alles. Spaß und Fun bestimmen das mediale wie das Konsumverhalten. Die heruntergelassenen Hosen kehren als Erotisierung der Verkaufsförderung im Wortsinne zurück. Die Typisierung der Charaktere wird wieder vorangetrieben, bestimmt ganze Konsumeinheiten. Markenware für Markenträger. War für das Verstehen von Theater einst eine ‚bürgerliche’ Bildung nötig, so ist heute alles auf den Bildungsverzicht angelegt. Der rationale Dialog, der einst die höhere Synthese ermöglichte, ist ersetzt durch den griffigen Slogan, ja, die Sprache selbst unterliegt einem Auflösungsprozess durch anglizistische Wortpartikel, durch Sprachkürzel, Abkürzungen und triebbestimmende Werbefloskeln. Das Zurückdrängen bewusstseinfördernder Künste ist schon in der Schule auf dem Rückzug. Die musischen Fächer entfallen. Nicht Aufklärung ist mehr das Ziel, sondern Desinformation.

Der als positiv verkaufte immerwährende Zugang zu allen Informationen im Internet erschafft eine unüberschaubare Informationsflut, die durch keine Ordnungsprinzipien mehr erklärbar ist. Die Ordnungsstruktur des binären Rechen-Logarithmus filtert die Informationswege. Diese formale Bestimmung der Information wird als Wert an sich verstanden. Die individuelle Inhaltsstruktur der Phantasie wird ausgegrenzt. Restriktive Logik wird dominant: 0000 - 0001 - 0010 – bestimmt unsere Wissensbasis. Was nicht digitalisierbar ist, wird ausgegrenzt.

Dankbar greift ein derart frei floatendes Individuum zu jedem Halt, der ihm als Strohhalm suggeriert wird.

Die bürgerliche Handelsgesellschaft ist nach langen Jahren ihrer Entwicklung in ihr eigenes Gegenteil umgeschlagen. Das wirklich freie Individuum wird als störend empfunden, Anpassung, Markentreue, ja, die totale Befriedigung durch Konsum sind die neuen Ziele. Die freie Phantasie wird nicht entwickelt, sie wird domestiziert, vorgegeben, vorgeprägt im Sinne des Warenverkehrs.

Die Pisa-Studie ist ein klarer Ausdruck dieser gesellschaftlichen Anlage.

Eine solche mediendominierte Öffentlichkeitsstruktur bleibt nicht ohne Wirkung für das Individuum. Es verliert seine Verortung, seinen Versammlungsbereich, seine Identität, seine Heimat. Uneingeschränkte Mobilität wird Trumpf, bestimmt die Arbeitswelt, die meist keine Berufe mehr fürs Leben wünscht. Diese Heimatlosigkeit, die fehlende Verwurzelung in einem umgrenzten Lebensfeld führt wiederum zu einem Verlust an Geborgenheit, an Sicherheitsgefühl. Das alles ist energiegeladene Öffentlichkeit, die sich kollektiv formulieren und entladen würde, und die deshalb zurückgedrängt werden muss in den privaten Bereich der Vereinzelung. Und so entsteht ein merkwürdiges Paradox: Trotz weltweiter Kommunikation ist der neue Versammlungsort die Privatsphäre. Dort entsteht keine identitätsstiftende Öffentlichkeit Gleichgesinnter, hier floatet eine zerstreute und zerstreunende Öffentlichkeit im haltlosen virtuellen Raum umher, zerstreut im doppelten Sinne, nicht nur individualisiert, sondern obendrein auch noch ‚gut unterhalten’, nicht thematisch konzentriert, sondern eben abgelenkt, eben zerstreut. Aus dem Kinder-, aus dem Arbeits-, aus dem Wohnzimmer direkt hinein in eine virtuelle Weltöffentlichkeit. Eine scheinhafte Teilhabe am Leben anderer, die auch noch einen Zusammenschluss gegen äußere Feinde gewährt, die allgegenwärtige Bedrohung durch Viren, Spyware und Trojanern, die den Interessen weniger großer Warenhändler dienen, die dadurch wiederum anderen Anbietern für die Verhinderung dieses Werbe(über)flusses, Gelegenheit bieten, neue Geldquellen zu erschließen. Und jeder hat obendrein den Eindruck, seine Privatsphäre schützen zu müssen und geschützt zu haben. Für die nötigen Ängste sorgen entsprechende Filme, Shows und Bücher, die einerseits noch immer an Phantastischem anknüpfen, jedoch ohne emanzipatorische Gedanken hervorzubringen. ‚fantasy’ statt ‚Phantasie’.

Der Einzelne vereinzelt, bildet eine Gemeinschaft vieler Vereinzelter, wähnt sich in seiner Einsamkeit allerdings nicht einmal allein. Ist er auch nicht. Es ist Teil dieses Systems, einer Organisation, einer individualisierten Scheinöffentlichkeit, die den Eindruck von Teilhabe an gemeinsamer Kommunikation suggeriert bekommt.

Früher waren es Wenige, die an ihrer Einsamkeit, an ihrem Außerhalb-der-Gesellschaft-Stehen litten und sich ihrer Ausgrenzung schmerzlich bewusst waren, eine Quelle der schönsten Kunstwerke. Heute trifft diese soziale Situation die meisten, scheint beinahe das ‚Normale’ und bleibt deshalb ästhetisch wie politisch folgenlos. Dieser kryllhafte Zustand der Menschen bestimmt sein Bewusstsein. Keiner sieht mehr, wie kollektiv und gemeinsam sich die individualisierte Gruppe formieren könnte. Das ist Entfremdung pur. Durch die Zersplitterung ist die Entfremdung von sich selbst erreicht.

Dieser entfremdete Individualgruppenzustand, der nicht nur einer Entfremdung von der kollektiven Gruppenidentität bedeutet, sondern sogar eine Entfremdung von der eigenen Person in der Fiktion eines zweiten, virtuellen Realität, wird als (Meinungs)Freiheit definiert.

Jeder könne sagen, was er will, denken, was er will, und er kann diese Erkenntnisse und Meinungen per Internet in der ganzen Welt verbreiten. Mit Gleichgesinnten bildet er eine virtuelle Teilweltöffentlichkeit. Allerdings hat diese zerstreute Struktur eine bedeutende Konsequenz: Mit der fehlenden realen Verortung geht auch eine totale Orientierungslosigkeit der Informationsfluten einher, eine Wikipediaisierung der Welt, der steigenden Ungewissheit einer Entscheidung über richtige und falsche Mitteilungen, über wahr oder manipuliert, über Fiktion oder Realität. Dem steht der virtuelle Zugang zu scheinbar nahezu allem Wissen der Welt gegenüber. Die kollektive Handlung, die mit diesem Wissen emanzipatorisch umgehen könnte, wird jedoch nicht vom System gefördert. Das ist das perpetuum mobile der konsumgesteuerten Entfremdungs-Gesellschaft.

Die Verunsicherung des Individuums erhebt sich damit auf eine neue Stufe des nicht gespürten Untergangs der eigenen konkreten Individualität. Dieser Auflösungszustand, als ‚Freiheit’ missverstanden, als Sieg der Kommunikation und ihrer Instrumente und Apparate gefeiert, fördert jedoch noch die Orientierungslosigkeit. Die ist zum allgemeinen Prinzip erhoben, und wird deshalb auch nicht mehr als Verlust erkannt.

Das ist die neue Zeit, das ist unsere ‚Moderne’. Entsprechend lösen sich auch viele Künste und Künstler von der Prämisse der Verständlichkeit, der Verstehbarkeit der Kommunikationserfahrung, werden Modeströmung, werden ‚in’ und sind bald darauf wieder ‚out’, durch ein neues ‚in’ eines neuen Gruppengefühls konsumierender, konsumierter und konsumierbarer Existenzsicherheit ersetzt. Das alles geschieht in einem immer schneller werdenden Tempo, getrieben von den sich stetig steigernden Geschwindigkeiten der Rechner und deren Kapazitäten. Mit der neuen Schnelligkeit mithalten zu können, bedarf es wiederum des Konsums. Das neueste Modell, der schnellste Rechner, der größte Arbeitsspeicher, die hochauflösendste Grafikkarte etc.

Es beginnt ein Wettlauf jenseits der Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen. Eine Loslösung von biologischen Gegebenheiten. Der Traum, ein menschliches Gehirn mit Hilfe eines Computers zu ersetzen ist der Gipfelsturm dieser Entwicklung. Das Resultat ist eine neue, sich noch weiter steigernde Form der Entfremdung des Individuums von sich selbst und von seiner gesellschaftlichen Verfasstheit, allerdings empfunden als Normalzustand, als kulturelle Teilhabe.

Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

Damit scheint die bürgerliche Öffentlichkeit an ihrem sie selbst auflösenden Ende angelangt zu sein, indem sie konsequent ihre eigenen Voraussetzungen verliert.

Vielleicht ist aber gerade das die Chance, das alte Medium Theater wiederzuentdecken. Da spielen noch immer reale Menschen vor realen Menschen außerhalb des virtuellen ‚Second life’, das ohnehin nur ein Reflex des ‚first life’, der Schein-Realität, ist. Das ‚second life’ für jeden, nicht ‚probehandeln’ lassen auf einem hölzernen Bühnenboden, sondern zu meinen, virtuell der selbst aktive in der virtuellen Wirklichkeit zu sein, hebt in dieser Computerwelt die Arbeitsteilung zwischen Zuschauer und Spieler wieder auf. Trotz aller Modernität entsteht ein neuer, alter Kult.

Zur Zeit hat die Bewusstseinsindustrie scheinbar gesiegt. Alle machen mit. Wieder sind es nur vereinzelte, die den „Riss durch die Welt“, an dem schon Georg Büchner litt, spüren. Aber auch sie können sich im Internet als vielleicht große, wenn auch verstreute virtuelle Öffentlichkeit finden, wirkungslos zusammenfinden.

Eine trotzige Hoffnung könnte aber vielleicht gerade das ‚alte’ Medium Theater sein, das mit seiner realen Öffentlichkeit wieder ein Ort der Gemeinschaft, der Heimat, der Sehnsucht nach Verortung werden kann – wenn sich der Einzelne aus seiner Vereinzelung lösen könnte und zur Versammlung ginge– wenn er es noch wollte und vor allem, wenn er es noch könnte.

P.S.

Diese Gedanken verstehen sich nicht als das letzte Wort in dieser Sache.

Sie sollen anstoßen zur Diskussion, zum Austausch, zur Suche gesellschaftlicher und medialer Alternativen, nach Wegen und Auswegen.


3.9. Gibt es ein Politisches Theater des 21. Jahrhunderts?

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS
INST

For quotation purposes:
Rainer Lewandowski
: Bürgerliche Öffentlichkeit - und (k)ein Ende? - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/3-9/3-9_lewandowski.htm

Webmeister: Branko Andric     last change: 2010-02-16