Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Februar 2010 |
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Sektion 3.9. | Gibt es ein Politisches Theater des 21. Jahrhunderts? SektionsleiterInnen | Section Chairs: Tobias Sosinka (Berlin) und Birgit Fritz (Universität Wien) |
"Theater ohne Ende"
Massud Rahnama (Wien | Teheran, Iran) [BIO]
Email: m.rahnama@gmx.at
Es gibt noch immer Orte, an denen Ausländer der Gefahr ausgesetzt sind, angepöbelt, erniedrigt und zusammengeschlagen zu werden
Basierend auf der realen Geschichte eines in Berlin in der S-Bahn verprügelten und aus dem fahrenden Zug geworfenen Schwarzafrikaners, stellt sich die Frage, warum keiner der im Waggon anwesenden unbeteiligten Fahrgäste eingegriffen hat.
* * *
Eine S-Bahn fährt in die Station ein.
Ein Farbiger steigt glücklich und beschwingt in den Zug ein. Sauber, schick, einen Blumenstrauß in Händen. Er mustert die Passagiere und setzt sich hinter einen alten Mann, der Zeitung liest.
Lautsprecher:
Türen schließen, Zug fährt ab.
Der Farbige macht es sich bequem und schaut aus dem Fenster.
Ein junger Mann mit einer Narbe im Gesicht hört Walkman und schwingt selbstvergessen im Takt der Musik. Er blickt zu einem drogensüchtigen Mädchen hin, das, an eine Haltestange angelehnt, im Drogenrausch versunken ist.
Eine unnahbare Kälte herrscht im Waggon.
Der Farbige versucht über die Schulter des alten Mannes hinweg die Zeitung mitzulesen.
Dieser fühlt sich gestört und faltet seine Zeitung so zusammen, dass nur mehr er darin lesen kann.
Vier junge Burschen, gut gekleidet und gut gelaunt, steigen ein. Sie beobachten das Umfeld, und es ist klar, dass sie auf Ärger aus sind. Als sie den Farbigen sehen, werfen sie einander bedeutungsvolle Blicke zu. A geht zu dem Farbigen und bleibt demonstrativ vor ihm stehen. Die anderen gehen im Waggon wie Kontrolleure herum, stellen fest, dass jeder mit seiner eigenen Sache beschäftigt ist, und gehen wieder zu A und dem Farbigen zurück.
C (zum Farbigen): Fahrscheinkontrolle.
Der Farbige nimmt seine Karte und zeigt sie her.
A, B und D lachen.
B nimmt die Karte, hält sie gegen das Licht, schaut den Farbigen an, steckt den Fahrschein in den Mund, kaut und schluckt ihn.
Der Farbige ist halb verwundert, halb verunsichert.
B: Fahrschein, bitte.
Farbiger: Sie haben ihn doch gegessen.
A, B, C und D lachen.
B (zu den anderen drei): Hat er einen Fahrschein gehabt?
A, C und D: Nein.
Farbiger: Aber Sie haben meinen Fahrschein gegessen!
A: (schlägt den Farbigen ins Gesicht) Dich hat niemand gefragt. (und sehr höflich) Wenn du nicht gefragt bist, hast du nicht zu antworten. Verstanden, Schwarzfahrer?
B, C und D lachen.
Der Farbige blickt verängstigt zu den anderen Passagieren und wendet sich hoffnungslos wieder zu den Vieren.
A: Dieser schwarze Hund hat keinen Beißkorb!
B, C und D schauen einander fragend an.
B: Oje, kein Beißkorb!
C (zum Farbigen): Hunde dürfen aber nur mit Beißkorb und Leine an die Öffentlichkeit. – Scheiße!
D: Ich glaube, man muss ihn bestrafen. (zum Farbigen) Kannst du nicht lesen, was da steht? (schlägt den Farbigen an die Stirn) Sag, was hast du hier überhaupt zu suchen? Du solltest eigentlich in Afrika von Baum zu Baum springen wie die Affen und mit Bananen, Orangen und Kokosnüssen spielen.
A reißt dem Farbigen den Blumenstrauß aus der Hand.
A: Wo willst du hin, Brikett? Bist zu lange in der Sonne gelegen, was?
B, C, D lachen.
Dem Farbigen stößt auf.
Farbiger: Ich bin zwar außen braun und stolz darauf, ihr aber seid innen braun und irrt euch gewaltig, wenn ihr glaubt, darauf stolz sein zu können!
A, B, C, D: Whooooo …
B: Mir scheint, die Zwiebel glaubt, schwarzen Humor beweisen zu müssen.
C: Ist dir nicht eben erklärt worden, erst zu reden, wenn du gefragt wirst, hm?
Er versetzt dem Farbigen einen unsanften Nasenstüber.
Der Farbige schaut angstvoll auf die Vier, dann hilfesuchend zu den anderen Passagieren, nur auf die nächste Station wartend, hoffend.
D schlägt den Farbigen mit der flachen Hand lachend auf den Kopf.
D: Der Scheiß-Drogendealer hat sich sogar wie ein Mensch eine Krawatte umgebunden. Bis vor kurzem ist er noch auf Kamelen und Eseln herumgeritten, und jetzt ist das Arschloch ein Mensch und fährt S-Bahn. Trägt jetzt sogar Anzug und Krawatte. Ist Mensch … Bist Europäer geworden, was?!
D schlägt ihn wieder auf den Kopf.
D: Na, Arschloch?
Der Farbige kann die Hänseleien einerseits nicht mehr ertragen, weiß sich aber gegen die Vier machtlos.
Licht aus.
Licht an.
Ein alter Mann sitzt in der Küche, die Zeitung aufgeschlagen hochhaltend wie eine Wand. Ihm gegenüber seine Frau, die ununterbrochen auf ihn einredet.
Alte Frau: Glaubst du, das funktioniert so? Glaubst du, dass es so besser wird?
Alter Mann: Mhmh.
Alte Frau: Was heißt 'Mhmh'. Kannst du nicht reden, wenigstens ein 'Nein' oder ein 'Ja'?
Alter Mann: (liest weiter) Mhmh.
Die alte Frau steht auf, schüttelt den Kopf.
Alte Frau: Soll ich dir noch einen Kaffee bringen? Du hattest eine unruhige Nacht, gestern. Ständig hast du dich von einer Seite auf die andere gedreht. Willst du mir nicht einmal antworten? Ich vermisse den Klang deiner Stimme! Heute hab ich sogar schon mit meinem Spiegelbild geredet.
Alter Mann: (weiterlesend) Hmm ... ?
Alte Frau: (schreit) WAS steht in dieser Scheiß-Zeitung, dass du sie bis ins Detail lesen musst? Versuch doch einmal, mich bis ins Detail zu lesen. Du würdest dich aber wundern!
… mitten in ihr Gezeter dreht der alte Mann die Frühnachrichten laut auf.
Radiosprecher:
Heute früh wurde ein junger Schwarzer schwer verletzt auf den Geleisen der S-Bahn aufgefunden. Nach ersten Ermittlungen wurde er aus dem Fenster des fahrenden Zuges geworfen. In dem Abteil waren mehrere Passagiere anwesend, aber es gibt keinen einzigen Zeugen. Die Kriminalbeamten gehen davon aus, dass es niemand für notwendig gehalten hat zu helfen oder die Notbremse zu ziehen. Dies führte dazu, dass der junge Mann die ganze Nacht auf dem Bahngleis liegen blieb, wo ihm nachkommende Züge ein Bein abtrennten.
Es folgt eine fröhliche Musik.
Licht aus.
Licht an.
Im S-Bahn Waggon beobachten die Passagiere zeitweilig das Geschehen. Auch sie haben unterschwellig Angst. Verhalten sich aber letztendlich so, als würden sie nichts sehen und nichts hören.
Der Farbige, vollkommen am Boden zerstört, blickt zu den anderen Passagieren – sein Blick ist ein einziger Hilfeschrei.
A packt den Farbigen an den Haaren und zieht ihn daran hoch.
Der Farbige: (schreit) Hilfe!!
Niemand hört ihn, alle verhalten sich wie vorher, sind mit sich selbst beschäftigt, obwohl sie die Szene beobachtet hatten.
A: Wir klatschen, und du tanzt für uns im Rhythmus. Vertreib uns und den anderen Passagieren ein bisschen die Zeit, wir hätten gerne ein multikulturelles Programm.
Der Farbige beginnt widerwillig im Rhythmus zu tanzen, A schlägt mit seiner freien Hand den Takt dazu.
B: Für dich trommelt er sogar einen afrikanischen Rhythmus!
C kommt A zu Hilfe und trommelt auf den Wänden der S-Bahn.
Der Farbige kann nicht mehr weitertanzen, er will sitzen.
D tritt dem Farbigen mit der Schuhspitze in den Magen. Der Farbige krümmt sich vor Schmerzen.
D: Du sollst nur tanzen, zum Ausruhen hast du auf der Reise, auf die wir dich schicken werden, Zeit genug.
Ein Mann (in den besten Jahren) nimmt sein Handy heraus, wählt und beginnt zu sprechen.
Mann: Hallo, servus. Was gibt es zu essen? Nein … Aber den Rest kann ich morgen am Rückweg besorgen. (flüsternd) Ich spreche aus der S-Bahn …
Inzwischen hat D ein Klappmesser hervorgezogen und öffnet es. Die Klinge springt hervor. Als der Mann in den besten Jahren dies sieht …
Mann: (ängstlich ins Telefon) Ich bin in etwa zwanzig Minuten zu Hause. Ich kann jetzt nicht weiter reden … Nein, erzähl ich dir später …Bussischmatz.
Er klappt das Handy zu, steckt es in die Tasche, setzt sich zurecht und beobachtet eingeschüchtert, aber interessiert das Geschehen.
Der Farbige ist auf den Boden gefallen.
A: (zum Farbigen) Na, wie fühlt man sich, so alleine?
Der Farbige kann sich kaum bewegen.
A tritt mit dem Fuß gegen ihn.
A: Und jetzt sag: Ich bin ein Stück 'Scheiße'.
Der Farbige krümmt sich vor Schmerzen.
B: He, antworte gefälligst!
B verpasst ihm einen Tritt.
Der Farbige: (mit letzter Kraft) Ich bin ein Stück 'Sch…'
Der Farbige wird bewusstlos.
A, B, C und D lachen.
D: Sag 'Ich bin ein dreckiges Schwein'.
D tritt nach dem Farbigen. Der Farbige bleibt regungslos liegen.
A (lacht): Sieht so aus, als hätte er das Paradies schon erreicht. Schade eigentlich! (zu den anderen drei) Gehen wir's an?
Wie auf Kommando packen die Vier den Farbigen an Händen und Füßen und werfen ihn aus dem fahrenden Zug durch das geschlossene Fenster.
Licht aus.
Licht an.
Spot auf das zerborstene Fenster.
In einer Tonzuspielung hört man ein Interview mit dem Farbigen.
Radiosprecher (aus dem Off):
Welche Gefühle haben Sie nun gegenüber den Menschen, die Ihnen das angetan haben?
Stimme des Farbigen (aus dem Off): Ich glaube, die haben ein Problem mit dem Gesetz. Aber ich habe ein Lebensproblem.
3.9. Gibt es ein Politisches Theater des 21. Jahrhunderts?
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last change: 2010-02-16