Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Juni 2010 |
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Sektion 3.9. | Gibt es ein Politisches Theater des 21. Jahrhunderts? SektionsleiterInnen | Section Chairs: Tobias Sosinka (Berlin) und Birgit Fritz (Universität Wien) |
Sektionsbericht 3.9.
Gibt es ein Politisches Theater des 21. Jahrhunderts?
Tobias Sosinka (Berlin) [BIO] | Birgit Fritz (Universität Wien) [BIO]
Emails: tobiassosinka@gmail.com und birgit.fritz@univie.ac.at
Ausgehend von der These, dass das europäische Theater des 20. Jahrhunderts zahlreiche Ansätze hervorgebracht hat, welche auf unterschiedliche Art und Weise die normative Forderung an die Bühnenkunst gestellt haben, die Welt nicht einzig widerzuspiegeln, sondern durch das Aufzeigen der gesellschaftlichen und sozialen Gesetzmäßigkeiten einen aktiven Beitrag zu ihrer Veränderung zu leisten, wurde in den Beiträgen von Theaterwissenschaftlern und -praktikern (RegisseurInnen, DramatikerInnen, TheatertextverlegerInnen) in den Beiträgen vorgestellt und diskutiert, ob sich in den vorrangig deskriptiven Ansätzen der Postmoderne, verbindende Begriffe und ästhetische Muster eines „Politischen Theaters des 21. Jahrhunderts“ aufzeigen lassen.
Der Theaterwissenschafter Ulf Birbaumer lenkte in seinem einleitenden Beitrag den Blick zunächst auf die spezifische Begrifflichkeit „Politisches Theater“, die sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, namentlich der Überschneidungen zwischen politischen und populären oder auch proletarischem Theater (Volkstheater) als Gegenentwurf zu einer aus dem 19. Jahrhundert kommenden bürgerlichen Kultur und wies darauf hin, dass sich dieser in der Wissenschaft feststehende und eingegrenzte Begriff nur bedingt auf heutige Theaterformen anwenden ließe.
Der Regisseur Zdravko Haderlap berichtete über das Tanztheaterprojekt „Plesni teater ikarus“ (1990-1998), das an der geographischen und kulturellen Grenze zwischen Kärnten und Slowenien - abseits der öffentlich hochfinanzierten und instrumentalisierten Event-Kultur-Landschaft Kärntens - den Versuch unternahm, Freiräume für eine neue Sprache für das Verschwiegene, Verdrängte, z.T. Ausgelöschte und nicht mehr Vorhandene zu finden.
Der Regisseur Tobias Sosinka stellte anhand seiner Inszenierungsarbeit Warten auf Godot von Samuel Beckett (Landestheater Schwaben 2007) die Frage, ob die zweifellos auch politische Provokation der Verweigerung der gängigen Rezeptionsmuster und Dramaturgien durch Beckett in den 1950er Jahren heute nicht Gefahr läuft, als Verweigerung jeglichen Erklärungsmodells wahrgenommen zu werden und in eine „schicksalhafte“ individuelle apolitische Rezeption führen kann.
Von Hans Escher, Bernhard Studlar und Julia Rabinowich wurde das Autorenprojekt „Wiener Wortstätten“ vorgestellt, welches sich zum Ziel gesetzt hat, die Vernetzung zwischen österreichischen und internationalen AutorInnen zu fördern. Ausgehend von in Wien lebenden, aus Osteuropa stammenden AutorInnen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, die aber auf Deutsch schreiben, soll sich im Lauf der Jahre ein internationales Netzwerk bilden, um so einen Austausch zwischen den Kulturen herzustellen und ein Zentrum für zeitgenössische europäische Dramatik in Wien zu etablieren.
Die österreichisch-tschechischen Künstler Nika Brettschneider und Ludvik Kavin, die beide inszenierend und schauspielerisch an ihrem Theater „TheaterBrett Wien“ arbeiten, verglichen die besondere Funktion des politisierten Theaters in der Tschechoslovakei um das Jahr 1968 mit ihrer Theaterarbeit in Wien, wohin sie in der Folge der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ auswanderten, und ihre erneuerten Verbindungen nach Tschechien nach 1989.
Der persische Theaterkünstler Massud Rahnama stellte innerhalb einer Lesung sein Theaterstück Theater ohne Ende vor, das – basierend auf der realen Geschichte eines in Berlin in der S-Bahn verprügelten und aus dem fahrenden Zug geworfenen Schwarzafrikaners - die Frage aufwirft, warum keiner der im Waggon anwesenden unbeteiligten Fahrgäste eingegriffen hat.
Hubert Kramar, Aktionskünstler und Performer aus Wien, schilderte anhand der Arbeiten Gugging goes Ballhausplatz und Die 20 Hüte des G.W. BUSH und Asylanten machen Ferien in Österreich wie er als Kulturschaffender um seine Rolle des Homo Politikus nicht umhin kommt.
Martina Gimplinger führte in ihre Diplomarbeit Nicht vergessen. Nicht gewöhnen. Performative Ästhetik einer zeitgenössischen Choreographie in die künstlerische Arbeit des kongolesischen Tanz-, Theater- und Performancekünstler Faustin Linyekula ein. „Trotz Kriegen, Revolutionen und Regimen gibt es Menschen, die verrückt genug sind, zu hoffen, dass die erbärmliche Kunst es mit den gigantischen Scheußlichkeiten des Lebens aufnehmen kann“ (Faustin Linyekula).
Nerina Dip, Argentinien, ging in ihrem Beitrag auf die neu entwickelten Formen des „object-theater“ des Tucuman's Contemporary Theatre Argentinia ein und die Erfahrungen, die verschiedene Projekte und Künstler in den Experimenten mit dieser Form in Argentinien gemacht haben.
Marco Viecca, Regisseur und Schauspieler der Assoziatione Culturale Parthenos Asti (Italien) berichtete über seine künstlerische Auseinandersetzung mit Jura Soyfer bei seiner Produktion des Stückes La fine del mondo (Der Weltuntergang). Mit italienischen Schauspielstudenten und bereits etablierten Theaterkünstlern inszenierte Marco Viecca dieses Stück in Italien. Als Gastspiel war diese Produktion am 8. Dezember 2007 im Rahmen der Konferenz KCTOS in Wien zu sehen.
Birgit Fritz, Wien, nahm bezug auf das „Theater der Unterdrückten“ von Augusto Boal. Aufbauend auf den Methoden von Augusto Boal arbeiten momentan TheateraktivistInnen in mehr als 70 Ländern an soziokulturellen Veränderungen ihrer gesellschaftlichen Kontexte. Zusammengefasst sind viele von ihnen in der ITO, der International Theatre of the Oppressed Organisation. Welcher künstlerischen Strömungen des 21. Jahrhunderts bemächtigen sich die TheatermacherInnen, die in der Tradition Boals stehen, heute? Mit welchen Widersprüchen und Transformationen in ihren Arbeitsweisen sehen sie sich konfrontiert?
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last change: 2010-06-09